Читать книгу Das Doppelkonzert - Arnulf Meyer-Piening - Страница 5
Der Gladiator
ОглавлениеIsabelle führte den Gast die Treppe hinab in den großen Salon mit der Ahnengalerie, in dem schon fast alle Gäste versammelt waren. Graf Ebersbach, schlank mit leicht graumelierten Schläfen, begrüßte ihn an der weit geöffneten Flügeltür mit einer leichten Verbeugung: Herr Konselmann, willkommen in meinem Haus. Ich betrachte es als eine Ehre, Sie in meiner bescheidenen Hütte als Gast empfangen zu dürfen. Ich hoffe, Sie werden das Wochenende in guter Erinnerung behalten. Treten Sie ein und lassen Sie sich verwöhnen.
Der Graf sagte es mit einem leicht ironischen Lächeln, fast nicht zu bemerken. Er repräsentierte ein alt-ehrwürdiges Adelsgeschlecht, das in diesem Schloss seit vielen Generationen residiert hatte. Er spielte seine Rolle mit unaufdringlicher Herzlichkeit. Man konnte sich seiner Führung kaum entziehen. Fast wirkte er wie ein alter General, vielfach geübt, seinen Gefolgsleuten Befehle zu erteilen, von denen er erwartete, dass sie unverzüglich und widerspruchslos ausgeführt würden.
Der Berater beobachtete ihn genau. Er war es gewohnt, Menschen zu beurteilen und sorgfältig zu unterscheiden nach solchen, die ihm von Nutzen sein konnten, und solchen, die für ihn nur Zeitverschwender waren, um die er sich nicht bemühen musste. Zeit war sein kostbarstes Gut. Und Geld natürlich. Und Ansehen. Und Macht, aber darin unterschied er sich nicht von den anderen, die jetzt im gräflichen Schloss versammelt waren. Der Graf war eindeutig der ersten Kategorie zuzurechnen. Er war eine einflussreiche Persönlichkeit, weit über Deutschlands Grenzen bekannt, und er hatte Geld, viel Geld und vor allem Einfluss in gehobenen Kreisen.
- Konselmann verneigte sich dezent. Vielen Dank. Ich bin Ihrer Einladung sehr gerne gefolgt, entgegnete er verbindlich und begann sich unauffällig nach den anderen Gästen umzusehen. Schließlich war er hier, um möglichst viele einflussreiche Menschen kennenzulernen, mit denen er künftig Geschäfte machen wollte.
Die Gäste standen in kleinen Gruppen beieinander, waren in angelegentlichen Gesprächen vertieft, wie es schien. Der Berater überlegte, in welche Gruppe er sich einordnen wollte, als Graf Ebersbach sich den neu eintretenden Gästen zuwandte und sie auf gleiche Weise begrüßte, wobei er dieselben Worte benutzte. Fast schien es wie ein perfekt einstudiertes Theaterstück. Hunderte Mal inszeniert: Gleicher Ort, gleicher Auftritt, gleiche Beleuchtung, gleiche Regie, jedoch jedes Mal mit etwas anderen Gästen. Und darauf kam es an: Möglichst viele einflussreiche Menschen zu erreichen, um sie als sichere Multiplikatoren für die gehobenen Konsum-Produkte des Hauses zu gewinnen und sie fest an sich zu binden. Ein gutes Essen, erlesene Getränke und ein paar kleinere Aufmerksamkeiten konnten dabei nur hilfreich sein.
Isabelle nahm Guido am Arm und führte ihren Gast in den Kreis der anderen Gäste, die mit einem Glas Champagner in freundlich lockerem Gespräch beisammen standen, sichtlich bemüht, mit Geist und Witz die Aufmerksamkeit und die Bewunderung der Umstehenden zu erringen. Nur wer mit lauter Stimme sprach, konnte die anderen zum Zuhören bewegen und sie beeindrucken. Wichtig war, ein spontanes Gelächter zu bewirken, damit sich die anderen nach dem Urheber der ausgelassenen Heiterkeit umdrehten. Und dann dachten sie etwas neidisch, sie wären gern Teil dieser Gruppe, um ebenfalls so heiter und unbeschwert zu lachen.
- Isabelle klopfte an ihr Glas und ergriff das Wort: Meine Damen und Herren. Darf ich Ihre angeregte Unterhaltung kurz unterbrechen, ich möchte Sie mit meinem Studienfreund Guido Konselmann, Partner der internationalen Beratungsgesellschaft Bosko und Partner aus Düsseldorf, bekannt machen.
