Читать книгу Lu, die Kokotte - Artur Hermann Landsberger - Страница 10

VII.

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Am 20. Dezember kam Harry mit Aletto nach Berlin. Frau Fanny und Luise erwarteten sie an der Bahn.

Aletto war rot und verlegen wie ein Knabe, als er Luise die Hand reichte. Sie sah ihm fest in die Augen, und er sah zur Erde — beschämt wie ein Kind.

„Gratulier’ ihm!“ rief Harry seiner Schwester zu. „Er hat auf der Weihnachtsausstellung den ersten Preis für das Porträt eines jungen Mädchens erhalten; etwas ganz Außergewöhnliches für einen Dreißigjährigen. Aber das Bild hat’s verdient.“

Harry ließ die Mutter los, trat zu Luise und sah ihr ins Gesicht.

„Teufel, ja!“ rief er. „Du bist dem Bilde in den paar Monaten wahrhaftig ähnlich geworden. Aber so sahst du früher nicht aus.“ Er ließ nicht einen Blick von ihr. „Wie ist denn das nur möglich, in den paar Wochen?“

„Laß sie nur!“ sagte die Mutter. „Sie hört es nicht gern.“

Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren nach Hause.

„Es ist kalt bei euch geworden“, sagte Harry, als er durch die Räume schritt.

„Der gute Vater fehlt“, meinte Frau Fanny.

„Gewiß!“ bestätigte Harry. „Aber auch ihr seid anders, als ihr früher war’t. Es ist, als wenn mit ihm alles Leben hier ausgelöscht wäre.“

„Es sind kaum drei Monate, daß er tot ist“, vermittelte die Mutter.

„Aber ist denn gar nichts von ihm zurückgeblieben!“ rief er ganz verzweifelt. „Es ist, als wenn er nie gewesen wäre!“

„Wir haben genug geweint!“ klagte Frau Fanny.

„Das hat er nicht gewollt“, sagte er vorwurfsvoll. „Ihr mußtet euch wehren. Dazu gehört mehr Kraft! Wie ich es tat; mußtet gegen eure trüben Gedanken ankämpfen, statt sie weiterzuspinnen. Vor allem du, Luise, mußtest dir deinen frohen, heiteren Sinn erhalten, den er so an dir liebte.“

Luise sprach kein Wort. Er nahm ihre Hand und sagte: „Es war Zeit, daß ich kam. Nun aber bleibe ich und gehe nicht eher, als bis du wieder die Alte bist.“

Dann ging er auf sein Zimmer.

Sie saßen am dritten Nachmittage oben im Atelier des Vaters: Luise, Harry und Aletto.

Auch heute gelang es Harry wieder, die Lebzeit des Vaters so deutlich zu gestalten, die Atmosphäre so völlig mit der Wärme seines Herzens zu erfüllen, daß die Erinnerung in allen gegenständlich wurde.

Und indem so Vergangenes gegenwärtig wurde, fühlte man auch die Empfindungen von damals wiederkehren. Und die hielt er fest, belebte und vertiefte sie, bis aus ihnen alte Hoffnungen neu erwachten.

Dann kam es, daß sich Luises Starrheit löste, ihre Augen lebten, ihre Träume wiederkehrten, und ein Bild ihrer Zukunft erstand, ganz wie damals, als der Arm des Vaters sie umschlungen hielt.

Und Aletto stand vor ihr mit leuchtenden Augen, schüchtern wie ein Knabe, nahm sie leicht am Arm, kaum daß sie’s merkte, und gelobte still, daß er sie lieben werde bis an sein Ende.

Und am dritten Tage stürzte er vor sie hin und sagte ihr alles; leidenschaftlich mit vielen Worten.

„Du bist die Erfüllung!“ hauchte sie nur; fuhr ihm mit der Hand übers Haar, sah ihm tief in die Augen: „Du! — Ja, ich liebe dich!“

Dann plötzlich — als wäre ein Blitz in sie gefahren — fiel alle Freude von ihr ab; wich alle Spannung; die Augen stierten glanzlos; starr wie in Todesangst; das Gesicht wurde aschgrau, zuckte und verzerrte sich; der ganze Körper geriet in zitternde Bewegung; sie spreizte die Finger; riß die Lippen auseinander — wollte schreien. Kein Ton kam — alle Glieder wurden steif, sie schlug wie ein Brett nach vorn über und blieb regungslos liegen.

