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Außer Takt

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Aber dann geschah das Unfassbare: Julia eilte dem Tempo voraus und fiel dann unerwartet zurück. Die Solisten drohten als musikalische Einheit auseinanderzufallen. Die Spannung ließ nach. Hinrich bemerkte es und wusste, dass auch seine Schwester den negativen Schwingungen im Raum nicht entkommen konnte. Er wurde nervös und hoffte, dass sie sich bald wieder in den Griff bekäme. Sie blickte hilfesuchend auf den Pianisten am Flügel. Hinrich spürte die Not seiner Schwester und konnte sich kaum auf sein Spiel konzentrieren. Er kannte die Ursache des Übels: Es war die Frau in Rot mit dem schwarzen Haar. Sie war die Judith aus dem Alten Testament, die seinen Kopf forderte und ihn schließlich bekam. Er ließ den Bogen sinken und sah keine andere Möglichkeit, außer von Neuem zu beginnen. Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllten den Raum. Der junge Mann stand allein vor dem Publikum, blickte verzweifelt auf seinen Vater, wie er es in ähnlich kritischen Situationen in öffentlichen Auftritten oft getan hatte. Aber der sonst so dominante Vater konnte in dieser Situation nicht eingreifen und wandte sich verärgert ab.

In diesem Augenblick begann die Katastrophe. Die linke Hand des Vaters begann unkontrolliert zu zittern. Auch Isabelle bemerkte es, und griff nach seiner Hand. Sie streichelte sie beruhigend, aber das Zittern ließ nicht nach. Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf seine Wange. Ingrid blickte starr und teilnahmslos aus dem Fenster, wo sich ein gewaltiges Gewitter mit ungeheurer Kraft zu entladen begann. Sie schien von dem Vorfall auf der Bühne nicht betroffen zu sein. Jedenfalls zeigte sie keine Regung. Sie wirkte irgendwie erstarrt.

Hinrich bemerkte die fürsorgliche Reaktion von Isabelle und versuchte sich zu erneut zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er fand nicht wieder in sein Spiel zurück, wusste kaum noch wo er war. Sein Vater runzelte verärgert die Stirn und schaute seinen Sohn missbilligend an, als wenn er sagen wollte: Nun vermassele mir nicht wieder die Schau. Junge, du bist ein Versager, du taugst zu nichts. In der Firma taugst du nicht, und in der Musik, die doch deine eigentliche Domäne ist, auch nicht. Wozu kann ich dich gebrauchen? Was soll ich mit dir machen? Am besten, du gehst deiner Wege. Mein Sohn bist du nicht, mein Nachfolger in der Firmenleitung kannst du nicht werden. Ich habe dir alles ermöglicht. Du konntest die besten Internate und Universitäten besuchen, du konntest mit den besten Lehrern musizieren. Und das ist nun der Dank für mein Bemühen. Du solltest dich schämen. Wie ein begossener Pudel stand Hinrich ratlos auf dem Podium und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ihm war schwindelig, es drehte sich um ihn. Der Boden schwankte, schien sich unter ich zu öffnen, als wolle die Erde ihn verschlingen. Er wusste nicht, was er machen sollte. Der alte Herr wurde bleich, rutschte seitlich von seinem Sessel und fiel auf den Boden. Sofort bemühte sich Isabelle um ihn.

- Ingrid löste sich aus ihrer Erstarrung, erhob sich und wandte sich den Gästen zu. Sie rief mit lauter Stimme: Wir brauchen einen Arzt. Befindet sich ein Arzt hier unter uns?

Lähmende Stille herrschte im Saal. Niemand antwortete. Einige Gäste hatten sich von ihren Sitzen erhoben und versuchten zu erkennen, was geschehen war. Konselmann beugte sich vor und erkannte, dass er nichts tun konnte. Hier konnte nur ein Arzt helfen.

- Rufen Sie den Notarzt an, rief Ingrid. Sie sollen sofort einen Rettungswagen schicken. Sie sollen sich beeilen, es geht hier um Leben oder Tod.

