Читать книгу Herman Melville - Arno Heller - Страница 8
Tod des Vaters und drohende Armut
ОглавлениеIn seinem späteren Leben sprach Melville selten über seine Kindheitsjahre in New York; zu schmerzlich waren die Erinnerungen daran. Die verwitwete und gebrechliche Großmutter Catherine Van Schaick Gansevoort, in deren Haus die zehnköpfige Familie im September 1830 Zuflucht fand, war den ungeordneten Verhältnissen nicht gewachsen. Um ihr nicht länger zur Last zu fallen, mieteten Allan und Maria kurz vor ihrem Tod im Dezember eine Wohnung in der nahen Clinton Street. Schwager Peter Gansevoort vermittelte Allan eine leitende Position in einer Pelzfirma in Albany, während die Söhne wieder zur Schule gingen. Dann aber brach die letzte große Katastrophe über die Familie herein, als der Vater völlig unerwartet starb. Nach aufreibenden Auseinandersetzungen mit Gläubigern in New York am 8. Dezember 1831 wollte er nach Albany zurückkehren, das Schiff blieb jedoch wegen eines starken Eisganges am Hudson hängen. Allan musste die letzten 60 Meilen bei klirrender Kälte in einer offenen Kutsche zurücklegen und am Ende den zugefrorenen Fluss zu Fuß überqueren. Er zog sich eine schwere Lungenentzündung zu, nahm jedoch die Arbeit wieder auf und hielt bis zum Jahresende durch. Dann aber raubten ihm die ständige nervliche Belastung, psychische Spannungen und Schlaflosigkeit die letzte Widerstandskraft. Er verfiel in tiefe Depressionen und Verwirrungszustände und erlitt am 8. Januar 1832 im Alter von nur 50 Jahren einen schrecklichen Tod. Herman wurde Zeuge des Tobens und Schreiens des im Fieberdelirium wahnsinnig gewordenen sterbenden Vaters. Es war ein Trauma, das ihn sein ganzes späteres Leben nicht mehr losließ und das er erst viele Jahre später in Pierre literarisch aufzuarbeiten versuchte. Der ungerechte Tod des geliebten Vaters stürzte ihn in tiefe Zweifel an den gütigen unitarischen Gott, an den er bis dahin geglaubt hatte.
Der 17-jährige Bruder Gansevoort war nun gezwungen, die Rolle des Familienerhalters zu übernehmen und sein geplantes Harvardstudium aufzugeben. Herman musste die Schule abbrechen und eine Stelle als Botenjunge an der New York State Bank antreten. Zu allem Unglück raffte im Juli 1832 eine aus New York nach Albany eingeschleppte Cholera-Epidemie hunderte von Menschenleben hinweg. Die Mutter flüchtete mit den Kindern auf die Farm ihres Schwagers Thomas Melvill, wo Gansevoort in der Landwirtschaft mithalf, während Herman zu seinem Bankjob in Albany zurückkehren musste.
Im September dieses Jahres starb der 81-jährige Großvater in Boston. Die Familienstreitigkeiten, die aus der Testamentsvollstreckung hervorgingen, waren für Maria und die Familie ein niederschmetternder Schock: Wegen der Schuldenlast Allans, die der Vater mit seinem Erbanteil aufgerechnet hatte, ging Maria leer aus. In ihrer Not wandte sie sich hilfesuchend an Lemuel Shaw, den besten Freud ihres Mannes. Vergeblich versuchte Shaw die Frau und Töchter des Verstorbenen dazu zu bewegen, Maria zumindest einen Teil des Erbes zukommen zu lassen. Verbitterung und gegenseitige Anschuldigungen vergifteten hinfort die Familienbeziehungen, die schließlich mit dem Tod der Bostoner Großmutter im darauffolgenden Jahr abbrachen.
Im Mai 1834 vernichtete ein Brand das Pelzlager der Firma, für die Gansevoort und aushilfsweise auch Herman arbeiteten. Es war ein Schlag, von dem sich der Betrieb nicht mehr erholte. In der Wirtschaftspanik des Jahres 1837 mit ihren Bankenzusammenbrüchen und wilden Finanzspekulationen musste Gansevoort den Bankrott anmelden. Die Mutter war nun gezwungen, den Rest ihres durch Darlehen belasteten Familienerbes zu verpfänden, um die noch unmündigen Kinder zu versorgen. Herman suchte wieder bei Onkel Thomas in den Berkshires Zuflucht, arbeitete auf der Farm und begann extensiv Bücher aus dessen Bibliothek zu lesen. Er verehrte den jovialen Onkel, der in der provinziellen landwirtschaftlichen Umgebung mit seinen guten Umgangsformen die Aura eines gestrandeten europäischen Aristokraten ausstrahlte. Besonders interessierte sich Herman auch für dessen ältesten Sohn Thomas. Dieser hatte als Offiziersanwärter auf einem amerikanischen Kriegsschiff den Südpazifik befahren und dabei die Marquesas-Insel Nukuhiva besucht, die später in Hermans Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. In den Sommermonaten 1837 genoss Herman die prächtigen Hügel- und Berglandschaften der Berkshires und unternahm ausgedehnte Wanderungen. 13 Jahre später werden ihn die guten Erinnerungen an diese Zeit dazu bewegen, sich dort niederzulassen.
