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DIE GRUNDSCHULE
ОглавлениеNach dem ersten großen Trauma in meinem Leben, dem Geburtskanal – ich kann bis heute nicht angstfrei durch den Elbtunnel gehen –, war die nächste Katastrophe für mich zartbesaitete Seele schon vorprogrammiert: die Schule. Im August 1972 ging es los. Die ersten Tage war ich einfach nur müde. Unterrichtsstoff in allen Ehren, aber musste das so früh losgehen?
Heute ist es ja längst erwiesen, dass das Gehirn von kleinen Kindern morgens früh um acht noch gar nicht aufnahmebereit ist. Wenn ich Schulminister wäre, gäb’s so was nicht. Im Ernst: Es würde sich doch keiner beschweren, wenn der Unterricht erst so um elf starten würde. Überhaupt sind Lesen und Schreiben plus die zwei Grundrechenarten doch mit zwei launigen Stunden am Tag gut zu schaffen. Und davon mal ab, die richtig wichtigen Dinge wie rückwärts einparken, Feuer machen mit zwei Hölzern oder eine tadellose Nassrasur mit Messer und Pinsel lernt man im Unterricht sowieso nicht.
Als meine Mutter mich nach der ersten Woche beiseitenahm und fragte, wie es mir denn so gefalle, antwortete ich im Brustton der Überzeugung: „War ’ne ganz nette Idee, aber ab nächste Woche geh ich da nicht mehr hin!“
Mama lachte, nickte und schickte mich weiterhin in den langweiligen Buchstabentempel.
Es half alles nichts, die verdammte Schulpflicht in Deutschland machte auch vor mir nicht halt. Und als ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, gab es auch noch unsere Klassenlehrerin: Frau Zorn. Diese übellaunige Person machte ihrem Namen alle Ehre. Die Drecksau hatte über 35 Jahre Berufserfahrung und schon zahlreiche Kinderseelen gequält. Offensichtlich machte es ihr großen Spaß, Kinder zu demütigen, um ihnen schon in der Grundschule die Zeit gründlich zu versauen. Bis heute habe ich nicht vergessen, was sie mir angetan hat. Zweifellos eine der größten Verletzungen, die mir in meinem Leben untergekommen sind.
Wir bekamen eine Klassenarbeit zensiert und berichtigt zurück. Frau Zorn zelebrierte das Zurückgeben immer mit viel Spannung, seltenem Lob, dafür aber umso gehässigeren Kommentaren für die Schüler, die in ihren Augen eh nichts taugten. Meine Klassenkameraden und ich hatten also oft Angst und erduldeten das schäbige Prozedere mit viel Adrenalin und Grummeln im Bauch. Doch das Geschehen damals, im Frühjahr 1973, sollte meine schlimmsten Erwartungen übertreffen.
Nach einer Viertelstunde hatten alle ihre Hefte vor sich wieder auf der Schulbank liegen. Alle, bis auf einen. Ich hatte schon beim Schreiben der Arbeit kein gutes Gefühl gehabt und vorsichtshalber auch keinen Fatz dafür gelernt. Aber wo war mein Heft? Ich streckte zaghaft meinen Finger hoch. Frau Zorn nahm das scheinbar wohlwollend zur Kenntnis und nahm mich direkt dran. Ihre Stimme klang schneidend: „Ja, Atze, was möchtest du denn noch wissen?“
Irritiert von der lauernden Boshaftigkeit, die auch der Dümmste hinter ihrer gespielten Freundlichkeit erkennen konnte, sagte ich unsicher: „Frau Zorn, alle haben ihre Hefte zurückbekommen, nur mich haben Sie vergessen.“
Da wandte sich das Biest genüsslich an die ganze Klasse.
„Oh, liebe Kinder, der Atze hat sein Heft nicht zurückbekommen! Was ist denn da passiert? Warum hat er sein Heft nicht zurückbekommen? Ja, warum wohl? Ich will es euch sagen. Atze hat sein Heft deswegen nicht zurückbekommen, weil ich euch etwas zeigen wollte. Ich wollte euch nämlich zeigen, wie schlecht die Arbeit von Atze ist. So etwas Dummes habe ich noch nie gesehen! Ich hätte nie gedacht, dass ein Kind so dumm sein kann. Schaut mal hier, alles ist falsch.“
Mit triumphierender Geste hielt sie mein aufgeschlagenes Arbeitsheft hoch, damit alle sehen konnten, wie viel darin rot angestrichen war. Jeder Mitschüler sollte sehen, was für ein Totalversager ich war.
Es war die blanke Hölle für mich. Angstschweiß schoss mir aus jeder Pore, gepaart mit Panik und weichen Knien. Mir war schlecht, mein Magen krampfte heftig, meine Wangen glühten. Tränen schossen mir in die Augen. Fakt ist: Ich war als Kind sehr schüchtern. Am liebsten wäre ich tot umgefallen oder in einem Erdloch verschwunden.
Von Stund an hatte das bösartige Frauenzimmer mich auf dem Kieker. Ich sie allerdings auch, denn mich kampflos zu ergeben, war nicht meine Sache. Während Frau Zorn mich immer wieder öffentlich bloßstellte, mir an den Ohren zog oder gerne auch mal eine runterhaute, entschied ich mich für den klassischen Guerillakrieg. Widerstand aus dem Untergrund, die gute alte Vietcong-Taktik.