Sie trugen sie in ihr Zimmer und legten sie auf die Chaiselongue. Es dauerte wohl eine Stunde, ehe die Besinnung wiederkehrte. Sie lehnte den Arzt ab; bat so dringend, Aletto zu sprechen, daß man ihn zu ihr ließ.

Aletto kam, ängstlich um sie besorgt, und konnte doch das Glück nicht unterdrücken. Sie hatte ihm ja gesagt, daß sie ihn liebte — sie hatte ihn „du“ genannt.

„Ganz dicht neben mich müssen Sie sich setzen — es darf uns niemand hören“, sagte sie.

Aletto nahm ein Kissen; trug es vor die Chaiselongue und setzte sich zu ihr.

„Sie müssen mich ruhig anhören. Ganz bis zu Ende! Versprechen Sie mir das?“

„Wie können Sie zweifeln?“ gab er zur Antwort.

„Ich muß Ihnen wehe tun“ — er erschrak — „aber ich habe Sie lieb.“

Er nahm ihre Hand und wollte sie küssen; aber sie zog sie zurück.

„Hören Sie mich an!“ und nun begann sie:

„Der Vater starb ...“ und sie schilderte ihm den ganzen Jammer, der hinter ihr lag.

„Und nun wissen Sie’s!“

Aletto schluchzte wie ein Kind; er saß vor ihr auf den Knien und preßte den Kopf in die Hände:

„Sie tun mir leid“, sagte sie; dann richtete sie Alettos Kopf hoch und sah ihm voll Rührung in die Augen.

„Bin ich Ihre erste Liebe?“ fragte sie zaghaft.

Er sah sie groß an und nickte.

„Ja!“

Da ließ sie seinen Kopf los, wandte sich zur Seite und weinte bitterlich.

Auch er war ja der erste, den sie liebte!

Nach einer Weile sagte sie: „Es ist sehr schwer für mich, daß ich Ihnen so wehe tun muß; ich hätte Sie lieber glücklich gemacht — — aber Sie sind jung; Sie werden es verwinden.“

Doch Aletto dachte nicht an sich.

„Was müssen Sie durchgemacht haben!“ klagte er.

Sie setzte sich auf, bewegte leicht den Kopf und hauchte: „Ja! — Ich habe gelitten.“

„Sie müssen hier heraus — so schnell wie möglich — weit fort — wo Sie nichts erinnert.“

Sie sah ihn mit Augen, in denen kaum noch Leben lag, an und sagte mit einer Stimme, die schwer und müde war:

„Sie vergessen — ich kann nicht — ich bin gebunden!“

Er wandte sich ab.

„Steigt Ihnen nun der Ekel auf?“ fragte sie. „Und wenn es ginge: es wäre zu spät.“

Aber Aletto widersprach:

„Kein Mensch, der fühlt, kann Sie verurteilen .. Sie haben sich aufgeopfert!“

„Gewiß!“ sagte Luise. „Aber ich habe mehr getan: ich habe mich aufgegeben. Glauben Sie nur, es ist zu spät; — ich weiß das — ich fühle das!“

„Sie müssen vergessen!“ sagte er. „Sie brauchen jemand, bei dem Sie sich alles vom Herzen weinen, bis die toten Gefühle wieder lebendig werden; einen Menschen, der Sie lieb hat, brauchen Sie.“

Sie schüttelte den Kopf, sah ihn wehmütig an:

„Sie sind ein Kind!“ sagte sie.

„Möglich; aber ich fühle, daß meine Liebe zu Ihnen stark genug ist.“

Weiter kam er nicht. Sie sprang auf, stürzte auf ihn zu:

„Aletto!“ schrie sie; „wissen Sie, was Sie reden? Begreifen Sie, was das bedeutet? Bringen Sie mich nicht ganz um meinen Verstand.“

„Ich liebe Sie!“ wiederholte er mit großer Bestimmtheit.

„Wollen Sie mich zu Ihrer Frau machen — sind Sie bei Sinnen? Ich sagte Ihnen doch, was mit mir vorgeht — daß ich für Geld — nicht einmal — Dutzende von Malen — daß ich beschmutzt bin, da — bis oben hin —“

„Das sind Sie nicht!“

„Ich bin es!“ rief sie.

