Читать книгу Lu, die Kokotte - Artur Hermann Landsberger - Страница 8

V.

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Frau Fanny war mit dieser Regelung sehr zufrieden. Von allen Verwandten war ihr der Geheimrat Walther immer noch der liebste, denn er allein hatte hin und wieder so etwas wie einen großen Zug — im Gegensatz zu jener philiströsen Korrektheit und Beengtheit, die ihr an dem Oberlehrer und Professor so zuwider waren.

Auch daß sie den Geheimrat wie die übrige Familie erst am Tage, an dem Luises Verlobung mit Kommerzienrat Mohr offiziell wurde, Wiedersehen sollte, war ihr sympathisch. Denn an diesem Tage — so glaubte sie — zahlte Mohr alles Geld, das der Geheimrat verauslagt hatte, zurück, so daß sie kaum noch nötig hatte, sich besonders bei ihm zu bedanken.

Wofür auch? Bürgte ihm Mohr doch selbst für den Fall, daß diese Verlobung aus irgendeinem Grunde zu keiner Ehe führte. Und darin lag für sie der beste Beweis für die große und aufrichtige Liebe ihres Schwiegersohnes, der bei der Launenhaftigkeit und Jugend Luises durchaus mit dieser Möglichkeit rechnen mußte.

Bis zur offiziellen Verlobung durfte Mohr auf Luises Wunsch und sehr gegen den Willen der Mutter ihr Haus nicht betreten und mußte alles, was er in seiner Eigenschaft als Vormund zu verrichten hatte, auf schriftlichem Wege erledigen. Nicht einmal sprechen durfte sie von ihm, wenn Luise nicht selbst davon anfing; das hatte sie ihrer Tochter versprechen müssen; und die hatte es damit begründet, daß ja nicht einmal Harry etwas von dieser Verlobung wußte.

Luise aber hatte keine ruhige Stunde mehr. Daß sie ihr ganzes Leben nun auf eine große Lüge stellte, drückte sie nicht. Das machte sie gern mit sich ab. Denn Lügen war hier gleichbedeutend mit Sich-Opfern; und sie wußte, daß dies Opfer in dem Augenblick seinen Zweck verlor, in dem die, denen es galt, darum wußten.

Was ihr geschehen war, das konnte ja nie ein Mensch begreifen; selbst die Mutter nicht. Wenn sie jetzt an ihr Herz flog und ihr alles erzählte, ihr sagte, was sie litt — die würde es aufnehmen, wie es eben eine Mutter aufnimmt; würde es für ihre Pflicht halten, zu begreifen, zu verzeihen, zu trösten, wiederaufzurichten. Ja, es wäre jene große, tragische Szene, die sie aus dem Leben, aus Dramen und Romanen kannte, bei der jede gute Mutter ihre große Stunde hat, in der sie sich für wenige Augenblicke über das Alltägliche erhebt und zur Tragödin wird.

Aber im Leben war am Ende doch immer die Mutter die Gerührte. Entweder das Kind war glücklich in seiner Sünde, dann stürzte es sich nur um so freier in die Arme des Geliebten; oder aber in ihm war etwas gebrochen; und dann konnte auch alle Rührung einer Mutter nichts mehr helfen.

Und was konnte von dem, was ihr geschehen war, die Mutter begreifen? Sie hatte einmal ein Buch voll Grauen gelesen, in dem die Heldin das Produkt eines Mörders und einer Dirne war. Als auf dem Richtplatz die Henker nach verzweifelter Gegenwehr den Mörder niederrangen und er sich verloren sah, da hatte dieser gewalttätige Mensch, der im Leben nie eine Rührung kannte, wie ein gequältes Kind dreimal, ehe der Kopf fiel, laut „Mutter!“ geschrien! Und allen, die herumstanden, Staatsanwälten, Richtern, Zeugen, Henkern und deren Knechten war es kalt über die Rücken gelaufen.

Als dieser Mohr über sie herfiel, da hatte sie sich triebmäßig zur Wehr gesetzt. So fest sie entschlossen war, alles zu ertragen; sie hatte jede Macht über ihren Willen verloren und wie eine Verzweifelte gekämpft, die um ihr Leben rang; zwecklos, das wußte sie; und sie hätte auch jede Hilfe, die sich zu ihrer Befreiung bot, zurückgewiesen.

In ihrer höchsten Not hatte sie, kaum noch bei Bewußtsein, den Kopf gehoben und mit zitternder Stimme: „Vater, Vater!“ gerufen.

Sie fühlte deutlich, daß in diesem Augenblick etwas in ihr zerbrach. Ihre Augen standen unbeweglich; aber die Tränen, die sie weinte, flossen ins Herz. Ihre Mädchenträume, an denen sie mit großer Liebe hing und an die sie noch nach des Vaters Tode mit der ganzen Tiefe eines unschuldsvollen Herzens glaubte, begrub sie in dieser Stunde, in der sie deutlich fühlte, daß sie eine andere wurde.

