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Gedanken zur Nachfolge
ОглавлениеNoch blickte die abendliche Sonne vorsichtig auf die Terrasse des stattlichen Hauses am Starnberger See, als sei sie nicht sicher, ob sie die Unterhaltung des Hausherren stören dürfe. Wolfgang Sämann saß mit seiner Schwester Ingrid am Tisch, wo sie den obligaten Nachmittagstee genommen hatten. Ein schöner Herbsttag neigte sich dem Ende zu, doch von unheilschwangerer Atmosphäre geprägt. Im Hintergrund die im Dunst verschwimmende Bergkette der Voralpen. Darüber erhoben sich bedrohlich wachsende Wolkentürme. Auf der leicht zum See abfallenden Wiese grasten friedlich ein paar Kühe. Sie schienen von dem drohenden Gewitter unbeeindruckt zu sein. Die Landschaft schien fast kitschig wie auf einer Postkarte oder einem Prospekt für Bio-Milchprodukte.
Der Senior saß in sich zusammengesunken, etwas gebeugt vom Alter, auch von Krankheit gezeichnet. Seine rechte Hand zitterte, er verschüttete den Tee.
- Die auch nicht mehr ganz junge Frau mit grauem Haar zum Knoten am Hinterkopf gebunden blickte ihn streng wie eine Gouvernante und missbilligend an, schüttelte ihren Kopf: Wolfgang, pass doch auf, du kleckerst den Tee auf das frische Tischtuch und auf deine helle Hose. Sieh mal wie du aussiehst. Du musst dich sofort umziehen. Man könnte denken, dass dir ein Malheur passiert sei.
- Etwas verunsichert erhob er sich und knurrte mürrisch: Es besucht uns ja keiner. Wo steckt eigentlich Hinrich? Warum war er nicht auf der Einladung von Graf Ebersbach?
- Ich weiß es nicht, er hat es mir nicht gesagt. Vielleicht hatte er eine Prüfung im Konservatorium. Dafür hat er viel gearbeitet. Aber vielleicht hatte er auch einen anderen Grund. Wer weiß.
- Die Prüfung hätte er absagen oder wenigstens verschieben können. Der Junge vergeudet zu viel Zeit mit dem Geigenspiel. Er sollte sich lieber auf seine Aufgaben in der Firma konzentrieren. Er setzt falsche Prioritäten in seinem Leben.
- Ingrid forderte ihn erneut auf, sich umzuziehen: Du wirst dich erkälten. Du musst auf deine Gesundheit achten.
Widerstrebend erhob er sich und ging ins Haus. Es war ihm durchaus recht, jetzt etwas Abstand zu seiner Schwester zu bekommen. Ihn beschäftigte die Frage nach der Zukunft seiner Firma. Vor allem wollte er seine Nachfolge geregelt wissen. Er hatte sich bemüht, seinen Sohn auf die Nachfolge vorzubereiten, hatte ihn auf das teuerste Internat geschickt, hatte ihm seine künftige Aufgabe immer wieder klar gemacht: Hinrich, du musst immer der Beste sein, im Sport, in den Naturwissenschaften, in Mathematik, in Sprachen, überall. Du musst besser sein als alle anderen. Aber es hatte nichts genützt. Es hatte höchstens zum Durchschnitt gereicht, mehr war nicht drin gewesen. Sein Sohn war in seinen Augen ein Versager, ein Einzelgänger und ein Träumer. Für seine Nachfolge ungeeignet.
- Anders war es um seine Tochter Julia bestellt: Sie hatte überall erstklassige Zensuren heimgebracht und war bei allen beliebt. Sie hatte viele Freunde, weil sie nicht nur gut aussah, sie hatte auch ein gewinnendes Wesen. Ihr standen alle Türen offen. Aber es hatte sie weit vom der Familie entfernt nach Übersee gezogen, wo sie ein Verhältnis mit irgendeinem jungen Mann hatte. Darüber wollte er nichts hören. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Er wollte sie in die Firmenleitung einbinden, damit die Firma in der Familientradition weitergeführt werden könnte. Sie könnte in der Firma meine Nachfolge antreten, dachte er, als er sich zurückzog. Sie ist meine einzige Hoffnung. Er zog sich um und kehrte mit einer leichten Sommerhose bekleidet und mit einem Sweatshirt zurück.
- Du hättest dir etwas Wärmeres anziehen sollen. Du zitterst jetzt schon. Es wird gleich ein Gewitter geben.
- Unwirsch wehrte er ab. Lass das meine Sorge sein. Mir ist nicht kalt. Was mir wirklich Sorgen bereitet, das ist meine Nachfolge. Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Es kann mit mir sehr schnell zu Ende gehen. Diese Krankheit ist unberechenbar. Das weißt du so gut wie ich.
- Du hast doch Hinrich, versuchte sie ihn aufzurichten, der ist doch schon in der Firma tätig. Was hast du mit ihm vor?
- Er taugt nicht zu meinem Nachfolger. Er ist zu weich. Er lebt nur für seine Musik. Er sollte hier sein. Warum ist er nicht hier bei uns?
- Sie zuckte gleichgültig mit den Achseln und lehnte sich zurück, indem sie die dunklen Wolken betrachtete: Ich habe keine Ahnung. Er sagte mir nur, dass er zum Arzt müsse.