Der Berater quittierte die Bemerkung mit einem bescheidenen Lächeln und leicht angedeutetem Kopfnicken. Kritische Musterung der Gäste von oben nach unten: Tadellos sitzender Smoking, schwarze Schuhe, gepflegte Erscheinung, mit schwarzem Haar. Nicht zu lang und nicht zu kurz: Gerade richtig, dem festlichen Rahmen angepasst. Elegant, erfolgsgewohnt, sicher in seinen geschliffenen Umgangsformen. Keineswegs arrogant, eher bescheiden, sympathisch.
- Sie fuhr fort, indem sie sich der Gruppe zu ihrer Rechten mit einer leichten Handbewegung zuwandte: Herr Sämann, Inhaber der Firma Sämann in München und seine Schwester Ingrid Sämann. Sie leitet das Elisabeth-Krankenhaus am Tegernsee. Der Senior war etwas untersetzt mit fast weißem, sorgfältig gescheiteltem Haar, mochte wohl etwa Ende sechzig oder sogar Anfang siebzig sein: Reserviert, jovial, eine anziehende Persönlichkeit, die Aufmerksamkeit und Respekt forderte. Seine Begleitung, eine gut aussehende, ihm auffallend ähnliche, sehr vorteilhaft gekleidete Frau mit leicht ergrautem Haar, sah deutlich jünger aus als er, jedenfalls besuchte sie regelmäßig das Fitness-Studio. Sie hielt sich kerzengrade und betont aufrecht. So schien sie größer als ihr Bruder, der etwas gebeugt und unsicher stand.
Konselmann musterte sie eingehend: Sie schien herrisch, unnahbar, abweisend und kalt. Aber vielleicht war das nur Fassade, um ein weiches Herz zu verdecken. Er würde versuchen, sie in ein Gespräch zu ziehen. Wer konnte wissen, welchen Einfluss sie auf ihren Bruder hat. Es gab verschiedene Anknüpfungspunkte für eine Unterhaltung: Im Bereich der Krankenhäuser hatte sein Beratungsunternehmen allerlei Erfahrungen gesammelt. Vielleicht wäre von ihr ein Auftrag zu bekommen? Aber sein Interesse konzentrierte sich erster Stelle auf das Stammhaus der Firma Sämann. Hier setzte er den Hebel an. Er musste Prioritäten setzen.
Isabelle fuhr mit ihrer Bekanntmachung ihrer Gäste fort: Diese junge Dame ist seine Tochter Julia. Sie war wirklich sehr attraktiv, wie Konselmann feststellte, vielleicht sogar noch anziehender, als er sie vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war deutlich gereift und noch attraktiver geworden: Ihr Gesicht von der Sonne gebräunt und ihre ganze Erscheinung sportlich, offenbar durchtrainiert schlank. Ihr langes blondes Haar fiel ihr leicht gescheitelt auf die Schultern. Der Berater betrachtete sie aufmerksam und sprach sie lächelnd an: Ich freue mich, Sie in hier aus diesem festlichen Anlass wiederzusehen, sagte er. Ich bin sehr gespannt, wie es Ihnen mit Ihrem jungen Unternehmen in der Zwischenzeit ergangen ist, seitdem wir uns das letzte Mal gesprochen haben.
- Julia lächelte selbstsicher und verbindlich: Ich berichte Ihnen gern, und ich freue mich, auch von Ihnen zu hören, was Sie so machen. Noch immer viel unterwegs?
- Ja, immer auf Achse. Man kann nur vor Ort für den Klienten arbeiten. Man muss mit ihm zusammenarbeiten. Nur so kann man etwas bewirken. Nur positive Veränderungen bringen unsere Klienten voran. Auch wir brauchen den Erfolg unserer Klienten.
- Isabelle wandte sich dem nächsten Herren zu, der etwas abseits stand: Horst Grünberg, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen im Hessischen Landtag. Gleichzeitig ist er Vorsitzender der hiesigen Arzneimittelbehörde, und in dieser Eigenschaft zuständig für die Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln. Sie werden ihn bestimmt kennen. Fast jeden Tag ist sein Bild in der Zeitung.
Etwas ungelenke Verbeugung des noch ziemlich jungen Mannes mit schwarzem Kraushaar und stechenden, fast fanatisch wirkenden Augen. Offenbar schien er sich im lässigen weißen Rollkragenpullover unter dem karierten Jackett in diesem Kreis nicht richtig wohlzufühlen, wie man an seiner leicht nach vorne gebeugten Haltung erkennen konnte. Im Übrigen waren die Herren sämtlich im Smoking erschienen. Die Damen im Abendkleid, teilweise lang. Sehr elegant. Die Begrüßung fiel etwas knapp und förmlich aus, als ob man sich gegenseitig taxiert hätte und zu einer abwartend zurückhaltenden Beurteilung gekommen sei.