Hinrich war zitternd vor Aufregung und Entsetzen vom Podium gestiegen und hatte sich verschämt hinter den Vorhang zurückgezogen. Er hätte sich am liebsten wie eine Maus in ein Loch verkrochen. Bloß niemanden sprechen, ich will jetzt nur noch allein sein, dachte er. Julia war zu ihrem Vater geeilt, wurde jedoch von Ingrid energisch zurückgewiesen: Du kannst hier jetzt nicht helfen, ich kümmere mich um meinen Bruder. Enttäuscht zog sie sich zurück.

Hinter der Bühne trafen sich die Geschwister im kleinen Nebenraum, der für die Breitstellung der Getränke reserviert war.

- Vorwurfsvoll sprach Hinrich seine Schwester an: Julia, was war los mit dir? Warum hast du plötzlich das Tempo verzögert? Wir hatten uns doch darauf verständigt, dass Paulsen die Tempi bestimmen soll. Dann hast du plötzlich das Tempo angezogen, ich aber durfte dir nicht folgen, weil wir es doch anders beschlossen hatten.

- Ich weiß, es war meine Schuld, sagte sie. Die Tempi entsprachen nicht meinem Gefühl. Wir zerstörten die Seele des Werkes.

- Mag sein, aber hier befinden wir uns auf der Erde, in unserem Elternhaus. Jetzt haben wir viel zerstört. Vielleicht sogar Vaters Leben. Das ist viel schlimmer als die richtige Interpretation der Musik.

- Wir hätten es in jedem Fall zu Ende spielen sollen. Ich habe dir deutliche Zeichen gemacht und das nächste Thema angespielt. Du hättest es nur aufgreifen müssen. Ein paar fehlende Noten, ein Wechsel im Rhythmus: Niemand hätte es gemerkt.

- Es war mir nicht möglich. Und jetzt ist alles aus. Vater wird mir allein die Schuld geben, sagte er kläglich.

- Julia blickte ihn schuldbewusst an: Hinrich, verzeih, ich weiß auch nicht, was mit mir passiert ist. Ich dachte an unser Spiel unter freiem Himmel. Es war damals mit Michel so wunderschön, so überirdisch gewesen, wir befanden und in vollkommener Harmonie. Jetzt aber, fehlte die Seele. Wir spielten wie herzlose, unbeteiligte Automaten. Du wirktest plötzlich so abweisend und so fremd. Was war geschehen?

- Ich kann es dir nicht erklären, denn ich weiß es selber nicht. Meine Nerven versagten, ich merkte, wie mich dies Teufelsweib mit ihren dunklen Augen fixierte. Als ich sah, wie sich dieses unselige Weib in dem roten Kleid unserem Vater zuwendete und ihm die zitternde Hand hielt. Ich sah unsere Mutter vor mir. Wie sie blutüberströmt im Bett lag. Er brach in Tränen aus.

- Hinrich, du bist von Sinnen. Trink einen Schluck Wasser.

- Ich kann jetzt nicht.

- Reiß dich zusammen. Wir sind hier nicht allein.

- Doch, ich bin allein, von allen verlassen. Vater hatte sich von mir abgewendet. Ich glaube, er war äußerst erregt, weil ich aus dem Konzept gekommen war. Und dann hat sich dies satanische Weib zu ihm gebeugt und ihm einen Kuss gegeben, so schamlos in aller Öffentlichkeit, so als ob sie hier an seiner Seite bereits Zuhause sei. Das konnte ich nicht ertragen.

- Aber diese Frau betrifft dich doch gar nicht. Sie hat dir nichts Böses angetan. Im Gegenteil, eines Tages wird sie dir vielleicht sogar helfen.

- Hinrich war über sein Versagen tief betroffen und auch erzürnt. Sein Zorn richtete sich jetzt auf seine Schwester. Die er im Grunde für sein Versagen verantwortlich machte. Er reagierte kalt und abweisend: Julia, das geht dich doch gar nichts an. Du lebst ja nicht hier. Du bist weit weg vom Schuss. Führst dein eigenes Leben. Wir müssen hier allein mit der schwierigen Situation fertigwerden. Ich werde nur Hohn und Spott ernten.