- Er horchte auf: Zum Arzt? Zu welchem Arzt? Ist er denn krank?
- Nein, das wohl nicht, aber er geht seit einiger Zeit zu einem Psychologen. Ich weiß auch nicht was er hat. Er spricht nicht darüber, mit mir wenigstens nicht.
- Du solltest das eigentlich wissen. Schließlich bist du die Ärztin im Hause. Du hast eine engere Beziehung zu meinen Kindern als ich.
- Wenn du es nicht weißt, wie soll ich es wissen? Er ist dein Sohn, er lebt in deinem Haus und ist in deiner Firma beschäftigt. Du solltest eigentlich wissen, was er macht. Aber du interessierst dich nicht für ihn. Darunter leidet er.
- Hoffnungslos blickte er seine Schwester an: Ich kann mich nicht um alles kümmern. Außerdem ist Hinrich ein erwachsener Mann. Er ist kein Kind mehr, den man an die Hand nehmen kann, und dem man sagt, was er zu tun oder zu lassen hat.
- Mit schneidender Stimme fragte sie: Hast du ihn denn schon mal richtig gefordert und die Zügel locker gelassen? Du behandelst ihn wie eine Marionette. Er kann sich bei deiner Ablehnung nicht richtig entfalten. Deine Geringschätzung spürt er jeden Tag. Das war sein ganzes Leben so. Ist doch kein Wunder, wenn er nun bei einem Psychiater Rat sucht. Er ist vollkommen verkrampft, klagt schon seit längerer Zeit über Muskelreißen, Magenschmerzen und Verdauungsprobleme.
- Er soll sich endlich zusammenreißen und sich nicht gehen lassen. Er ist ein Waschlappen, ein Versager. Er geht allen Konflikten aus dem Weg und kann keine schwierigen Entscheidungen fällen. Er will immer jedermanns Freund sein. Das geht auf die Dauer nicht. Niemand kann es allen recht machen.
- Stoße ihn ins kalte Wasser. Da muss er schwimmen lernen.
- Wolfgang begann noch heftiger zu zittern: Das sagt sich so leicht. Wir können uns keine Fehler mehr leisten. Die Geschäfte laufen nicht so rund wie sie sollten. Wir bekommen von den Banken keinen Kredit mehr. Wir brauchen Geld für Investitionen und auch um das laufende Geschäft aufrecht zu erhalten. Es geht uns finanziell nicht gut. Die Reserven sind weitgehend aufgezehrt.
- Lass uns über etwas Angenehmes sprechen. Dies Thema regt dich zu sehr auf. Die Sorgen schaden deiner Gesundheit. Du solltest endlich mal eine Auszeit nehmen und eine Kur machen. Ich habe dir das schon oft gesagt, aber du willst ja nicht auf mich hören. Du hörst in letzter Zeit nur noch auf Isabelle. Sie ist wohl inzwischen zu deiner Privatsekretärin avanciert oder ist sie inzwischen schon mehr?
- Nein, sie ist nicht mehr. Aber sie tut mir gut. Wenn sie bei mir ist, dann fühle ich mich geborgen. Sie hat eine positive Ausstrahlung.
- Auf mich nicht. Im Gegenteil, sie geht mir auf die Nerven mit ihrer Wichtigtuerei. Sie ist eine Aufschneiderin, anmaßend und arrogant. Sie hat es auf dich abgesehen, und du lässt sie gewähren.
- Er zündete sich eine Zigarre an: Da bildest du dir etwas ein. Ich glaube, du siehst Gespenster.
- Nein, ich beobachte dich und mache mir Sorgen. Vielleicht hast du sie schon zu deiner Nachfolgerin ausgewählt?
- Er reagierte ziemlich heftig: Unsinn! Solange ich es noch kann, werde ich die Firma selber leiten und aus den bestehenden Schwierigkeiten herausführen. Das bin ich mir und unserem Vater schuldig.
- Ihre Stimme bekam einen drohenden Unterton: Wolfgang, wie oft soll ich es dir noch sagen: Du musst endlich mit dem Rauchen aufhören. Du schadest deiner Gesundheit. Eines Tages ist es zu spät, und dann wirst du an meine Mahnung denken.
- Dann habe ich überhaupt keine Freude mehr. Bring mir lieber ein Glas Wein und beschäftige dich mit deinen Angelegenheiten. Du musst dich mehr um deine Klinik kümmern. Jedes Jahr muss ich die Verluste ausgleichen. Das kann so nicht weitergehen. Das bereitet mir erhebliche Kopfschmerzen. Die Gelder, die ich jeden Monat an dich überweisen muss, fehlen mir an anderer Stelle.
- Die Gelder sind im Sinne der Firma und zu deinem Besten gut angelegt. Die klinischen Tests des neuen Medikaments Vexalin gegen die Niereninsuffizienz, das Julia mit ihrer Firma zur Zulassung angemeldet hat, verschlingen Unsummen. Wir haben es noch immer mit kritischen Nebenwirkungen zu tun. In dieser Form kann es nicht auf den Markt gebracht werden. Auch dir steht es nicht zur Verfügung, obwohl du es dringend brauchtest. Das Risiko kann ich nicht eingehen.