Die restliche Gruppe wandte sich belanglosen Themen über das aktuelle Wetter und die letzte Reise in weit entfernte und noch weitgehend unbekannte Gegenden der Dritten Welt zu und tauschte Höflichkeiten aus. Eine Fahrt mit einem Forschungsschiff in die Antarktis erweckte Aufmerksamkeit. Es ging um die Beobachtung von Vögeln, Pinguinen, Robben und Eisbären. Nur mit knapper Not war man einer gefährlichen Berührung mit einem Eisberg entkommen, so wurde mit Enthusiasmus berichtet. Die Hörer waren sich nicht sicher, wo Phantasie oder Erlebtes endeten oder begannen. Gleichviel: Die Aufmerksamkeit war ihm sicher. Ein belangloses Abenteuer, eine beliebige Erzählung, aber lebhaft vorgetragen.
- Julia berichtete von Ihrer Forschungsarbeit in Nicaragua. Konselmann versuchte, sie ins Gespräch zu ziehen, um mehr von ihr über Land und Leute zu erfahren. Vor allem wollte er ihre Stellung in der Firma Sämann und ihre persönlichen Lebensumstände wissen. Zum Beispiel, ob sie fest liiert sei. Aber dazu kam es nicht, denn sie war ständig von anderen Gästen umlagert. Also konnte er seinen Wissensdurst nicht stillen. Er musste auf eine andere Gelegenheit hoffen.
Es wurden Aperitifs gereicht, jeder nur erdenkliche Getränkewunsch wurde erfüllt. Meistens wählten die Gäste höflicherweise den Champagner des Hauses, aber auch Sherry und alter Portwein wurden getrunken. Alles vom Besten und Feinsten, auf silbernen Tabletts mit leichter Verbeugung vollendet serviert. Dazu leichtes Gebäck aus der Gegend, passend zu dem jeweiligen Getränk.
Ein angeregtes Lachen aus der anderen Gruppe, die im lockeren Gespräch am Fenster stand, wurde unterbrochen, als Graf Ebersbach mit einem kleinen Löffel gegen sein Glas schlug und das Wort ergriff: Meine Damen und Herren, ich darf Sie zu Tisch bitten und hoffe, dass wir jeden von Ihnen mit unserem Angebot zufrieden stellen können. Ich darf Ihnen versichern, unsere Köche haben sich für Sie ganz besondere Mühe gegeben. Im Übrigen finden Sie auf dem Tisch kleine Tischkarten. Wir haben uns, Ihr freundliches Einverständnis vorausgesetzt, erlaubt, die Paare getrennt voneinander zu platzieren, damit Sie sich gegenseitig besser kennenlernen können, neue Freundschaften knüpfen und alte vertiefen können.
- Beifälliges Murmeln der Gäste.
- Der Graf fuhr fort: Sie werden es mir nachsehen, dass ich an dem Essen selbst nicht teilnehmen kann, da ich noch heute Abend nach Berlin zu einem Empfang beim Bundespräsidenten fahren muss. Unvermeidliche Verpflichtungen, Sie verstehen. Ich bedaure dies ausdrücklich, denn ich hätte mich lieber mit Ihnen, als den besonderen Freunden unseres Hauses, unterhalten. Dennoch wünsche ich Ihnen gute Gespräche und vor allem guten Appetit.
Mit leichter Verbeugung verließ er den Raum. Isabelle kannte die Rede in- und auswendig. Noch nie hatte der Graf an einem solchen Routine-Dinner teilgenommen, denn jedes Mal hatte er beim Präsidenten – wer es auch immer war – einen unaufschiebbaren Termin gehabt. Man bedauerte dies pflichtschuldigst und studierte mit Interesse die Tischordnung, die auf einem separaten Tisch gleich neben der Tür ausgelegt war.
Isabelle hatte Guido als ihren Tischherren ausgewählt, was ihm einerseits sehr recht war, denn sie hatten noch viel zu besprechen. Andererseits saß er zu weit von Julia entfernt, um auch nur ein kleines persönliches Gespräch anzufangen. Immer befand sich irgendjemand zwischen ihnen. Er hatte sogar den leisen Verdacht, dass Isabelle ihn absichtlich von Julia weit entfernt platziert hatte. Er wusste aus früheren Begegnungen, dass sie sehr eifersüchtig werden konnte. Außerdem vertrug sie keine attraktiven Frauen neben sich, zumal wenn interessante Männer in ihrer Nähe waren.
Das Essen war vorzüglich und bestand aus mehreren Gängen, begleitet von erlesenen Weinen. Die kleinen Pausen boten genügend Gelegenheit, sich miteinander zu unterhalten. Aber wie es bei solchen Gelegenheiten zumeist der Fall ist, wurden nur Belanglosigkeiten ausgetauscht. Im Wesentlichen ging es nur darum, sich selbst richtig ins Bild zu setzen.