- Julia hatte sich wieder gefangen: Das wirst du nicht ändern können, wirst es ertragen müssen. Aber jetzt geht es um unseren Vater. Wir müssen uns um ihn kümmern. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Es kann nur ein kurzer Schwächeanfall, kann aber auch etwas Schlimmeres sein. Ich muss sofort zu ihm und sehen, was zu tun ist.

Die Gäste begannen den Raum zu verlassen. Auch Konselmann drängte hinaus, denn es war ihm peinlich, was er soeben erlebt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Mit wem hätte er sprechen sollen? Julia war mit etwas Anderem beschäftigt. Hinrich tat ihm leid. Das wollte er ihm jetzt nicht sagen. Dazu wäre zu einem späteren Zeitpunkt noch genügend Zeit.

Die Kerzen im Saal verlöschten allmählich. Der Ort wirkte kalt und abweisend, man mochte ihn fast feindlich nennen. Hier und da wurden behutsam ein paar Stühle zurechtgerückt. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt. Nun schien alles wie zuvor, und doch war es nicht so: Der Patriarch hatte das Haus verlassen. Nur die Räume waren noch die gleichen. Die Beleuchtung des Podiums war ausgeschaltet worden. Dunkelheit begann sich auszubreiten.

Kaum wagten sich die beiden Geschwister im Dämmerlicht des verlöschenden Tages anzublicken. Sie fürchteten den Vorwurf des Vaters, der bisher unausgesprochen war: Ihr habt mich blamiert Auch du, meine Tochter, hast mich enttäuscht. Das hätte ich von dir nicht erwartet. Ich hatte so große Stücke auf dich gesetzt. Und nun dies! Ihr beide zerstört mein Lebenswerk, und das Werk meines Vaters! Schwer lastete die lähmende Stille auf ihnen. Kaum wagte einer zu atmen.

- Hinrich war am Boden zerstört: Es tut mir leid, ich habe wieder alles vermasselt. Aber eigentlich bin nicht ich daran schuld. Du bist es, aber das verhängnisvolle Schicksal wird letztlich wieder an mir hängen bleiben. Vater wird mir allein die ganze Schuld geben. Ich muss es ausbaden, und du ziehst dich in die Fremde zurück.

- Julia entgegnete ziemlich schroff: Versuche nicht, mir die Schuld an deinem Versagen zu geben. Ich habe das Konzert nicht abgebrochen.

- Es war mir nicht möglich. Du hast unsere Vereinbarung nicht eingehalten.

- Wenn du meinst, dass du der geeignete Nachfolger für unseren Vater bist, dann beweise es in schwierigen Situationen. Ich lasse mich nicht vor euren morschen Karren spannen. Wenn ihr die Firma in den Dreck gefahren habt, dann zieht sie auch wieder heraus. Ich habe mein eigenes Leben und lasse mich nicht wie eine wohlfeile Ware verschachern.

- Er fühlte sich vereinsamt, weil auch seine Schwester ihm Vorwürfe machte. Mit schwacher Stimme sagte er: Wir werden die Firma nicht retten, ich habe keine Hoffnung mehr. Jetzt ist alles aus. Und dabei wollte ich Vater nur eine Freude machen. Aber sie ist stärker als ich. Sie trägt die Verantwortung.

- Sie erhob sich: Jetzt müssen wir uns erst einmal um Vater kümmern. Ich werde zu ihm ins Krankenhaus fahren, und du kümmerst dich um unsere Gäste. Versuche zu retten, was noch zu retten ist. Du kannst sagen, dass dir das Essen nicht bekommen sei und dass dir schlecht geworden sei. Du fühltest dich nicht gut. Das werden sie akzeptieren. Vielleicht haben sie sogar Mitleid mit dir.