- Julia hätte ihren Platz hier bei mir in der Firma einnehmen sollen. Sie arbeitet seit vielen Jahren auf diesem Gebiet. Aber das neue Medikament ist noch immer nicht auf dem Markt. Die Tests dauern zu lange. Die Arbeiten werden nicht richtig vorangetrieben. Sie hat nicht die richtigen Leute, kann ihre Mitarbeiter nicht motivieren und kann sie nicht kontrollieren. Die Entfernung zu ihrem Institut in Nicaragua ist zu groß. Was hat die letzte Testserie gebracht?
- Es gibt noch einige Unklarheiten. Wir erforschen noch die Nebenwirkungen.
Das Gespräch hatte ihn ziemlich aufgeregt. Er bekam einen roten Kopf und begann erneut heftig zu zittern.
- Ingrid lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Sie wollte die trüben Gedanken ihres Bruders zerstreuen und suchte einen positiven Ansatz: Wir sollten mal wieder ein großes Fest geben. So wie früher mit vielen Gästen und Musik.
- Ach, das war einmal. Heute passt das nicht mehr zu unserem Lebensstil.
- Warum nicht? Es kommt nur darauf an, was wir daraus machen. Es hängt von uns ab. Wenn wir es wollen, dann wird es wieder wie früher sein. Wir könnten es so ähnlich wie Graf Ebersbach machen.
- Das können wir uns gar nicht leisten. Wir haben keine exquisite Küche.
- Dann machen wir es etwas kleiner. Außerdem müssten wir uns bei ihm für seine Einladung revanchieren. Da wäre dein siebzigster Geburtstag ein hervorragender Anlass. Früher hatten wir häufig viele Freunde hier bei uns zu Gast. Ich denke gerne an diese Jahre des Aufbaus. Zwar gab viel Arbeit, aber wir genossen den Erfolg unserer Bemühungen. Unsere Empfänge und Abendessen waren in der ganzen Umgebung berühmt.
- Er schaute seine Schwester etwas verloren an als ob er verschwundene Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zurückholen müsste. Plötzlich leuchteten seine Augen für einen kurzen Moment: Die viele Mühe hat sich gelohnt. Wir haben es geschafft, haben eine große Firma aufgebaut und sind zu den geachtetsten Familien im Lande aufgestiegen. Die Periode des Aufbaus war eine schöne Zeit. Heute fürchte ich mich, unter Menschen zu gehen, es ist mir peinlich, wenn sie sehen, was aus mir geworden ist. Ich kann nichts dafür, kann meine linke Hand nicht richtig kontrollieren. Sie gehorcht nicht mehr meinem Willen. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst.
- Etwas mitleidig und zugleich etwas vorwurfsvoll blickte sie ihren Bruder an: Du arbeitest zu viel. Du solltest Dir ein paar Tage Erholung gönnen. Etwas Entspannung täte dir bestimmt gut. Mach ein paar Tage Urlaub, du hast ihn dir redlich verdient.
- Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab: Urlaub kann ich mir nicht leisten. Du weißt, wir haben große Probleme in der Firma, vor allem Produktionsschwierigkeiten bei unserem Hauptumsatzträger.
- Sie reagierte etwas genervt: Das ist die Aufgabe von Hinrich. Darum soll er sich kümmern. Viel wichtiger ist die Weiterentwicklung des neuen Medikaments gegen die Niereninsuffizienz: Vexalin. Diese Krankheit breitet sich rasend schnell aus. Wir benötigen das neue Medikament so schnell wie möglich. Das weißt du aus eigener bitterer Erfahrung.
- Wie weit seid ihr mit den klinischen Tests?
- Vielleicht sollten wir Julia selber fragen. Sie arbeitet zurzeit in unserem Münchner Institut.
- Dann lass uns zu ihr fahren.
- Sie wehrte energisch ab: Das was wir mit ihr zu besprechen haben, ist privater Art und gehört nicht vor die Ohren ihrer Mitarbeiter. Ich habe sie hierher bestellt. Hoffentlich wird sie gleich hier sein. Lass uns schon mal ins Haus gehen, es fängt gleich zu regnen an. Ich habe frischen Tee in den Salon bestellt. Er wird schon bereit stehen. Sie gingen in das schützende Haus, als der Regen kam. Blitze und Donner folgten Schlag auf Schlag. Und doch war es wie befreiend, weil die drückende Schwüle vergangen war. Sie blickten durch die Fenster, als der Regen wie in Sturzbächen vom Himmel fiel. Bäche auf den Wiesen wurden zu reißenden Strömen. Sie ergossen sich in den See.
In diesem Augenblick öffnete Julia die Tür und betrat den Raum. Wolfgang erhob sich etwas schwerfällig und ging ihr mühsam mit unsicheren Schritten entgegen.
- Willkommen zu Hause, begrüßte er sie auf das Herzlichste. Gut, dass du noch vor dem Regen gekommen bist. Man kann kaum etwas sehen.
- Setze dich zu uns, sagte Ingrid. Möchtest du einen Tee?
- Gern einen Eistee. Auf der Fahrt war es schwül und heiß.
Der Tee wurde gebracht.
