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Konzertvorbereitung

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Die folgenden Tage vergingen wie im Fluge. Die Beiden übten so intensiv wie es ihre Zeit erlaubte. Endlich war der ersehnte Tag des Geburtstags gekommen. Tische und Stühle waren neu arrangiert. Das Haus glänzte festlich vom Schein vieler Hunderten von Kerzen, die als Armleuchter die Tische zierten oder an blankgeputzten Messingblakern an den Wänden glänzten.

Nach und nach betraten ein paar elegant gekleidete Damen und Herren mit großen Blumenbuketts den Saal. Kurze Begrüßung durch die Gastgeber. Ein Diener wartete mit einem Tablett und einigen Gläsern Champagner und frisch gepresstem Orangensaft. Die meisten Gäste kannten sich seit vielen Jahren. Man befand sich im Kreis der bürgerlichen Aristokratie und der Wohlhabenden, gesellte sich locker in kleinen Gruppen, sprach über das letzte Konzert in der Philharmonie, das von den meisten besucht worden war. Schließlich war man wer und wollte als Kenner der gehobenen Kunstszene angesehen werden. Kurz: Man wollte dazu gehören.

- Julia übernahm die Rolle der Gastgeberin und gesellte sich zu der ersten Gruppe: Ich freue mich, dass Sie den weiten Weg zu uns gefunden haben. Es ist eine Ehre für uns, Sie bei uns als Gast zu haben.

- Eine ältere Dame, mit doppelter Perlenkette und Brillanten im Ohr, legte freundschaftlich ihre Hand auf ihren Arm: Aber verehrte Frau Sämann, die Ehre gebührt ganz allein Ihnen. Wenn Sie ein Konzert geben, dann ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dabei zu sein. Mein Mann und ich freuen uns schon sehr auf das Konzert. Gerade das Doppelkonzert von Brahms schätzen wir sehr. Und dass Sie es mit Ihrem Bruder spielen, erfüllt uns mit großer Bewunderung für diese so angesehene und hoch musikalische Familie. Das trifft man nicht alle Tage, dass eine erfolgreiche Unternehmerfamilie so vielseitig ist. Wir schätzen Ihren Herrn Vater sowohl als erfolgreichen Unternehmer als auch als Kunstmäzen. Er tritt immer in vorderster Reihe in Erscheinung, wenn es um die Unterstützung junger Talente geht.

- Ich hoffe, wir werden Sie nicht enttäuschen, sagte Julia mit einem bescheidenen Lächeln.

- Ganz sicher nicht. Wir fragen uns, wie Sie die Zeit zum Üben finden, denn Sie sind bestimmt sehr beschäftigt.

- Das kann man wohl sagen, aber zwischendurch nehme ich mir eine Auszeit, um zu mir selbst zu kommen. Die Musik hilft mir, zur inneren Ruhe zu kommen. Das brauche ich.

- Wie ich höre, leben Sie zurzeit in Nicaragua und arbeiten auf einer Zuckerrohrplantage. Sie sollen dort ein Forschungsinstitut gegründet haben, um die erkrankten Menschen mit den von Ihnen entwickelten Medikamenten zu versorgen. Das finde ich bewundernswert. Vielleicht finden wir nachher noch etwas Zeit, damit Sie uns von Ihren Erlebnissen in der Fremde berichten können. Wir waren nur einmal mit einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik, es war sehr schön, aber man gewinnt keinen richtigen Eindruck von dem wirklichen Leben dort.

- Später haben wir bestimmt noch genügend Zeit, uns zu unterhalten. Jetzt muss ich mich noch etwas zurechtmachen und mich auf meinen Part konzentrieren. Ich sehe dort gerade meinen Bruder kommen. Wir müssen uns noch etwas abstimmen.

- Das verstehe ich. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg.

- Vielen Dank. Julia entfernte sich mit einer leicht angedeuteten Verbeugung, indem sie nur den Kopf neigte.

Die Geschwister trafen sich hinter der provisorisch errichteten Bühne, die mit einem Vorhang gegen die Blicke des Publikums abgetrennt war.