-Ich werde mich um die Gäste kümmern. Aber ich traue mich nicht, mit ihnen zu sprechen. Sie werden mich fragen, was passiert sei, und ich kann ihnen darauf keine Antwort geben. Ich hasse die Lüge, aber die Wahrheit kann ich nicht sagen. Die würde niemand verstehen. Das Geständnis würde mich vollends an den Rand der Gesellschaft stellen.

- Weißt du, ich denke, du musst versuchen, über den Tod unserer Mutter hinwegzukommen. Vielleicht wäre sogar ein Gespräch mit Frau von Stephano hilfreich. Statt sie zu meiden, solltest du ihre Nähe suchen. Ich glaube sogar, sie ist die einzige, die dir in dieser Situation wirklich helfen könnte, aus deiner psychischen Krise herauszukommen. Sie kann und soll dir unsere Mutter nicht ersetzen, aber sie kann dir helfen, deine innere Stabilität und dein Selbstbewusstsein wiederzufinden.

- Zweifelnd und zugleich auch voller Hoffnung blickte er sie an: Meinst du wirklich? Ich weiß nicht so recht, wie ich es anfangen soll. Sie wird nicht mit mir sprechen wollen, weil auch sie mich für einen Versager hält.

- Sie ließ ihn stehen und wandte sich zum Gehen: Versuche es wenigstens. Sie wird dir nichts Böses tun. Schlimmstenfalls sagt sie nein, aber das glaube ich nicht. Ich vermute sogar, dass sie dich sehr gern mag. Du hast eine ausgeprägt weibliche Seite, das zieht starke Frauen an. Sie brauchen den Gegensatz, suchen das, was sie nicht besitzen.

In kleinen Gruppen verzogen sich die Gäste, tief enttäuscht von dem misslungenen Abend. Dafür waren sie nicht gekommen. Das Versagen von Hinrich war ihnen peinlich. Was wirklich geschehen war, das wussten sie nicht. Sie bedauerten ihn und versuchten ihn wieder aufzurichten. Jedenfalls zeigten sie sich verständnisvoll. Was sie dachten, sagten sie nicht. Nur eines war ihnen klar. Dies war nicht der künftige Firmenlenker. Er war ein Häufchen Unglück, das ihr Mitleid erregte. Niemand ahnte, welche Rolle Julia dabei gespielt hatte.

- Paulsen kam mit eilenden Schritten auf Hinrich zu und schloss ihn in seine Arme: Junge, was ist passiert?, fragte er. Ich verstehe das nicht. Bis zu der Stelle im langsamen Satz war alles in Ordnung. Du hast großartig gespielt, so wie ich dich kenne. Und dann der Abbruch aus heiterem Himmel. Das war vollkommen unnötig. Sicher, ihr wart etwas aus dem Takt gekommen, aber was macht das schon? Es hat wohl keiner außer mir gemerkt. Warum hast du nicht weitergespielt?

- Ich kann es nicht erklären. Aber plötzlich war alles weg, ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich musste an Mutter denken, da war alles aus. Wie weggeblasen.

- Hinrich, du hast großes Talent, aber du brauchst mehr Konzerterfahrung. Du solltest an die Violinschule nach London gehen. Sie wurde von meinem Lehrer Yehudi Menuhin gegründet. Ihm lag die Förderung talentierter Künstler sehr am Herzen. Dort erhalten junge Musiker die Gelegenheit, sich in der Kunst des Vortragens zu üben und den Kontakt zum Publikum zu finden.

- Hinrich war noch immer den Tränen nah: Jetzt muss ich erst einmal den Kontakt zu mir selbst finden, sagte er und konnte seinem Lehrer kaum ins Auge blicken.

- Sein Lehrer wandte sich ab und klopfte ihm freundlich auf die Schulter: Kopf hoch! Du wirst das schon schaffen. Tauche erst einmal dein Gesicht in kaltes Wasser. So darf dich niemand sehen. Du siehst aus wie ein Jammerlappen. Damit entfernte er sich und verließ den Raum. Natürlich war auch er von seinem Schüler enttäuscht.