Die eine oder andere wohlklingende Rede wurde gehalten. Am Schluss folgte die unvermeidliche Damenrede. Isabelle hatte Konselmann als Redner ausgewählt, weil er der jüngste unverheiratete Mann im Raum war. Er erhob sich, straffte sich und blickte der Reihe nach jeder Frau mit einem leichten Lächeln ins Angesicht. In eleganten Anspielungen auf die Schönheit der anwesenden Damen zeigte sich Geist und klassische Bildung des Redners. Im Grunde war es gleichgültig, was gesagt wurde; es kam nur darauf an, wie es gesagt wurde. In feinsinnigen Redewendungen bemühte er klassische Schönheiten vom göttlichen Olymp wie Aphrodite, Venus und Hera und war zufrieden, dass er sich nicht in der Rolle des Paris befand, der die Schönste der anwesenden Damen zu beurteilen hatte. Als er geendet hatte fand seine blumenreiche Rede allgemeinen Beifall und Zustimmung besonders der Damen. Er hatte einen glänzenden Eindruck hinterlassen. Man erhob sich und ging in den Salon. Nun wandte er sich den Herren zu, von denen er Ansätze zu künftigen Aufträgen erhoffte.
Der Berater ging von Gruppe zu Gruppe und erwies sich als gewandter Gesprächspartner. Unglaublich, dachte Isabelle, während auch sie von Gruppe zu Gruppe wechselte, wie er die Leute einzuwickeln versteht. Mit seinen Andeutungen, mit seinem Gehabe, mit seiner Körpersprache, die er wirkungsvoll einzusetzen versteht, erregt er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Wenn die wüssten, dachte sie, wie wenig hinter der Fassade steht. Er hat Ähnlichkeiten mit meinem Ex-Mann, dachte sie, aber sie würde sich nicht noch einmal von einem Mann vor seinen Karren spannen lassen. Sie würde es allen zeigen, wer der Intelligenteste unter allen ihren Mitmenschen war: Wer letztlich der Triumphator sein würde. Aber Konselmann wäre ein härterer Brocken, den zu knacken nicht leicht sein würde. Jedenfalls war Vorsicht geboten, denn sie könnte sich die Zähne an ihm ausbeißen.
Der Berater war ein Profi seines Fachs. Er spielte souverän auf dem Klavier der harmonischen Beziehungen. Sie würde das Wissen für sich behalten, nützte ihr doch sein elegantes Auftreten, denn sie würde sich an ihn binden, würde mit ihm gemeinsam an ihrem eigenen Erfolgskonzept arbeiten. Er könnte ihr von Nutzen sein. Nur gemeinsam würden sie es schaffen. Sie würde ihm helfen, und er würde ihr helfen. Sie würden sich die Bälle gegenseitig zuspielen, mussten nur aufpassen, dass keiner zu Boden fiel. Sie glichen einem Jongleur-Paar, das mit vielen Bällen spielte und sie zur gleichen Zeit mit wechselnder Höhe in der Luft hielt.
Was suchte sie? Sie wollte sich an ihrem Mann rächen, der sie mit seiner Sekretärin betrogen und sie anschließend verlassen hatte. Dabei hatte sie ihn beruflich unterstützt, was auch immer er tat. Sie hatte sich im Hintergrund gehalten, wie er es von ihr verlangt hatte. Das war der Preis für den Adelstitel, den er ihr durch die Heirat verschafft hatte. Dabei hatte sie ihm oft aus finanziellen Schwierigkeiten geholfen, wenn er wieder einmal Geld bei dubiosen Geschäften verloren hatte. Jahrelang hatte sie die Zeche gezahlt und geschwiegen. Das war nun ein für alle Mal vorbei. Sie suchte das Vergessen, Neubeginn, Anerkennung und Erfolg. Eine Anerkennung, die ihr bisher versagt geblieben war. Sie suchte die Nähe zu einflussreichen Männern, die sie für ihre Zwecke nutzen würde.
Dafür schien Graf Ebersbach genau der richtige Mann zu sein. Aber sie wollte nicht mehr von ihm herumgestoßen und gegängelt werden, wollte nicht nur die elegante Begrüßungsdame des Grafen sein, wollte ihren Einsatz selbst bestimmen. Und für den großen Geschäftserfolg brauchte sie einen Partner: Guido Konselmann. Das war der Mann, der ihr helfen konnte, der das fehlende Wissen über betriebliche Details ergänzen konnte. Wenn sie ihm half, würde er ihr helfen, ein fairer Deal; davon war sie überzeugt. Ein Bündnis auf Gegenseitigkeit. Doch so einfach schien die Rechnung nicht aufzugehen. Sie hatte etwas Wichtiges übersehen.