„Nicht für mich“, gab er zur Antwort.

„Aber für die Welt!“

„Was liegt an der!“ erwiderte Aletto.

„Sie leben in ihr.“

„Ich brauche sie nicht!“

„Das ist eben Ihr Irrtum! Sie brauchen sie wie jeder andere auch. Ja! Eine Strecke lang — heute und morgen, da geht’s ohne sie. Aber eines Tages, da kommt die Reaktion. Bei einem früher, beim andern später! Aber sie kommt!“

„Dann werde ich der erste sein!“ beteuerte er.

„Das hat schon mancher gedacht.“

„Ich will doch sehen,“ sagte er trotzig, „ob ich mir meine Eigenart der Welt gegenüber nicht erhalten kann!“

„Schwärmer!“ sagte Luise. „Bisher ist noch jeder daran gescheitert, der den Versuch nicht rechtzeitig aufgegeben hat.“

Und nach einer kurzen Weile fuhr sie fort:

„Das ist ja gerade die große Traurigkeit im Leben, daß Sie und ich und wir alle, die wir mit unserer Eigenart nicht recht hineinpassen in diese Welt, uns schließlich doch in irgendeiner Form in sie hineinzwängen müssen.“

„Es gibt Ausnahmen!“ warf Aletto ein.

„Es gibt keine!“ sagte sie bestimmt. „Wenn es je einen Menschen gab, der unbekümmert um die Welt sein Leben lebte, so war’s mein Vater. Sie kannten ihn. Und was war der Schluß?“ Sie änderte ihre Stimme und sprach ruhig: „Ich hätte es nie geglaubt — aber als es darauf ankam, versagte auch er — so weit reichte sein Mut nicht, die öffentliche Ächtung ertrug er nicht.“ — Sie machte eine Pause. — „Und was er zurückließ?“ — Sie zuckte leicht zusammen und wies auf sich: „Es steht vor Ihnen — wenn er mich heut so sähe, ich glaube nicht, daß er gegangen wäre ... Er würde die Welt mit anderen Augen sehen — wie ich sie anders sehe — seit jenem Tage ... da ich das wurde, was ich heute bin.“

Aletto wandte sich ab.

„Und nun denken Sie, es wäre Ihr Kind, das so vor Ihnen stände, wie ich jetzt ... das so wurde, weil Sie ...“ — weiter sagte sie nichts — „was würden Sie tun?“

Aletto fuhr zusammen. „Ich würde mich umbringen!“ schrie er leidenschaftlich.

Um Luises Mund zuckte ein Lächeln. „Und die Frau wollen Sie zur Mutter Ihrer Kinder machen?“ fragte sie bitter.

Aletto blieb die Antwort schuldig.

„Sehen Sie’s nun? Aber sprechen wir heute nicht weiter“, sagte sie.

„Und morgen?“ fragte er treuherzig.

„Wenn Sie dann noch wollen; ich tue gern alles, um Ihnen über die Enttäuschung hinwegzuhelfen.“

„Ich will!“ sagte er mit großer Bestimmtheit. „Denn ich werde morgen nicht anders denken als heute“

Er griff nach ihrer Hand.

„Einen Augenblick noch“, bat sie ihn. „Denn nun muß ich Ihnen auch sagen, weshalb ich Ihnen das alles erzähle.“

Aletto verstand sie nicht.

„Ich habe nämlich eine große Bitte“, sagte sie.

„Sie dürfen von mir fordern, was Sie wollen“, erwiderte Aletto.

„Sie besitzen Vermögen?“ fragte sie ihn.

„Genug, um ganz meiner Kunst leben zu können.“

Luise war enttäuscht. „Dann wird es freilich kaum möglich sein“, sagte sie.

Aber Aletto hatte längst ihre Gedanken erraten.

„Es ist nicht nur möglich, es ist gewiß!“ sagte er freudig.

„Was?“ fragte Luise erstaunt.

„Ich gehe noch heute zu diesem Kommerzienrat! Ich übernehme alles! Sie sehen mich erst wieder, wenn das geordnet ist“, rief er ganz glücklich, nickte ihr zu und ging.

Luise stand und sah ihm nach und rührte sich nicht.

„Hätte ich doch an ihn gedacht!“ schluchzte sie.

Lu, die Kokotte

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