Das Blaulicht vor der Tür war ausgeschaltet worden und der Fahrer wartete auf das Zeichen zur Abfahrt. Nun warf das blaue Licht keine irrlichternden Schatten mehr an die Decke. Mit den tanzenden Figuren schien auch die Hoffnung verschwunden. Das Licht und der Vater waren verschwunden. Würde er jemals wiederkehren? Was würde werden aus ihm und der Firma werden?

Der große Saal begann sich allmählich zu leeren. Einige Gäste strömten energisch hinaus, als ob sie frische Luft atmen wollten, andere zögerten, den Raum zu verlassen. Es war ihnen peinlich, so einfach ohne Abschiedswort zu gehen. Sie schlichen sich grußlos an dem Wagen vorbei.

Über sein erneutes Versagen war Hinrich verzweifelt und wollte am liebsten die Stadt und das ganze Land verlassen: Möglichst weit weg! Er spielte sogar mit dem Gedanken an einen spektakulären Freitod auf den Schienen der nahe gelegenen Eisenbahn. Oder ein Sturz aus einem der oberen Fenster des Elternhauses. Auf diese Weise glaubte er, seine verlorene Ehre wiederherstellen zu können. Und außerdem würde dann sein Vater erkennen, was er an ihm gehabt hatte. Bei diesem Gedanken spielte sogar ein gewisser Rachegedanke mit. Immer hatte er hinter Julia zurückstehen müssen. Sie durfte alles, hatte alles erreicht, konnte seit ihrer Geburt bei ihrer Tante leben, die ihr jeden Wunsch erfüllte. Und auch jetzt hatte sie es besser: Sie konnte auf ihre Plantage in die Karibik zurückkehren, wo sie von ihrem Freund erwartet wurde und niemand über den missglückten Abend Bescheid wusste.

Er hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Er blieb allein zurück. Und was aus seinem Vater werden würde, das wusste niemand. Das Schlimmste wäre, wenn der Vater nicht zurück käme. Dann würde die gesamte Verantwortung für die Firma auf seinen Schultern ruhen. Er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Sie schien für ihn zu groß zu sein. Am besten wäre es, wenn der Vater die Firma verkaufen würde, aber sie gehörte ihm nicht allein. Er brauchte die Zustimmung der anderen Gesellschafter, die er wohl nicht bekommen würde.

Hinrich hatte inzwischen einen klaren Kopf bekommen und begann zu rechnen: Sein Vater besaß knapp die Hälfte der Firmenanteile. Seine Tante besaß etwas über einem Drittel, und er und seine Schwester hatten zusammen ein Sechstel. Gemeinsam hätten sie die Kapitalmehrheit. Sie könnten ihn überstimmen, wenn sie sich einig wären. Aber Julia würde nicht verkaufen wollen, denn sie brauchte die Firma im Hintergrund, und wer würde eine Firma mit Verlusten kaufen? Jedenfalls würde er nicht so viel bekommen, dass er künftig davon leben könnte. Nein, das wäre keine Lösung des Problems.

Er nahm sich einen Sessel, rückte ihn ans Fenster und blickte gedankenverloren hinaus: Die Gewitterwolken hatten sich zusammengezogen und schütteten den Regen in Kübeln auf die Landschaft. Nach dem Gewitterregen zeigten sich erste Silberstreifen am Horizont. Gab es noch eine Rettung? Erst müsste die Firma neu geordnet werden und wieder Gewinne machen. Dann könnte man sie verkaufen, vielleicht sogar an einen Wettbewerber oder an einen Lieferanten. Warum nicht? Aber Vater würde nie zustimmen. Man müsste einen Berater haben, der sich mit der Reorganisation von Firmen auskennt. Vielleicht könnte sogar Isabelle eine Lösung bringen? Sie kannte viele einflussreiche Leute und besaß gute Kontakte zu vermögenden Leuten im In- und Ausland. Ja, er müsste sie ansprechen. Genau das war seine schicksalhafte Bestimmung, der er sich stellen würde. Er selbst müsste die Firma retten. Diese Frau, dies teuflische Weib im Bunde mit finsteren Mächten, könnte vielleicht die Rettung bringen. Das müsste er arrangieren. Wer sonst, wenn nicht sie? Und vielleicht könnte sie Einfluss auf seinen Vater nehmen. Sie könnte den Vater bewegen, die Firmenleitung abzugeben.