- Du kommst gerade aus dem Institut? Wie weit seid Ihr mit der Entwicklung des Medikaments?, erkundigte sich Wolfgang ohne Umschweife. Es war klar, dass er von dem Medikament gegen die Niereninsuffizienz sprach. Darum drehte sich in den letzten Jahren alles. Es absorbierte Julias Denken und ihre ganze Konzentration.
- Das Medikament ist noch nicht für die uneingeschränkte Anwendung am Menschen freigegeben, erklärte Ingrid, damit Julia ihren Tee in Ruhe genießen konnte. Wir haben den Durchbruch noch nicht erzielt, aber wir tun, was wir können.
- Julia ergänzte: Wir arbeiten mit Hochdruck an der Auswertung der klinischen Tests. Aber wir haben nicht genügend Testmaterial. Die Ergebnisse sind statistisch noch nicht signifikant. Wir haben viele Patienten, die wir nicht richtig mit dem Wirkstoff versorgen können. Wir benötigen dringend eine größere Menge Vexalin insbesondere für die Tests in unserem Forschungsinstitut auf Nicaragua, wo wir den größten Teil der Tests durchführen.
- Wolfgang erkundigte sich: Wozu genau braucht ihr eigentlich die großen Mengen in Nicaragua?
- Es dient uns als Leitsubstanz zur Grundlage für die Tests auf schädigende Eigenschaften und auf unerwünschte Nebenwirkungen. Erst wenn die Tests befriedigende Ergebnisse gebracht haben, können wir die Leitsubstanz chemisch so optimieren, dass wir sie mit der Trägersubstanz koppeln können.
- Ingrid griff ein: Es geht darum festzustellen, wie die Substanz im Körper die bestmögliche Wirkung zeigt. Dazu muss sie an die richtige Stelle im Körper gelangen. Und sie muss ausreichende Zeit im Körper verbleiben, bevor sie abgebaut und ausgeschieden wird.
- Das ist mir schon klar, erwiderte er, aber warum werden die Tests in Nicaragua durchgeführt? Wir könnten sie auch hier in deinem Münchner Institut durchführen. Dann entfallen die langen Transportwege, und wir werden viel schneller zu Ergebnissen kommen.
- Seine Tochter fühlte sich angegriffen: Wie du weißt, hier in Deutschland können wir die Tests nicht mit der gewünschten Schnelligkeit durchführen. Hier müssen wir den gesamten bürokratischen Genehmigungsweg durchlaufen. Das dauert noch viel länger. Nach jeder Testphase benötigen wir eine neue Genehmigung. Die bekommen wir erst, wenn die bisherigen Testergebnisse vorliegen und ausgewertet worden sind. Du weißt, wie langsam unsere Behörden arbeiten.
- Ich weiß. Braucht ihr denn in Nicaragua keine Genehmigungen?
- Doch, aber die bekommen wir ganz schnell so unter der Hand. Sie machte eine kleine Bewegung mit der hinter dem Rücken geöffneten Hand. Da fließt schon mal ein kleines Handgeld unter dem Tisch.
- Davon will ich nichts wissen. Das musst du allein verantworten. Hoffentlich geht dabei nichts schief. Wir würden auch hier in große Schwierigkeiten kommen, wenn wir bei einem unserer Tests einen Unfall zu verzeichnen hätten. Schließlich sind es unsere Produkte. Wenn sich die Presse darauf stürzt, dann können wir auch hier unsere Sachen einpacken. Sieh zu, dass Ihr schnell damit fertig werdet. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.
- Wir arbeiten daran mit Hochdruck, das kannst du mir glauben, aber wir sind noch nicht so weit. Wir sind noch bei dem Verträglichkeitstest.
- Ungeduldig fragte Ingrid: Und wann beginnen endlich die Wirksamkeitstests? Die Zeit drängt. Unsere Patienten können nicht länger warten.
- Wir brauchen mehr Geld, um die Tests auf breiter Front durchzuführen. Mit den wenigen Tests dauert es zu lange. Erst wenn die Wirksamkeit unseres neuen Medikaments nachgewiesen ist, dann sind die großen Pharma-Unternehmen bereit, mit uns einen Kooperationsvertrag abzuschließen. Erst dann verfügen wir über die Mittel, mit denen wir die weitere Entwicklung des Medikaments, die Zulassung und Vermarktung finanzieren können.
- Ich kenne das Problem zur Genüge, sagte Wolfgang. Wir werden alles tun, um den Wirkstoff so schnell wie möglich in der geforderten Menge zu produzieren.
- Darauf warte ich schon seit langem, aber es passiert nichts, sagte sie mit leicht gereiztem Unterton. Sie nippte an ihrem Glas Tee, um sich etwas zu entspannen. Wir haben in Nicaragua viele Patienten, die alle unter dieser lebensbedrohenden Krankheit leiden. Viele Menschen sterben schon mit jungen Jahren, weil sie nicht genügend Medikamente zur Behandlung der akuten Fälle bekommen. Julia dachte sorgenvoll an die vielen leidenden Menschen. Ich muss so schnell wie möglich zurück, um mich den Testauswertungen zu widmen.
- Ganz kurz huschte Wolfgangs fragender Blick zu ihr: Du bleibst doch zu meinem Geburtstag? Hoffe ich.