- Sie öffnete einen kleinen Spalt im Vorhang und blickte auf die Gäste: Sieh mal Hinrich, dort die elegante Frau in dem roten Abendkleid in der vordersten Reihe, die sich mit Vater unterhält. Das ist die Finanzmaklerin Doktor Isabelle von Stephano, von der ich dir schon berichtet habe. Sie hat vor Jahren mein Start-up-Unternehmen finanziert. Wir haben sie kürzlich auf dem Diner des Grafen Ebersbach wiedergesehen.

- Ich kenne sie. Ich habe sie schon ein paar Mal in Begleitung unseres Vaters gesehen, sagte Hinrich mit einem Gemisch aus Bewunderung und tiefer Ablehnung. Ich kann sie nicht ausstehen. Vater hält große Stücke auf sie. Aber ich finde, sie übertreibt etwas. Sie benimmt sich, als wäre sie hier die Gastgeberin, die Herrin des Hauses. Es ist fast peinlich, wie sie durch unsere Räume schwebt und angelegentlich mit den Gästen plaudert.

- Du wirst dich an sie gewöhnen müssen, wenn du hier unternehmerisch tätig bleiben willst, denn sie hat in allen großen Finanzgeschäften ihre Finger drin. Sie kennt hier fast jeden von Rang und Namen. Was sie so im Einzelnen macht, kann ich dir nicht sagen, aber Vater braucht ihre Hilfe bei einigen Krediten, die er von den Banken nicht bekommen kann. Die Banken sind derzeit sehr zurückhaltend mit der Kreditvergabe.

- Aber ich will sie hier nicht sehen. Guck dir mal das affektierte Gehabe an. Ich kann es nicht ertragen. Vor allem ihr aufdringliches Lachen macht mich verrückt. Sie benimmt sich, als wäre sie ein berühmter Hollywood-Star, der die Bewunderer zu Füßen liegen.

- Guck einfach nicht hin. Vor allem nicht während unseres Vortrags. Konzentriere dich voll auf dein Spiel.

- Das ist nicht so einfach. Von dieser Frau gehen negative Schwingungen aus. Sie hat den bösen Blick. Ich spüre es: Sie durchbohrt mich förmlich. Sie will mich vernichten.

- Julia wies ihn zurecht: Hinrich, sei nicht albern. Im Übrigen, dort drüben am Fenster steht Herr Konselmann. Er ist Berater und Partner einer großen amerikanischen Beratungsgesellschaft. Konzentriere dich lieber auf ihn.

- Wie kommt der hierher?, erkundigte sich Hinrich fast feindlich.

- Ich habe Vater gebeten, ihn einzuladen. Er war damals für den Start-up-Wettbewerb zuständig, bei dem ich den ersten Preis gewonnen habe. Er hat mir geholfen, die Business-Pläne zu erstellen. Sie dienten den Risikokapitalgebern als Grundlage zur Finanzierung meines Unternehmens.

- Und dann kam die Frau von Stephano ins Spiel?, wollte er wissen.

- Ja, genau. Hier schließt sich der Kreis. Du tätest gut daran, dich mit den Beiden gut zu stellen. Wer weiß, ob du sie nicht später einmal brauchst.

- Ich habe dich verstanden, aber das ändert nichts daran, dass diese Frau ein höllisches Weib ist. Ich rieche den satanischen Gestank von Schwefel.

- Sie begann nun wirklich ärgerlich zu werden: Hinrich, reiß dich zusammen. Du machst dich lächerlich. Lass uns lieber noch einmal gedanklich die ersten paar Takte durchgehen.

- Ja, lass uns auf die himmlischen Töne konzentrieren. Wir wollen das Negative ausblenden. Wir brauchen die göttliche Eingebung. Ohne die wird es nicht gehen.

- Die ersten paar Takte sind wichtig. Davon hängt das Gelingen des ganzen Konzerts ab. Dein Lehrer wird das Taktmaß vorgeben, aber ich muss mich auf meine innere Stimme einstellen.

- Sie versuchte beruhigend zu wirken: Mach dir keine Sorgen, wir werden das schon schaffen.

- Voller Unruhe blickte er in den Raum. Seine Augen wanderten umher, ohne einen ruhenden Punkt zu finden: Wenn mir nur nicht die Nerven versagen.

- Warum sollten Sie? Du kennst das Werk in- und auswendig.