Das war seine Idee. War es die rettende Idee?

Vor der Abfahrt des Krankenwagens trafen sie sich in der Vorhalle des Hauses. Isabelle hatte angeboten, ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Das Ansinnen aber wurde von Ingrid ziemlich schroff abgelehnt, weil sie nicht mit ihm verwandt sei. Außerdem machte ihr Ingrid den Vorwurf, für das Unglück mit verantwortlich zu sein. Vor allem wollte nicht, dass sie sich in die internen Angelegenheiten der Familie einmischte. Zu allem Überfluss sagte Ingrid, wenn Isabelle nicht gewesen wäre, dann wäre das Unglück nicht passiert.

- Den Vorwurf verstehe ich nicht, gab Isabelle ziemlich heftig zurück: Sie sollten mir dankbar sein. Sie jedenfalls haben sich nicht um ihn bemüht als er hilflos am Boden lag. Was habe ich mit seinem Anfall zu tun? Ihr Bruder ist während des Konzerts ohnmächtig geworden, und ich habe mich um ihn gekümmert. Das ist alles.

- Nein, das ist nicht alles, entgegnete Ingrid mit kaum unterdrückter Aggressivität. Ich habe Sie beobachtet, ich weiß mehr über Sie, als Sie ahnen. Seit einiger Zeit haben Sie sich systematisch an meinen Bruder herangemacht, suchten seine Nähe und Ihren persönlichen Vorteil. Sie haben ihm ganz ungeniert vor allen Leuten einen Kuss gegeben, und Hinrich hat das beobachtet. Glauben Sie, ich hätte nicht gemerkt, wie Sie seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt haben und sie gestreichelt haben?

- Isabelle blickte zur Decke und zuckte mit den Schultern, als ob sie sagen wollte: Sind Sie nun endlich fertig?

- Ingrid ließ sich nicht beirren und fuhr fort: Tun sie nicht so scheinheilig. Dies unwürdige Schauspiel hat Hinrich aus dem Takt gebracht. Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre alles gut gewesen. Ohne Ihre peinlichen Annäherungsversuche hätten wir einen erfolgreichen Abend erlebt. Hinrich hätte das Vertrauen seines Vaters gewonnen, wäre sein Nachfolger geworden, aber jetzt ist alles verloren. Und Sie tragen daran maßgeblich die Schuld.

Feindselig sah Isabelle sie an. Ihre Augen blitzten vor Zorn: Frau Sämann, Sie machen sich die Sache zu leicht. Sie suchen einen Schuldigen für das heutige Desaster, aber die Ursachen liegen weit zurück: Ihr Bruder hat seinen Sohn nie richtig verstanden, hat nie begriffen, was er wirklich wollte. Er hat ihn von früh an zu etwas gezwungen, was er nicht wollte und auch nicht konnte. Er wollte aus ihm sein Ebenbild machen. Aber das gelang ihm nicht. Ihr Bruder fühlte sich für Hinrichs Versagen mitverantwortlich. Schließlich war Hinrich sein Sohn. Er wollte einen Sohn, wie er es gewesen war. Er suchte sein Ebenbild.

- Das müssen Sie mir nicht erzählen. Das weiß ich selber. Wollen Sie mir erklären, wer Hinrich ist? Was wissen Sie schon von ihm? Sie kennen ihn überhaupt nicht.

