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Als Hilfsmatrose nach Liverpool

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Im Sommer 1839 verschwindet Melville für einige Zeit aus den Familienaufzeichnungen, denn über die folgenden vier Monate auf See und den Aufenthalt in England gibt es kaum Belege. Nur die Mutter erwähnt in einer Mitteilung an ihre Tochter Augusta einen verloren gegangenen Brief ihres Sohnes aus Liverpool, in dem dieser sein Wohlbefinden bestätigt. Alles Biographische, das über Melvilles erste Seereise bekannt ist, muss deshalb seinem Roman Redburn: His First Voyage (1849, dt.: Redburn. Seine erste Reise) entnommen werden. Frühe Biographen wie Raymond Weaver betrachteten das Werk als „reine Autobiographie mit nur geringfügigen Abweichungen“ (Weaver, 98–112). Sie zogen dabei zu wenig in Betracht, dass Melville seinen vierten Roman zehn Jahre nach dem Geschehen bewusst als fiktionales Erzählwerk schrieb. Erst die neuere literarische Kritik ist bemüht, den Diskrepanzen zwischen Realität und Fiktion nachzugehen und die lange Zeit als bare Münze genommenen autobiographischen Fakten kritisch zu hinterfragen. Generell ist dennoch davon auszugehen, dass die Erfahrungen, Gefühlslagen und Einstellungen des green hand, wie sie der Roman schildert, größtenteils authentisch und für die Erkundung von Melvilles Leben in diesem Zeitabschnitt unverzichtbar sind.

So stimmen die äußeren Rahmenbedingungen der Handlung mit der historischen Realität größtenteils überein. Der regelmäßige Pendelverkehr von anfänglich 24 „Paketschiffen“zwischen New York und Liverpool bewältigte ab 1818 den Großteil des transatlantischen Warentransports zwischen den USA und Europa. Die Überfahrt nach England dauerte in der Regel 24 Tage, während die Rückreise durch das Anlaufen weiterer Frachthäfen wie Charleston oder Philadelphia manchmal bis zu 40 Tage in Anspruch nahm. Die Besatzung bestand aus bis zu 36 Seeleuten und war streng hierarchisch gegliedert. An der Spitze standen ein zumeist autokratischer Kapitän sowie der erste und zweite Maat als Stellvertreter. Sie herrschten allmächtig über den Rest der Mannschaft. Unter den Matrosen gab es unerfahrene Neulinge wie den jungen Melville. Sie wurden zu niedrigen Diensten wie Wacheschieben, Deckschrubben, Putzen, das Einholen von Tauen und das Reffen und Losmachen der Segel eingeteilt. Die erfahrenen Matrosen hingegen versahen die anspruchsvolleren seemännischen Verrichtungen, etwa die gefährliche, manchmal zu tödlichen Unfällen führende Arbeit in der Schiffstakelage.

Der Kapitän und die Offiziere waren in Kabinen und Kajüten am Achterdeck untergebracht, während die einfachen Seeleute am Vorderdeck mit einem dunklen, von Walöllampen verrauchten Mannschaftsraum und engen Holz-Schlafkojen vorliebnehmen mussten. Sie ernährten sich von Pökelfleisch, Trockengemüse, Schiffszwieback und Maisbrei und ihre Bezahlung war miserabel. Ein Hilfsmatrose erhielt nicht mehr als 45 Dollar für eine dreimonatige Reise und musste zudem für die Ausrüstung und seefeste Bekleidung selbst aufkommen. Die strikt eingehaltene Rangordnung und die Klassenunterschiede zwischen den Offizieren und der Mannschaft waren für Neulinge entwürdigend und bedrückend. Bei Melville kam hinzu, dass er sich durch seine gebildete Sprache, seine guten Manieren und die rote Jagdjacke, die er trug, als Landratte aus der besseren Gesellschaft zu erkennen gab und damit die Missgunst und Verachtung der anderen Matrosen auf sich zog. Sie ließen an ihm ihre sozialen Ressentiments und Vorurteile aus, und Drohungen und Misshandlungen aller Art sowie manchmal auch sexuelle Übergriffe waren keine Seltenheit. Der Kapitän und die Offiziere ahndeten jeden Verstoß gegen die Schiffsdisziplin, Unbotmäßigkeiten und anderes Fehlverhalten mit drakonischen Strafen. Prügelstrafe und Schikanen gehörten zum Seemannsalltag, so dass die vier Monate an Bord der St. Lawrence für den jungen Melville eine ernüchternde Erfahrung waren, die tiefe Spuren in ihm hinterließ. Er empfand die raue Existenz eines Hilfsmatrosen mit allen Demütigungen, Enttäuschungen und Unannehmlichkeiten als eine Prüfung, die er mit größter Willensanstrengung zu meistern suchte.