- Ja, ich will deinen großen Geburtstag mit dir feiern. Deshalb bin ich hier.
- Das freut mich. Ich brauche dich hier in meiner Nähe. Mehr als du ahnen kannst.
- Ich weiß es, aber ich habe auch mein eigenes Leben. Du erinnerst dich: Wir haben die Gründung meines Instituts in Nicaragua gemeinsam beschlossen. Wir wollten die Tests in einem Land durchführen, in dem uns nicht so viele Behörden das Leben erschweren. Nun habe ich dort meine Heimat gefunden.
- Deine Heimat ist hier, beharrte Wolfgang mit Nachdruck, vergiss das nicht. Hier liegen deine Wurzeln. Und hier liegt auch deine Zukunft.
- Julia erhob sich: Lass uns nicht wieder davon anfangen. Das hatten wir doch schon mehrfach besprochen. Sie erhob sich abrupt und verließ verärgert den Raum.
- Du solltest nicht immer in dieser eiternden Wunde bohren, sagte Ingrid vorwurfsvoll. Du wirst sie nicht umstimmen können. Sie hat sich entschieden. Sie wird dort bleiben. Ich weiß auch nicht, was sie dort so bindet. Manchmal spricht sie von einem jungen Mann. Vielleicht ist das der Grund. Offenbar findet sie bei ihm ihre innere Ruhe und auch eine Geborgenheit. Hier fühlt sie sich von dir ständig gegängelt und kontrolliert. Das mag sie nicht.
- Vielleicht fehlt ihr die Mutter mehr, als wir es ahnen, sagte er mit einer gewissen Wehmut. Sie fühlt sich hier bei uns nicht richtig wohl.
- Ich habe versucht, ihr die Mutter zu ersetzen, soweit mir das möglich war. Offenbar konnte ich es nicht. Ich habe wohl versagt, sagte sie mit verhaltenem Wehmut, die auch einen gewissen Vorwurf erkenne ließ.
- Du hast bestimmt nicht versagt. Im Gegenteil, du hast ihr nach dem Tod ihrer Mutter das Leben gerettet. Das weiß sie genau, und sie ist dir dankbar dafür.
- In jedem Fall wäre es gut, sagte Ingrid etwas versöhnlich, wenn sie noch etwas hier bei uns bleiben würde, um unsere Forschungsergebnisse mit ihren Erkenntnissen aus den Tests in der Plantage abzugleichen. Ich würde gern gemeinsam mit ihr in meinem Krankenhaus an dem Forschungsprojekt arbeiten. Vielleicht kommen wir mit ihrer Hilfe schneller voran. In jedem Fall brauchen wir dringend eine größere Menge an den spezifischen Wirkstoffen. Die klinischen Tests zeigen noch keine eindeutigen Ergebnisse.
- Etwas hoffnungslos blickte er sie an: Aber wir können die benötigten Mengen Vexalin nicht produzieren. Eine Mischmaschine und eine Abfüllstation sind ist ausgefallen, wie du weißt.
- Sie bekam einen bitteren Zug um den Mund, als spuckte sie etwas aus, was ihr wie Galle auf der Zunge lag: Die Produktion ist Hinrichs Job. Darum muss er sich kümmern. Warum setzt du ihn nicht stärker ein? Du schonst ihn, das ist nicht gut für ihn. Ich sagte es dir schon des Öfteren: Du musst ihn ins kalte Wasser stoßen. Er ist jetzt fünf Jahre in deiner Firma in leitender Position beschäftigt und hat Produktionstechnik studiert. Er muss das können, du musst ihm mehr Verantwortung übertragen, musst ihn stärker fordern. Du bist zu nachsichtig mit deinem Sohn, er braucht eine starke Hand, die ihn sicher führt und leitet.
Er blickte etwas traurig und versonnen auf das Bild eines Flötisten, der in einem feudalen Saal vor gut gekleideten Menschen spielte. Es handelte sich um Friedrich den Großen, der im Schloss Sanssouci ein Konzert gab. Das Bild - eine Kopie des berühmten Gemäldes von Menzel - stammte aus dem Familienbesitz und weckte zwiespältige Gefühle in ihm. Gern hätte er seinen Sohn in der Rolle des großen Königs gesehen; sowohl als Musiker und gleichzeitig als erfolgreicher Feldherr. Die divergierenden Eigenschaften ließen sich also durchaus miteinander verbinden. Warum nicht also bei seinem Sohn?
- Sie erriet seine Gedanken: Hinrich ist nicht wie Friedrich der Große, er ist ein Träumer, er liebt nur seine Musik. Besonders Beethoven, Bruckner, Wagner und Brahms. In seiner gesamten freien Zeit übt er die Violinkonzerte, und in der letzten Zeit lässt er sich auch noch im Gesang ausbilden. Er hat eine schöne Tenorstimme, wie mir andere Musikliebhaber bestätigen. Du weißt, ich bin nicht sehr musikalisch, aber ich liebe die Musik. Sein Lehrer Paulsen meint, er könne bald als Solist in einem öffentlichen Konzert auftreten, zu Beginn vielleicht im kleineren Rahmen, zum Beispiel in einem Kirchenkonzert, um erste Erfahrung zu sammeln und sich einen Namen zu machen.