- Vielleicht verstehe ich ihn viel besser als Sie, entgegnete Isabelle, denn Sie sehen nur sich selbst, sonst niemanden. Hinrich hat die wahre Liebe nie kennengelernt, weder von seiner Mutter noch von seinem Vater und wahrscheinlich auch von Ihnen nicht. Aber das können wir ein anderes Mal besprechen, wenn Sie wollen.

- Ingrid wandte sich dem Krankenwagen zu, in dem ihr Bruder mit Sauerstoff versorgt wurde. Julia war bei ihm und hielt seine Hand. Sie kämpfte mit ihren Tränen. In gewisser Weise fühlte sie sich schuldig, denn letztlich war sie es gewesen, die ihren Bruder aus dem Konzept gebracht hatte.

Ingrid kümmerte sich nicht um den Patienten. Ihrer Ansicht nach waren genügend Helfer da. Zu Isabelle gewandt, sagte sie über die Schulter mit schneidender Stimme: Ich sehe keinen Sinn darin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.

- Jetzt geht es in erster Linie um Ihren Bruder, antwortete Isabelle, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Ihr Bruder braucht mich mehr als Sie wahrhaben wollen. Und nun wollen Sie mir die Schuld für seinen Anfall zuschieben? Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Suchen Sie sich einen anderen Sündenbock.

- Ingrid nahm auf dem Beifahrersitz Platz: Wir können fahren, sagte sie mit der herrischen Bestimmtheit der Chefärztin und schlug die Tür zu. Das Fenster aber war offen geblieben.

- Sie glauben mich abschieben zu können, und dabei brauchen Sie mich mehr als Sie wahrhaben wollen, sagte Isabelle. Ich weiß, dass Sie dringend Geld brauchen, aber ihr Bruder kann das nicht leisten, denn die Firma Sämann hat selbst kein Geld.

- Das ist eine infame Lüge, schrie Ingrid durch das geöffnete Fenster. Ihre Vermutung ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir brauchen Sie nicht.

- Sie brauchen mich mehr, als Sie glauben und zugeben wollen.

Der Notarztwagen schaltete erneut das Blaulicht ein und verließ das Grundstück. Wolfgang Sämann wurde sofort in der Klinik aufgenommen und auf die Intensivstation gebracht. Seine Schwester setzte alle Hebel in Bewegung, so dass er schon nach wenigen Minuten im Operationssaal lag und fachgerecht medizinisch betreut wurde. Es ging um Minuten, um Leben oder Tod. Allen war klar, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Aber dank des schnellen Eingriffs der Ärzte konnten schwere Gehirnschäden vermieden werden. Die Chancen standen gut, dass er den Anfall ohne bleibende Schäden überstehen würde.

Isabelle hatte dem abfahrenden Wagen noch eine Weile nachdenklich nachgeblickt, bevor sie sich umwandte. Sie suchte Hinrich und fand ihn in dem Raum seiner Niederlage, wie sie es erwartet hatte. Sie sah den jungen Mann in sich zusammengesunken am Fenster sitzen, legte ihre Hand auf seine Schulter und versuchte ihn zu beruhigen: Du musst dir das nicht so zu Herzen nehmen, sagte sie. So etwas kommt vor, wenn man sich nicht gut fühlt. Das ist mir auch schon mal passiert. Wichtig ist, dass man gestärkt aus so einer kritischen Situation herauskommt. Wir wissen aus der Geschichte: Eine Niederlage kann die Grundlage für den nächsten glänzenden Sieg legen. Wie siegreiche Feldherren musst du es den anderen zeigen, dass du jemand bist, der kritische Situationen meistern und am Ende glorreich siegen kann.

- Hoffnungslos blickte er sie an: Ach, Frau von Stephano, wenn Sie wüssten, wie es in mir aussieht. Mir ist zum Heulen zumute.

- Ich kann es mir vorstellen, aber nun müssen wir nach vorne blicken und sehen, was zu retten ist. Noch ist nichts verloren.