- Das ist wohl wahr, aber ich bin sehr aufgeregt, weil Vater da ist. Du kennst ihn. Er will immer, dass alles perfekt ist. Manchmal habe ich den Eindruck, als ob er nur auf meinen kleinsten Fehler warte. Nie ist er mit mir zufrieden. Nichts kann ich ihm recht machen. Das regt mich auf. Sieh mal: Mein rechter Arm zittert schon jetzt. Ich kann den Bogen nicht richtig kontrollieren. Ich werde die Saiten nicht gleichmäßig mit dem richtigen Druck streichen können. Dann klingt die Geige nicht.

- Mach dir keine Sorgen, die meisten Gäste werden die Feinheiten der Musik nicht hören.

- Ganz so ist es nicht: Es sind viele Kenner im Saal, die kennen fast jede Note dieses Werkes. Sie haben die großen Geigenvirtuosen unseres Jahrhunderts des Öfteren im Konzertsaal erlebt. Sie werden mich mit ihnen vergleichen.

- Die brauchst du nicht zu fürchten. Dein Spiel ist herausragend. Sie werden begeistert sein.

- Das mag schon sein, aber wen ich wirklich fürchte, das ist unseren Vater. Er ist so kritisch, besonders mit mir. Nie kann ich ihm etwas recht machen. Schon wenn er mich so fordernd und abschätzend ansieht, beginne ich zu zittern und bringe keinen richtigen Ton heraus.

- Sie sah ihn etwas besorgt an: Hinrich, du musst dich zusammenreißen. Ich habe hier ein Beruhigungsmittel. Nimm es, und du wirst schnell wieder dein inneres Gleichgewicht finden und wirst ganz ruhig sein.

Sie reichte ihm eine Tablette und ein Glas Wasser. Er schluckte die Tablette und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter.

- Sie musterte ihn mit großer Intensität: Und? Geht es dir besser?, fragte sie und hoffte, dass er sich schnell wieder in den Griff bekäme.

- Er reagierte etwas verunsichert: Ich glaube schon. Hoffentlich macht mich das Mittel nicht müde und stört meine Konzentration.

- Sollte es eigentlich nicht. Es lässt dich deine Umgebung in freundlicherem Licht erscheinen. Du wirst alles um dich herum in hellen Farben erleben, als ob du in den Himmel schwebst. Ich hoffe nur, dass sich das Publikum mit störendem Applaus zurückhält. Ich kann es nicht ausstehen, wenn zwischendurch geklatscht wird. Selbst während der Pausen zwischen den Sätzen kann ich es nicht leiden.

- Mir geht es auch so. Manchmal stören mich die geringsten Kleinigkeiten. Dann genügt es, wenn jemand mit einen Bonbonpapier raschelt. Dann möchte ich am liebsten mein Spiel unterbrechen und sagen: Nun nehmen Sie doch endlich das Bonbon aus dem Papier und hören Sie mit dem nervenden Rascheln auf!

- Meistens nehme ich kaum wahr, was das Publikum macht, ich sehe keine Individuen, nur eine unpersönliche amorphe Masse.

- Aber hier ist es anders: Die Menschen sitzen viel dichter am Podium. Du kannst die einzelnen Gesichter sehen. Außerdem kennst du die meisten, das macht es viel schwieriger. Es ist so wie früher, wenn wir unter dem Tannenbaum vor der Familie in kleinem Kreis ein Gedicht vortragen mussten. Auf der großen Bühne in der Aula der Schule war es viel leichter.

- Der Senior betrat die Bühne, wendete sich an seine beiden Kinder, die hinter dem Vorhang warteten: Seid ihr so weit? Lasst uns anfangen, die Gäste werden langsam unruhig.

Die etwa zwanzig oder dreißig Gäste hatten auf den Stühlen, die für dieses Konzert in vier Reihen aufgestellt worden waren, Platz genommen und blickten erwartungsvoll auf die Bühne. Für die Nachzügler wurden weitere Stühle an der Seite bereitgestellt. Konselmann hatte im letzten Augenblick noch einen freien Platz hinter dem Gastgeber gefunden. Langsam kehrte erwartungsvolle Stille ein.

- Ja, wir sind so weit, sagte Hinrich. Wir müssen noch unsere Instrumente ein Wenig nachstimmen.