- Er nickte: Ja, ich weiß, Hinrich ist musikalisch sehr begabt, das hat er von seiner so früh verstorbenen Mutter, die aus einer angesehenen Musikerfamilie stammte, wie du weißt. Erneut versuchte er sich etwas mühevoll an Vergangenes zu erinnern: Als Hinrich noch in den Windeln lag, starb sie bei der Geburt von Julia an Kindbettfieber. Eine Amme hat ihn groß gezogen. Sie diente schon bei unseren Eltern und hat Musik studiert. Vielleicht hat er die Musikliebe mit der Muttermilch in sich aufgenommen.
- Sie wandte sich ab, strich sich über die Augen, als müsse sie eine hässliche Bilderserie fortwischen: Es war ein schreckliches Unglück. Ich war damals noch Oberärztin in der Klinik, die mir unser Vater ein paar Jahre später schenkte, und die ich bis heute leite. Ich war bei der Geburt anwesend. Zunächst schien alles gut gegangen zu sein, aber dann bekam sie während der unvollständigen Nachgeburt ganz plötzlich Kindbettfieber. Das Fieber breitete sich rasend schnell aus und führte zu heftigen Schock-Symptomen. Ihr Herz war nicht mehr in der Lage, den Kreislauf ausreichend mit frischem Blut zu versorgen. Damals konnten wir nichts mehr für sie tun, sie war zu schwach. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg.
- Er nahm ihre Hand, als wolle er sich mit ihr versöhnen: Ich weiß, dass ihr damals alles Menschenmögliche getan habt, um sie zu retten. Damit hast du der kleinen Julia das Leben gerettet. Du hast dich um sie wie eine Mutter gekümmert, hast ihr eine Amme besorgt. Letztlich hast du sie groß gezogen. Dafür ist sie dir ewig dankbar. Und ich bin es auch. Ich werde es dir nie vergessen.
- Sie ergriff etwas versöhnlich seine Hand, und doch war ein gewisser Vorwurf zu spüren: Deine Frau wurde viel zu früh schwanger. Du hättest ihr mehr Zeit lassen sollen, damit sie sich von der ersten Geburt erholen konnte. Sie hatte noch nicht abgestillt. Sie meinte, die Muttermilch sei gut für das Kind. Für Hinrich hat sie alles getan, sie hat ihn abgöttisch geliebt. Letztlich hat sie für ihn ihr Leben gelassen.
- Ziemlich abweisend sah er sie an: Machst du mir deshalb einen Vorwurf?
- Energisch schüttelte sie ihren Kopf: Nein, ich sage nur, Marion war zu schwach für ein zweites Kind so kurz nach der ersten Geburt. Sie hatte sich von der Entbindung noch nicht richtig erholt. Das ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung.
- Traurig und auch mit einem nicht ganz versteckten Vorwurf blickte er ihr in die Augen: Du magst recht haben, aber das war nicht die Ursache für ihren Tod. Im Krankenhaus habt ihr damals die strengen Hygiene-Vorschriften nicht richtig beachtet. Man hat später, als die Gerichtsmediziner die Ursache für ihren Tod erforschten, an vielen Stellen multiresistente Krankenhauskeime wie Staphylokokken und auch Streptokokken gefunden.
- Sie wandte sich ab als wolle sie den Gedanken verscheuchen: Wir wollen davon jetzt nicht sprechen. Jetzt geht es um dich, um deine Gesundheit und um die Rettung der Firma. Es geht auch um Hinrich, der wahrscheinlich irgendwann deine Nachfolge als Firmenchef antreten soll. Und es geht auch um Julia. Sie sollte stärker in die Firma eingebunden werden.
- Er nahm noch einen Schluck Tee: Daraus wird wohl nichts werden. Ich sagte es schon: Hinrich ist zu weich, kann sich nicht durchsetzen. Er hat nicht die notwendigen Eigenschaften für die Führung eines weit verzweigten Konzerns. Er kann nicht „nein“ sagen. Er ist zu sehr auf zwischenmenschliche Harmonie und Konsens ausgerichtet. Man kann nicht immer alle Konflikte vermeiden oder aussitzen. Manchmal sind harte Entscheidungen gefordert, auch wenn sie nicht allen passen. Er lässt seinen Mitarbeitern zu viel Freiheit. Bei ihm können sie machen, was sie wollen. Darum ist er auch so beliebt. Sie mögen ihn, weil er ist wie sie.
- Missbilligend schaute sie ihn an: Das liegt nur daran, dass du ihn immer hast gewähren lassen. Du hast die Zügel zu locker gelassen. Sein ganzes Leben konnte er tun, was er wollte. Bei dir kam er immer mit allem durch. Nie wollte er das lernen, was er lernen sollte. Jedes Mal hast du großzügig darüber hinweggesehen und meintest, er müsse aus seinen eigenen Fehlern lernen.
- Das ist auch so: Man kann nur aus seinen eigenen Fehlern lernen. Wenn es manchmal auch schmerzhaft ist.
- Nachdenklich nickte sie und bewegte dabei ihren Kopf leicht seitwärts, worin eine gewisse Skepsis zu erkennen war: Das mag im Prinzip richtig sein, aber jetzt lässt du ihn keine Fehler machen. Das ist nicht gut für ihn.