Alles, was sie im voraus gelitten hatte, verblaßte neben der Wirklichkeit.

Luise wußte nun, wie einem Menschen in der Stunde seiner Hinrichtung zumute war. Eine Abschlachtung war es gewesen; alles, was in ihr an Stolz, Mut, Freude, Hoffnung lebte, war tot. Jedes unmittelbare Gefühl erstorben. Sie konnte wohl noch anderen nachempfinden; sich auch im Geiste vorstellen, wie dieser oder jener Vorgang auf sie wirken würde, wenn sie noch die wäre, die sie damals war; ohne Mittelung des Verstandes aber war sie keines Gefühls mehr fähig.

Das schlimmste aber war: jedesmal, wenn sie wieder zu ihm mußte, ging sie mit dem Bewußtsein völliger Empfindungslosigkeit. Jedesmal aber verstand er es von neuem, sie zu peinigen und zu quälen. Und indem er klug berechnend gerade das, was sie am meisten an ihm haßte, bei jeder Begegnung fast unmerklich steigerte, brachte er sie jedesmal von neuem in Aufruhr und reizte sie dann so lange, bis sie sich in hellem Zorne doch wieder gegen ihn auflehnte. —

Und diese Qualen, von denen der Tod den armen Sünder für immer befreite, litt sie nun, so oft sie zu ihm ging, von neuem.

Die Mutter, die ihr elender Zustand erschreckte, drang darauf, daß der Hausarzt kam und sie untersuchte.

„Ersparen Sie sich die Mühe,“ sagte Luise ihm und heuchelte Glück, „ich will es Ihnen verraten — aber Sie dürfen der Mutter nichts sagen ...“

„Ich weiß schon,“ lächelte der Arzt und Weltmann, „Sie haben einen Geliebten.“

Luise nickte, sah zu Boden: „Ja!“ sagte sie leise — „ich habe einen Geliebten.“

„Sie dürfen sich auf meine Diskretion verlassen. Natürlich werde ich etwas verordnen“ — er streifte mit zwei Fingern die Augenlider nach unten — „Eisen, das kann auf keinen Fall etwas schaden. Aber“, fügte er mit ernster Miene hinzu und fühlte den Puls, „Sie dürfen dem Genuß, den ich Ihnen bei der nötigen Vorsicht ja gewiß gönne, nicht Ihre Gesundheit opfern. Ich begreife ja durchaus, zumal wenn man jung und leidenschaftlich ist; aber Maß, meine teure Freundin; das Leben ist lang, und man soll sich die Freuden deshalb auch möglichst lang erhalten.“

Dann verabschiedete er sich; ging vor zur Mutter, die ihn mit ängstlichem Gesicht erwartete.

„Nun, was fehlt ihr? Ist sie krank? — Um Himmels willen, Sie machen ein so ernstes Gesicht.“

Der Sanitätsrat setzte wieder das überlegene Lächeln des Weltmannes auf, faßte Frau Fanny leicht um die Schulter und beruhigte sie.

„Sorgen Sie dafür, daß Ihre Tochter bald unter die Haube kommt; für ihr Leiden gibt es nur ein Mittel, die Ehe.“

Dann ging er.

„Gott sei Dank!“ sagte Frau Fanny laut und holte tief Atem. Und in Gedanken setzte sie hinzu: Wie gut sich das doch alles fügt; sie dachte an Mohr; er wird sie schon glücklich und gesund machen. —

Manchmal vergingen Tage, ohne daß Luise ihn sah.

Dann kamen wohl Stunden, in denen sie sich nach ihrem früheren Leben sehnte. Alles lebte dann wieder auf, was längst vergessen war; die langen Sommertage im Atelier des Vaters; sie hatten ja beide das Leben so lieb und konnten sich mit allem freuen wie die Kinder. Wenn es dunkel wurde, und Vater hatte nicht mehr Licht genug zur Arbeit, dann stiegen sie zum Dachgarten hinauf, saßen und schwiegen — über sich den Himmel, unter sich die Riesenstadt; ersannen Geschichten, die sie sich gegenseitig erzählten, die von Menschen handelten, die das Glück suchten und es immer fanden, wenn sie sich selbst nur treu blieben. Das schien so einfach und natürlich, daß sie fest daran glaubte und gar nicht dachte, daß es je anders kommen könnte. Daher die Feiertagsstimmung, in der sie lebte; daher die leuchtenden Augen und das freudvolle Herz, das sich nie die Zeit verwünschte und geduldig hoffte.