Im Herbst übernahm er die Stelle eines Aushilfslehrers in einer lokalen Distriktschule, um die Mutter finanziell zu entlasten. Er plagte sich mit 30 Schülern aller Alters- und Ausbildungsstufen ab, bevor er nach einiger Zeit frustriert das Handtuch warf. „Mögen Redner von den weithin verbreiteten Segnungen der Bildung in unserem Land schwärmen“, schreibt er seinem Onkel, „blickt man jedoch auf die Praxis, so werden die hohen und zuversichtlichen Hoffnungen, die ihr eindrucksvolles Auftreten in der Theorie erweckt – ein wenig zunichte gemacht“ (S/G, 16). Im September kehrte Herman nach Albany zurück, besuchte nach fünfjähriger Schulunterbrechung die Albany Classical School und anschließend die Lateinklasse der Albany Academy. Sein Hauptinteresse in dieser Zeit galt jedoch den Debattierclubs der Albany Young Men’s Association, an denen er sich eifrig beteiligte. Er verfasste pseudonyme Leserbriefe für lokale Zeitungen und veröffentliche anonym „From the Writing Desk“ – zwei von Edgar Allan Poe inspirierte Erzählfragmente. Die belanglosen Texte waren nicht viel mehr als rhetorische Fingerübungen und noch keine wirklichen Vorboten seiner späteren schriftstellerischen Tätigkeit.
Um ihre Lebenskosten niedrig zu halten, gab die Mutter 1838 das Mietshaus in Albany auf und übersiedelte mit den Kindern in eine bescheidenere Behausung in Lansingburgh, einem Dorf am Hudson 18 km weiter nördlich. Ihre Finanzlage mit 50.000 Dollar Bankschulden wurde immer prekärer, und ihr Bruder Peter, der jetzt das Haus der Gansevoort-Eltern übernahm, musste ihr mit Geldzuweisungen für Miete und Lebenskosten unter die Arme greifen. In den Wintermonaten absolvierte Herman einen Kurs an der Ingenieursschule von Lansingburgh, aber sein Versuch, im Anschluss über Vermittlung des Onkels eine Anstellung als Landvermesser in der lokalen Kanalverwaltung zu bekommen, schlug fehl. Verbittert über das brotlose Hin und Her der ständigen Jobsuche heuerte der inzwischen 19-jährige Herman kurzentschlossen als Hilfsmatrose auf einem zwischen New York und Liverpool verkehrenden Handelsschiff an. Als die St. Lawrence, beladen mit Baumwolle für die Textilfabriken in Manchester, im Juni 1839 von New York aus in See stach, begann für Melville ein neuer Lebensabschnitt. Im Roman Redburn, den er zehn Jahre später schrieb, zieht der Ich-Erzähler das Fazit aus seiner schwierigen Jugend:
Schweren Herzens und mit nassen Augen ließ meine arme Mutter mich ziehen. Vielleicht hielt sie mich für einen missgeleiteten, eigensinnigen Jungen, und vielleicht war ich auch einer. Aber wenn ich einer war, so war es eine hartherzige Welt mit harten Zeiten, die mich dazu gemacht hatte. Vorzeitig hatte ich gelernt, viel und voller Bitterkeit nachzudenken. Alle meine hochfliegenden Träume von Ruhm waren mir vergangen, und ich war in diesem frühen Alter so anspruchslos geworden wie ein Mann von sechzig. [...] Man rede mir nicht von der Bitterkeit der mittleren Jahre und des späteren Lebens. Ein Knabe empfindet das alles nur noch viel mehr, wenn auf seine junge Seele der Meltau gefallen ist und die Frucht, die bei anderen nach der Reife welkt, bei ihm in der ersten Blüte und Knospe erfriert. Und nie lassen solche Schäden sich wieder gut machen. (R, 14–16)