- Du weißt auch nicht, was du willst. Erst sagst du, ich sei zu weich und dann sagst du, ich würde ihn zu sehr gängeln. Also, was willst du nun eigentlich?
- Ich will, dass du das Richtige tust: Ernenne deinen Sohn zu deinem Nachfolger und schenke ihm Vertrauen. Du kannst die Firma nicht länger allein führen. Das sollte dir langsam klar werden.
- Mit leichtem Zittern erhob er sich und suchte Halt an der Lehne des Stuhls: Die Zeiten sind schlechter geworden, betonte er. Jetzt können wir uns keine Fehler mehr leisten. Wenn wir jetzt noch eine Reklamation bekommen, dann ist es aus, dann kann ich die Firma schließen. Wir haben keine Rücklagen mehr.
- Sie war bleich geworden: Steht es wirklich so schlecht um die Firma? Nach außen macht doch alles einen sehr guten Eindruck. Das repräsentative Verwaltungsgebäude wurde erst vor ein paar Jahren mit viel Pomp und öffentlichen Reden renoviert. Du wirst dich noch an die vielen Gratulanten erinnern. Sie beglückwünschten dich zu deinem eindrucksvollen Erfolg und zu deiner unablässigen Tatkraft. Unser Bürgermeister betonte die große Bedeutung des Gebäudes und der Firma für das historische Stadtzentrum. Es sei das sichtbare Zeichen für ein gut geführtes Familienunternehmen.
- Seine Hand umkrampfte die Lehne. Er zitterte am ganzen Leib. Die Erinnerung schien ihn zu überwältigen. Er suchte Halt: Das ist schon fast eine Ewigkeit her. Schwierige Zeiten liegen hinter uns. Jetzt steht es nicht gut um die Firma. Ich selbst weiß kaum noch Rat.
- Fürsorglich führte sie ihn wieder zu seinem Sessel zurück: Vielleicht solltest du dir einen professionellen Berater suchen. Es gibt viele große Beratungsfirmen mit internationaler Erfahrung. Die kennen sich aus mit strategischer Reorganisation und Rationalisierung. Viele große Firmen nutzen ihr Know-how. Wir haben kürzlich beim Graf den Berater Konselmann kennengelernt. Er hat dir doch gefallen, wenn ich mich recht erinnere?
- Er leerte seine Tasse Tee, die inzwischen kalt geworden war: Das stimmt schon, der Berater machte einen guten Eindruck auf mich, aber ich möchte jetzt nicht auf externe Berater zurückgreifen. Es wäre ein Eingeständnis meiner Schwäche. Ich war immer stark, brauchte keinen Rat von anderen. Ich wusste immer, was ich tun musste. Vater hat mir mit jungen Jahren die Firma anvertraut. Aus der kleinen chemisch-pharmazeutischen Firma habe ich eine Firma mit Weltgeltung gemacht. Ich war immer auf mich allein gestellt und habe mich auf mein Urteil verlassen. Ich brauchte keinen Rat von irgendjemandem. Damit bin ich gut gefahren.
- Sie erhob sich: Möchtest du noch einen Tee?
- Nein danke. Ich trinke lieber ein Glas Wein. Das erfrischt meinen Geist und beruhigt meine Nerven. Er ging zum Glasschrank, in dem er richtig temperiert seinen bevorzugten Wein aufzubewahren pflegte.
- Sie schenkte sich den Tee aus der Meißener Porzellankanne ein: Du musst selber wissen, was für dich gut ist. Vergiss nicht, du bist nicht mehr der Jüngste. Der Wein ist nicht gut für deinen hohen Blutdruck. Auch schädigt er Niere und Leber. Du solltest vernünftig sein.
- Unbeirrt nahm er einen Schluck von dem feurigen Wein, indem er das Glas mit beiden Händen hielt, damit er von dem köstlichen Rebensaft nichts verschüttete und ließ seine Gedanken zurückschweifen: Es waren damals andere Zeiten. Vater war ein genialer Forscher, besaß einige Patente, die ihm viel Geld einbrachten, die aber später ausliefen. Er setzte weiterhin auf Forschung und auf die Entwicklung neuer Medikamente. Aber das kostete viel Geld. Im Laufe der Jahre geriet die Firma in finanzielle Schwierigkeiten.
- Ich erinnere mich noch lebhaft an die Zeit: Vater war verzweifelt. Er konnte kaum noch schlafen, dachte ständig über Auswege aus der schwierigen Situation nach. Er wollte den Niedergang seiner Firma nicht wahrhaben. Vor allem wollte er niemanden entlassen. Er betrachtete seine Mitarbeiter als Teil einer großen Familie.