Häufig brach der Vater, der die Gedanken seines Kindes kannte, das Schweigen mit den Worten:

„Wer wird es werden? Doch ein Künstler?“

„Hoffentlich!“ gab sie zur Antwort. „Denn wenn es ein Mensch ist, der in Zwang und Vorurteilen steckt, dann paßt er nicht zu dir und zu Harry.“

„Und zu dir?“ fragte der Vater.

„Wie sollte er zu mir passen, wenn ihr euch nicht versteht?“ fragte sie treuherzig.

Und wenn der Vater die Arme um sie legte und die Zukunft malte und erzählte, wie nur er erzählen konnte, so daß man alles glauben mußte, was er sagte, dann gab es keine Zweifel mehr, dann gewann alles Gestalt, dann schien, was sie hoffte und sann, der Erfüllung nahe.

An alles das dachte Luise mit so großer Innerlichkeit, daß sie erst jetzt den Brief bemerkte, den der Diener vor sie auf den Tisch gelegt hatte.

Von Harry! Sie griff danach und hing dabei noch ganz in ihren Gedanken; öffnete und las:

Liebe!

Denke Dir, mein Freund, der junge Aletto, von dessen Begabung schon der gute Vater so große Stücke hielt, — der sich mit soviel Güte und Herz müht, mir über alle Traurigkeit hinwegzuhelfen, dieser prächtige Aletto, ohne dessen Freundschaft ich jetzt, wo ich Euch allein und traurig weiß, die Trennung kaum ertragen würde — dieser Aletto liebt Dich!

Ich hatte es längst gemerkt. Wenn wir des Abends beisammensaßen und mit dem Essen fertig waren, ohne daß von Dir die Rede war, dann wußte ich schon immer: jetzt bringt er das Gespräch auf irgendeine, oft recht ungeschickte Art auf Dich. Ich muß ihm dann von Dir erzählen — oft bis in den Morgen hinein, und er sitzt dabei und sieht mich an mit Augen, in denen sein ganzes Herz liegt.

Du weißt, ihm allein gebe ich mich, wie ich bin. Und Du begreifst daher, daß er auf diese Weise manches Gute über Dich zu hören bekam. Ich wollte schon, als ich jetzt in Berlin war, mit Dir davon sprechen. Aber der traurige Anlaß und die kurze Zeit schienen mir ungeeignet.

Als ich wieder nach Rom kam, holte er mich von der Bahn, und in seinen Augen standen tausend Fragen nach Dir. Und so sagte ich ihm — ehe er mich fragte: „Es geht ihr gut.“

Aber ich merkte schon, als wir vom Bahnhof aus zu mir nach Hause fuhren, daß er irgendeine große Freude mit sich herumtrug, und daß es ihm schwer fiel, mir nicht davon zu sprechen.

Je näher wir zur Villa kamen, um so deutlicher sah ich es.

„Laß mich vorausgehen“, sagte er, als wir zu Hause waren. Er riß alle Vorhänge auf, schob die Gardinen zur Seite und führte mich vor eine Staffelei, auf der in Lebensgröße .... Dein Bild hing. Er hatte es, während ich fort war, aus dem Gedächtnis, mehr wohl noch aus dem, was ich ihm von Dir erzählte — denn Ihr saht Euch ja nur ein einziges Mal — auf die Leinewand gebracht.

„Wer ist’s?“ rief er. Ich sah ihn nie strahlender, obschon so etwas wie ein Bangen in seinen Augen lag; er sorgte, ich könnte Dich nicht erkennen.

„Sie!“ sagte ich nur, und er drückte mir die Hand und sagte mit Tränen in den Augen:

„Nicht wahr, so sieht sie aus?“

Ich habe nie ein Bild gesehen, in dem mehr Seele lag. Ich habe Stunden vor diesem Bilde gestanden; und so wenig ähnlich es mir im ersten Augenblicke schien — ich kann seitdem nicht mehr an Dich denken, ohne daß in meiner Vorstellung dies Bild aufsteigt.

Und dann sprach er zum ersten Male ganz offen mit mir von seiner Liebe.

Du sollst ihn genau kennen lernen und Dich dann entscheiden; ganz unabhängig von unserer Freundschaft; unabhängig auch von seinem Namen und seiner Kunst, die in so vielem an die unseres guten Vaters erinnert. Du sollst in ihm nur den Menschen sehen, obschon der ja von seiner Kunst kaum mehr zu trennen ist.

Weihnachten will er mich nach Berlin begleiten; jetzt ist der Oktober noch nicht zu Ende. Du hast Muße, Du Gute, Liebe, Dich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Ich küsse Dich in brüderlicher Liebe!

Harry.

Das also war das Glück!!

Es kam zu spät. — Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Denn nun fühlte sie deutlich, daß es für sie gestorben war.

Lu, die Kokotte

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