- Wolfgang Sämann wandte sich an das Publikum: Liebe Freunde und liebe Gäste, ich freue mich, dass Sie so zahlreich unserer Einladung zu unserem heutigen Hauskonzert gefolgt sind. Es ist mir eine besondere Freude, dass Sie aus Anlass meines Geburtstags zu mir gekommen sind. Ich freue mich, dass meine Kinder Julia und Hinrich mir und uns allen an diesem Abend eine besondere Freude bereiten wollen. Sie haben mir dies heutige Geschenk gemacht, denn sie wollen mein Lieblingsstück: Das Doppelkonzert von Johannes Brahms spielen.

Verhaltener Applaus unterbrach die Stille. Der Patriarch machte eine Pause und stützte sich auf eine Stuhllehne. Er nahm einen Schluck Wasser.

- Der Senior dankte mit einer schwachen Verbeugung und nahm den Faden wieder auf: Zunächst möchte ich unseren verehrten Generalmusikdirektor Bernd Paulsen herzlich begrüßen. Er ist Ihnen von vielen Konzerten als herausragender Brahms-Interpret bekannt.

Heftiger Applaus brandete auf als Paulsen das Podium betrat und sich routiniert verbeugte.

- Bei seinem Erscheinen auf der Bühne wandte sich der Patriarch direkt an ihn: Lieber Herr Paulsen, Sie sind gerade von einer Tournee nach Japan und China zurückgekehrt. Umso mehr freue ich mich, dass Sie sich trotz Ihrer vielfältigen internationalen Verpflichtungen die Zeit genommen haben, den gesamten Orchesterpart dieses anspruchsvollen Werks auf dem Klavier zu übernehmen. Eine nicht leichte Aufgabe. Es ist eine große Ehre für mich und unser Haus, Sie hier bei uns im Hause zu haben.

- Lieber Herr Sämann, ich bin Ihrer Einladung gern gefolgt, antwortete der Musikdirektor. Ich weiß, was Sie in unserer Stadt für die Musik und die Förderung junger Musiker getan haben, so nehmen Sie meinen Beitrag gleichsam als Dankgeschenk an Sie und Ihre liebe Familie.

- Der Senior verneigte sich leicht und fuhr mit seiner Ansprache fort: Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Solisten des heutigen Abends mit Applaus zu empfangen.

Julia mit ihrem Cello und Hinrich mit seiner Geige im Arm betraten das Podium. Applaus brandete auf. Langsam trat Stille ein, das Räuspern und Husten ebbte ab.

- Paulsen bat um einen Augenblick der Ruhe: Ich bin sehr froh, Ihnen heute das Doppelkonzert von Johannes Brahms in ungewöhnlicher Besetzung vorstellen zu dürfen. Es handelt sich um sein sinfonisch-konzertantes Abschiedswerk, das die historische Größe des Brahmsschen Oeuvres ausdrucksvoll demonstriert. Trotz seiner Schönheit wird es selten aufgeführt, das mag daran liegen, dass es an der Schwierigkeit liegt, zwei überlegende und übereinstimmende Künstler als Solisten für dieses äußerst diffizile Werk zu gewinnen. Das ist für den heutigen Abend in überzeugender Weise gelungen: Julia Sämann ist extra deshalb aus Nicaragua angereist. Und ihr Bruder Hinrich hat seine Aufgaben als Geschäftsführer der Firma Sämann für ein paar Stunden zurückgestellt und präsentiert sich Ihnen heute als Geigenvirtuose. Julia unterrichtet Musik an der von ihr gegründeten Schule. Sie ist mit ihrem Cello in besonderer Weise verbunden. Sie könnte überall in der Welt als Solistin auftreten.

Applaus brandete durch den Saal wie Wellen an einer steilen Felsenküste vielfach reflektiert.

- Paulsen hob die Hand zum Zeichen, dass jetzt Ruhe einkehren sollte: Hören Sie nun das Doppelkonzert von Brahms für Violine und Violoncello a-Moll Opus 102. Lassen Sie mich einleitend noch ein paar Bemerkungen zu diesem Werk machen: Brahms hat es 1887 komponiert. Ich bedaure, dass ich Ihnen das Werk nicht in seiner vollständigen Orchester-Besetzung vorführen kann. Es wären etwa hundert Musiker erforderlich gewesen, was ein erhebliches logistisches Problem dargestellt und auch die Möglichkeiten dieses Raumes überfordert hätte. Aber ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen am Flügel den Eindruck von der Farbigkeit und Schönheit dieses Werkes zu vermitteln.