- Ich habe mich damals nach längerem internem Kampf gegen ihn durchgesetzt. Ich schlug ihm vor, auf der grünen Wiese eine Tochtergesellschaft mit neuen Produktionsanlagen zu gründen, die Generika produzierte. Das war unsere Rettung, denn mit dieser Firma verdienten wir wieder Geld. Wir mussten zwar die Verkaufspreise reduzieren, aber wir sparten die enormen Entwicklungskosten. Wir mussten nur die besten Produktionsanlagen haben. Die lieferte uns die Firma Pauli. Unsere Medikamente waren am Markt sehr erfolgreich, sie entsprachen den strengsten Vorschriften. Unsere Werbekampagne war ausgezeichnet. Wir trafen genau ins Schwarze, genau auf den Punkt. Die Kunden rissen sich förmlich um unsere Medikamente: Jeder fand bei uns das passende Mittel entweder gegen Kopfschmerzen, gegen Erkältung, gegen Muskelschmerzen oder was sonst noch so an allgegenwärtigen Wehwehchen zu bekämpfen war.
- Das war eine ausgezeichnete Idee von dir. Voller Bewunderung nickte sie ihm zu als wenn sie sagen wollte: Macht’s noch einmal.
- Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sich an die alten Zeiten erinnerte: Dann begann erneut der Aufstieg. Wir sahen unseren Vater wieder scherzen und lachen. Er kannte viele schnurrige Geschichten, die er aus seinem unerschöpflichen Vorrat von Anekdoten hervorholte. Das waren gute Zeiten. Es lief alles vor dem Wind. Wir stiegen zu den ersten Familien in unserem Lande auf, waren in der Stadt und im ganzen Land sehr angesehen.
- Er richtete sich auf, als wolle er eine Rede halten: Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als mich Vater zum Geschäftsführer dieser Gesellschaft ernannt hat?
- Sie strahlte: Ja, ich erinnere mich genau an den Tag: Es war an Vaters 50en Geburtstag: Er hatte viele Freunde zu einer großen Feier in dieses Haus eingeladen. Alles was Rang und Namen hatte, war anwesend. In der Eingangshalle war eine große Tafel gedeckt. Onkel Otto saß neben dir und stupste dich gleich nach der Vorspeise an und flüsterte dir zu: Wolfgang, steh auf und halte eine Rede auf deinen Vater.
- Er zog die Augenbrauen hoch als müsse er sich konzentrieren: Ich erinnere mich genau: Ich war irritiert und auf eine Rede nicht vorbereitet, aber ich erhob mich, knöpfte mein Jackett zu und klopfte an mein Glas. Mir zitterten die Hände, weil ich so aufgeregt war. Es war fast so wie jetzt. Und dann kam mir die rettende Idee: Ich streifte kurz die Firmengeschichte, die Vater kurz zuvor aufgeschrieben hatte. Ich hatte sie im Kopf. Du weißt, ich konnte damals gut auswendig lernen, zum Beispiel Gedichte, die wir zu Weihnachten unter dem Tannenbaum aufsagen mussten. Das trainierte das Gedächtnis. Diese Fähigkeit hat mich damals gerettet.
- Aufmerksam blickte sie ihren Bruder an: Ich sehe dich noch vor mir stehen, als du mit deiner Rede begannst: Du warst ziemlich bleich, und ich hatte Angst, dass du den Faden verlieren würdest, aber du kamst gut durch, und zum Schluss brachtest du einen Toast auf unseren Vater aus: „Unser Vater lebe hoch, hoch, hoch, er lebe hoch!“ Alle Gäste fielen ein und sangen mehr schlecht als recht, aber voller Inbrunst. Es folgte ein begeisterter Applaus. Du warst der Star der Gesellschaft. Und alle Anwesenden fragten dich, wann du in die Firmenleitung eintreten würdest. Und du hast geantwortet: Sobald Vater das will. Ich bin bereit, das schwere Erbe zu übernehmen. Ich will versuchen, mich als sein würdiger Nachfolger zu erweisen.
- Wolfgang hatte seiner Schwester aufmerksam zugehört als müsse er die Erinnerung von weither holen. Er blickte nachdenklich und traumverloren auf das Bild einer Produktionsfirma mit einigen rauchenden Schornsteinen, das neben dem Kamin hing. Er kämpfte gegen seine eigene Rührung: Tatsächlich fragte mich Vater ein paar Monate später, ob ich sein Teilhaber werden wollte, erinnerte er sich. Ich habe ja gesagt. Es war genau das, was ich wollte. Ich wollte das Erbe meiner Vorfahren antreten und das Werk erfolgreich weiter entwickeln. Ich wollte die Firma größer und weltweit bedeutend machen. Ich wollte Produkte auf den Markt bringen, die internationale Anerkennung brachten, die den Menschen bei ihrer Krankheit helfen könnten und die auch für die Menschen der Dritten Welt erschwinglich sein sollten.
- Sie fügte hinzu: Du hast es geschafft, hast die Firma jahrelang erfolgreich geführt. Und das wirst du auch noch weitere Jahre tun müssen, wenn du dir nicht rechtzeitig einen Nachfolger aufbaust. Das wird nach den derzeitigen Umständen ziemlich bald geschehen müssen. Du weißt, genau daran scheitern viele Familienunternehmen.
- Wolfgang erhob sich und blickte auf die Uhr: Ich werde das entscheiden, wenn es so weit ist, sagte er. Es war zehn nach zehn Uhr, die Zeit zu Bett zu gehen. Diese Form der Regelmäßigkeit war ihm zur zweiten Natur geworden. Er hatte die Gewohnheit von seinem Vater übernommen.