- Das Handy klingelte. Hinrich drückte ein paar Tasten: Ich habe von Ingrid eine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, sagte er. Mein Vater soll schon bald operiert werden, er befindet sich in einem kritischen Zustand. Er ist nicht bei Bewusstsein. Man hat ihn in ein Tiefschlaf gelegt, weil er so unruhig war. Aber er hat eine starke Natur. Er wird die Krise überwinden. Ob er jemals wieder der Alte wird, dass können die Ärzte noch nicht sagen.

- Ich denke, vorübergehend müssten Sie die Verantwortung für die Firma übernehmen, bis Ihr Vater wieder gesund ist, sagte Isabelle.

- Er riss die Augen auf und blickte sie mit Entsetzen an: Ich soll jetzt die Verantwortung für die Firma übernehmen? Das kann ich nicht. Ich bin noch zu jung. Und Vater wird es nicht zulassen. Er hat kein Vertrauen zu mir, insbesondere jetzt nach der Pleite an diesem Abend schon gar nicht. Julia müsste das tun. Sie hat das Zeug dazu. Sie haben sie heute erlebt. Sie hat nicht vor allen Leuten versagt, so wie ich. Sie ist stark. Sie allein kann das schaffen.

- Sprechen Sie mit ihr. Vielleicht macht sie das, aber ich kann es mir nicht vorstellen, denn sie ist in Nicaragua beruflich und persönlich stark engagiert.

- Ich kann es versuchen, aber große Hoffnung habe ich nicht.

- Einer muss es tun, wenn hier nicht alles zu Bruch gehen soll. Die Firma braucht einen kompetenten Führer und zwar schnell.

- Er blickte sie voller Hoffnung und zugleich auch zweifelnd an: Würden Sie mir helfen?

- Mit großer Entschlossenheit sagte sie: Ja, das würde ich, wenn Sie mich darum bitten. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen helfe. Haben Sie Vertrauen zu mir.

- Er drückte ihr dankbar die Hand: Ich vertraue Ihnen.

Sie trennten sich und verließen den Raum seiner blamablen Niederlage.

Die Bediensteten begannen den Raum aufzuräumen, rückten die Stühle wieder an ihren ursprünglichen Platz. Nach kurzer Zeit sah es aus, als ob nichts geschehen sei. Aber es war nicht so, wie es gewesen war. Eine vollkommen veränderte Situation hatte sich ergeben. Sowohl in der Firma als auch im privaten Bereich. Jeder suchte seinen ihm vom Schicksal bestimmten Platz. Aber wo war er zu finden?

Hinrich zog sich in sein Zimmer zurück. Alles befand sich noch an dem Platz, wo er es verlassen hatte. Die Noten lagen noch auf dem Tisch. Kaum wagte er den langsamen Satz aufzuschlagen: Andante - Langsam, ruhig. Er warf sich auf sein Bett und versuchte im Schlaf ein Vergessen zu finden. Aber er fand keine Ruhe. Was sollte er mit Isabelle machen? Sollte er sie wirklich um Hilfe bitten? Was würde sein Vater dazu sagen?

Voller Angst quälte er sich mit unheilvollen Gedanken. Im Schlaf erschien ihm die rote Frau, wie sie aus den Flammen aus den Tiefen der Erde stieg. Sie schien ihm der leibhafte Teufel zu sein.

Voller Schrecken wachte er auf. Verwirrt blickte er im Zimmer umher. Die Schreckgespenster waren verschwunden. War alles nur ein böser Traum gewesen? Nein, ein Traum war es nicht. Dort lagen die Noten, seine Geige, sein Anzug. Es war alles real.

Erneut griff er zu den Tabletten, die ihm Julia gegeben hatte. Sie würden ihn Ruhe finden lassen. Aber die innere Ruhe drang nicht in sein aufgewühltes Bewusstsein. Er fühlte sich von allen guten Geistern verlassen und vereinsamt.

Woher und von wem hätte Hilfe kommen sollen? Was hatte Julia gesagt? Hatte sie nicht gesagt, dass ihm Isabelle helfen würde oder Konselmann? Er könnte es versuchen. Er müsste mit ihnen reden.

Das Doppelkonzert

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