Herr Paulsen nahm seinen Platz am Flügel ein. Hinrich stellte sich so, dass er gleichermaßen Blickkontakt zum Pianisten und zu Julia hatte. Sie nahm am Podiumsrand Platz, so dass sie sowohl ihren Bruder als auch den Pianisten im Blick hatte. Hinrich sah seine Schwester fragend an und sie nickte.

Der Hausherr setzte sich in der ersten Reihe in die Mitte zwischen Isabelle von Stephano und seiner Schwerster Ingrid. Die beiden Damen waren modisch elegant gekleidet. Isabelle trug ein enganliegendes, tief ausgeschnittenes leuchtend rotes Kleid und Ingrid trug ein figurbetontes graues Kostüm, das ihr vorteilhaft stand. Sie hatte sich ihr jugendliches Aussehen durch hartes Training im Fitness-Studio bewahrt.

Der Pianist regulierte seinen Sitz auf die richtige Höhe. Er schlug ein paar Töne und Akkorde an. Hinrich übernahm den Kammerton A, korrigierte ein wenig die Stimmung seiner Geige und Julia tat das Gleiche. Zufrieden nickten sie. Eine aufmerksame Erwartung erfüllte den Raum. Die Gäste erwarteten einen ganz besonderen Musikgenuss, abseits des normalen Musikbetriebs der Philharmonischen Konzerte. Ein erlesener Kreis musikinteressierter Hörer hatte sich versammelt. Sie erwarteten das Außergewöhnliche, etwas bisher nie Gehörtes.

Paulsen hob den Arm zum Zeichen, dass er nun beginnen wollte. Im Saal trat erwartungsvolle Ruhe ein. Der erste Takt begann mit dem energischen Kopfteil des Hauptthemas. Schon im fünften Takt setzte Julia ein und umspielte das Thema. Sie trug ein langes schwarzes und schulterfreies Kleid, das ihre schlanke Figur elegant betonte. Hinrichs Violine brachte zarte Andeutungen des zweiten Themas. Nach wenigen Takten spielten sich die beiden Solisten die einzelnen Motive wechselseitig zu und zwangen das Orchester (hier dargestellt durch das Klavier) zu einer ausführlichen Exposition.

Hinrich trug einen maßgeschneiderten Frack. Rhythmisch im Takt tänzelte er elegant über das Podium und wiegte sich in den Hüften, wie ein zweiter Paganini. An besonders ausdrucksvollen Passagen warf er seinen Kopf in den Nacken und beugte sich alsdann über seine Geige, in die er sein Ohr zu tauchen schien, um auch nicht die kleinste Nuance des Tons zu versäumen.

Er fixierte mit seinen dunklen Augen die Frau in dem roten Kleid, die neben seinem Vater saß, und die jede seiner Bewegungen andächtig in sich aufnahm, als sei er speziell für sie vom Himmel als Erzengel Gabriel gesandt. Schon wähnte sie sich als seine Geliebte und träumte von weltweiten Tourneen an der Seite des international gefeierten Stars. Traum und Realität verschwammen vor ihren Augen zu einer unlösbaren Einheit.

Der Pianist verstand es meisterhaft, den Klang des vollen Orchesters mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern und Trompeten, Pauken und Streicher auf dem Klavier zu intonieren, so dass die Zuhörer glaubten, ein ganzes Orchester zu hören. Die herrlichsten Akkorde erfüllten den Raum und unterdrückten jedes störende Geräusch. Kaum dass die Hörer zu atmen – oder gar zu husten - wagten. Sie lauschten den überirdischen Klängen, die gleichsam vom Himmel zu stammen schienen.

Die beiden Solisten eröffneten die klangvolle Themenaufstellung und setzten starke Akzente. Das Orchester – einzigartig dargestellt vom Pianisten - griff die Themen auf und begann mit der Durchführung, indem die Tempi variierten und Umkehrungen mit neuen Klangerlebnissen brachten.