Noch desillusionierender als das Leben auf See waren für Melville jedoch die Erfahrungen, die er während des einmonatigen Landaufenthaltes in Liverpool machte. Wie die anderen Seeleute verbrachte er die Nächte in einfachen Seemannsherbergen an Land und verpflegte sich in den umliegenden Kosthäusern, konnte jedoch jederzeit zu Diensten auf dem im Hafen liegenden Schiff verpflichtet werden. In der damals größten Hafenanlage Europas an der Mersey-Mündung mit ihren riesigen Dockanlagen und Lagerhäusern legten täglich an die 300 Überseeschiffe an. In den Straßen wimmelte es von betrunkenen Seeleuten, Prostituierten, Straßenjungen, Pennern, Bettlern und Gaunern aller Art, und Schlägereien, Messerstechereien und Diebsstähle waren an der Tagesordnung. Der Versuchung, in den zahllosen Kneipen, Spielhöllen, Tanzlokalen und Bordellen seine Heuer durchzubringen, ging der puritanisch erzogene Melville jedoch aus dem Weg. Wie er der Mutter in dem erwähnten Brief gestand, „sehnte er sich danach, nach Hause zu kommen“, und würde „alle Sehenswürdigkeiten von Liverpool hergeben, um ein Stückchen seiner Heimat zu sehen“ (Metcalf, 21). Nur der freizügige Umgang mit den Schwarzen fiel ihm in Liverpool positiv auf. Zu seiner Überraschung schlenderten die dunkelhäutigen Schiffsköche und Stewards mit weißen Frauen Arm in Arm durch die Straßen, ohne dass sie dafür, wie es in Amerika üblich gewesen wäre, angepöbelt wurden: „So überlassen wir Amerikaner in manchen Dingen anderen Ländern die Ausführung der Grundsätze, die in unserer Unabhängigkeitserklärung obenan stehen“ (R, 212).

Am bedrückendsten war für ihn die Erfahrung des katastrophalen sozialen Elends in den Slums von Liverpool, die er in Redburn in einem an Dickens heranreichenden Realismus beschreibt: „Die rauchgeschwärzten und besudelten Ziegel der Häuser bieten einen dumpfen, sodomgleichen und mörderischen Anblick“ und ein „Leichentuch aus Kohlendunst breitete sich über die Stadt aus“ (R, 201). Schmutzige und ausgemergelte Männer, Frauen und Kinder in zerlumpten Kleidern streunen durch die Straßen, Hungernde wühlen in den Abfallhaufen der Schiffe und alte Frauen fischen mit langen Rechen Wasserleichen für ein paar Pennys aus dem Hafenbecken. Bettler, verkrüppelte Kriegsveteranen, Kranke und Blinde stehen Schlange vor den Seemannskosthäusern und versuchen mit allen erdenklichen Tricks, Almosen zu erheischen. „In diesen Gegenden“, bemerkt Redburn, „begleitete mich Bettelei, wohin ich auch ging, und heftete sich mir ohne Unterlass an die Fersen. Armut, Armut, Armut in fast endlosen Bildern und Mangel und Not stolperten Arm in Arm durch diese elenden Straßen. [...] Dergleichen habe ich in New York nie gesehen“ (R, 211). Den Tiefpunkt des Romans bildet die Begegnung mit einer an Hunger sterbenden Mutter und ihren zwei Kindern im Kapitel „Was Redburn in Launcelott’s Hey sah“. Es ist der verstörendste naturalistische Textabschnitt in Melvilles gesamtem Werk und wirkt in seiner Sozialkritik sehr authentisch. Nur die Schilderungen der katastrophalen Situation der Auswanderer an Bord der St. Lawrence auf der Rückreise in die USA im letzten Teil des Romans reichen an diese Intensität heran. In Wirklichkeit sind sie jedoch eine Rückprojektion aus dem Jahr 1849, als die riesigen irischen Emigrationswellen ihren Höhepunkt fanden (s. Kap. „Experimente und Aufbrüche“).

Herman Melville

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