Nach einer Viertelstunde hatten sie den ersten Satz mit seinen lyrischen Passagen und einer heftigen konfliktbehafteten Durchführung beendet. Die Spannung zwischen den beiden ungleichen Teilen schien sich auf die Hörer zu übertragen. Sie schwankten zwischen heiterer Gelassenheit und heftiger innerer Anspannung. Die Atmosphäre schien plötzlich aufgeladen zu sein, was vielleicht mit der gewittrigen Wetterlage am teilweise wolkenverhangenen Himmel zusammenhing. Eine unheilvolle Stimmung ergriff die Menschen und drückte auf die Gemüter.

Die Künstler deuteten mit einer leichten Verbeugung an, dass sie nun für einen Augenblick pausieren würden. Zögernder Applaus begann sich hier und da zu erheben, wurde aber von den erfahrenen Konzertbesuchern mit leichtem Zischen zum Schweigen gebracht. Man war noch nicht am Ende des Konzerts angelangt und wollte nicht durch störende Nebengeräusche aus seinen überirdischen Empfindungen gerissen werden. Und doch gab die Unterbrechung eine willkommene Gelegenheit zum Durchatmen. Die innere Spannung löste sich allmählich auf und wich vollkommener Zufriedenheit.

Der Patriarch nickte seinen Kindern anerkennend zu und hob seinen Daumen zum Zeichen des zu erwartenden Erfolgs. Isabelle hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihr schwarzes Haar war mit einem perlenbestickten Band, das eher einem Diadem glich, zur Seite gerafft. Sie war schon eine eindrucksvolle Frau, die sich ihrer anziehenden Wirkung durchaus bewusst war. Sie genoss ihre herausgehobene Rolle als Frau an der Seite des Hausherren. In der kurzen Pause begannen die Gäste untereinander mit versteckten Andeutungen über die künftige Rolle dieser ungewöhnlichen Frau an der Seite des Patriarchen zu raunen. Würde sie die künftige Hausherrin sein? Man könnte es sich vorstellen. Eine Frau an seiner Seite wäre ihm durchaus zu wünschen, aber war sie nicht zu jung? War er nicht zu alt für sie? Die beiden trennten etwas mehr als dreißig Lebensjahre. Und er hatte seine besten Jahre hinter sich gelassen, wie jedermann leicht erkennen konnte.

Die Solisten nahmen erneut ihre Plätze ein. Julia, rückte ihren Stuhl hinter dem Cello zurecht. Hinrich zupfte vorsichtig ein paar Saiten, indem er mit dem einen Ohr in das Instrument zu kriechen schien. Damit war allen Beteiligten klar, dass sich hier ein besonders feinsinniger und außerordentlicher Künstler auf den nächsten Einsatz vorbereitete, den er nun vor einem erlesenen Publikum zelebrieren würde. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste war, dass er sehr nervös war. Er versteckte seine Unsicherheit hinter ein paar großen Gesten, die er bei anderen Virtuosen abgesehen hatte und die er für besonders wirkungsvoll hielt.

Der zweite Satz begann mit kraftvollen Oktaven der Solisten. Das einfache Kopfthema wurde vom Orchester (hier vom Flügel) farbig begleitet. Ein inniges Seitenthema, das im terzverwandtem F-Dur steht, erfährt bald eine stärkere klanglich-harmonische Differenzierung. Der erste Teil erklingt mit aufgelockerter Begleitung, der zweite Teil folgt mit einer reizvollen Coda. Der Satz strömt Kraft und Zuversicht aus. Sie übertrug sich aber nicht auf den Interpreten. Im Gegenteil: Hinrich war total verunsichert. Er spürte – oder glaubte zu spüren – die unerklärlichen, geheimnisvollen Schwingungen, die von der Dame in dem roten Kleid ausgingen.

Cello und Geige wechselten sich harmonisch ab und warfen sich spielerisch die Bälle zu. Julia beherrschte souverän die Szene und zog das Publikum magisch in ihren Bann. Das anmutige, makellose Gesicht, die entblößten Schultern, die fast andächtige Versenkung in die wechselnden Stimmungen der Musik ließen sie wie von allem Irdischen abgehoben erscheinen.

Das Doppelkonzert

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