Ich schlug im Verborgenen zu. Gott sei Dank hatte der Drachen ein Auto, an dem ich herrlich meine aufgestaute Wut auslassen konnte. Überdurchschnittlich oft musste dieser Opel Kadett in die Lackiererei. Schön wirkungsvoll war auch, eine Dose vergammelten Hering in Tomatensoße akribisch in die großzügig bemessene Lüftung ihres Kleinwagens zu schütten. Dank dieser großartigen Aktionen ertrug ich ihre seelischen und körperlichen Grausamkeiten zwar nicht mit stoischer Gelassenheit, aber ich ertrug sie wenigstens.
Die kaltblütige Rache, von mir gerne auch „Elefantitis“ genannt – denn Elefanten vergessen nichts –, ist bis heute mein Konzept. Wenn Frau Zorn geahnt hätte, dass schon fünfzehn Jahre später ausgerechnet der dumme Atze mit ihrer heiß geliebten Enkelin auf den Polstern der Wollust landen würde, wäre sie wahrscheinlich komplett ausgetickt.
Mir war anfangs selbst nicht klar, welche Schönheit mich da in einer Sommernacht auf der Rückbank eines alten Kadetten leidenschaftlich zuschanden ritt. Bei der After-Show-Zigarette, sie lag gerade wohlig schnurrend auf meinem stattlichen Bizeps, fragte ich sie voller Bewunderung: „Was studierst du eigentlich, Prinzessin? Kunstturnen, Biologie? Oder ist das angeborenes Talent?“
„Nein, im Gegenteil“, giggelte sie. „Ich studiere auf Lehramt, das ist bei uns Tradition.“
Ich war erstaunt. „Ach, dein Papa ist auch Lehrer?“
„Nee, aber meine Mutter. Und meine Oma war an der Wilhelm-Schule, die kannte in unserem Kaff jeder. Die wurde von allen ,Gottes Zorn‘ genannt.“
Mir stockte der Atem. In meinem Hirn hörte ich Kinderstimmen johlen: „Schlimmer noch als Frühstückskorn / ist Unterricht bei Gottes Zorn!“
Ach du Scheiße! Ich hatte gerade mit der Enkeltochter meiner allerschlimmsten Peinigerin Sex gehabt. Und zwar sensationell guten, da gab es nix zu deuteln. Ich hätte mich ausschütten können – was für eine herrliche Laune des Schicksals! Das war der Beweis, der liebe Gott meinte es gut mit mir. Am liebsten hätte ich losgeprustet, aber ich riss mich zusammen. Ich atmete tief durch und sagte mit treuem Dackelblick: „Och, das ist ja rührend. Die alte Frau Zorn, die kenn ich auch noch gut. Bestell doch meiner früheren Klassenlehrerin ganz liebe Grüße von Atze Schröder. Da wird sie sich sicher sehr freuen!“
Als ich abends wieder in meiner Bude saß, musste ich wegen der Story immer noch grinsen. Und machte mir zur Feier dieses außergewöhnlich guten Ficks erst mal ein Butterbrot mit Hering in Tomatensoße.
Meine Grundschulzeit war insgesamt eine wunderbare Lebensphase, ich hatte viel Spaß mit meinen Freunden. Nur der verdammte Unterricht mit Frau Zorn war ein Quell ständigen Ärgers. Meine Eltern waren liebevoll und hatten für alles Verständnis, aber was das Lernen anging, blieben sie streng.
Ich glaube, dass viele Kinder meines Jahrgangs Ähnliches durchgemacht haben, weil Anfang der Siebzigerjahre noch zahlreiche Pädagogen vom „alten Schlag“ im Schuldienst waren. Die zogen nach wie vor eine längst überholte, konservative Pädagogik durch, mit typisch deutschen Sekundärtugenden als Eckpfeilern: Fleiß, Disziplin, absoluter Gehorsam. So hatten es schon meine Eltern erlebt, so sollte es bleiben. Kinder hatten zu funktionieren und keine Widerworte zu geben. Fantasie, individuelle Förderung oder alternative Unterrichtsmethoden waren verpönt. Die wenigen jungen Pädagogen, die versuchten, modernere Bildungsansätze umzusetzen, hatten es nicht leicht, sich gegen die alten zu behaupten oder gar durchzusetzen.
Heute ist das natürlich ganz anders. Kinder sollen selbstständig denken, ihre eigenen Ideen einbringen und zusammen mit den Lehrern den Unterricht gestalten. Es geht nicht mehr nur um Leistung und gute Noten, sondern auch um ein soziales Miteinander und Teamfähigkeit.
Davon war man in meiner Grundschulzeit noch weit entfernt. Schade. Für mich wendete sich das Blatt erst ein wenig, als ich zur weiterführenden Schule wechselte und neue, jüngere Lehrer frischen Wind in die verkrusteten Strukturen brachten.
Nicht nur das Schulsystem war hoffnungslos veraltet, die ganze Gesellschaft war eher von gestern. Konservatives Gedankengut beherrschte die Köpfe. Die meisten Erwachsenen brachten wenig Verständnis für uns Kinder auf oder machten sich Gedanken um uns. Erwachsene führten ein Erwachsenenleben. Auch am Wochenende wurde nicht gefragt, was Kinder machen wollten. Die Kleinen hatten sich anzupassen, sie standen nicht im Mittelpunkt.
Ein legendärer Spruch damals war eine wohlgemeinte Forderung der Gewerkschaften: „Samstags gehört Vati mir“. Es ging darum, den Samstag als Regelarbeitstag abzuschaffen. Darüber hinaus forderten die Arbeitnehmerverbände die Einführung der Vierzigstundenwoche. Dass Vati dann am Samstag den Kindern als Spielkamerad zur Verfügung stehen könnte, blieb natürlich Wunschdenken seitens der Kinder.
Die Realität sah anders aus. Als der freie Samstag schließlich eingeführt wurde, arbeiteten die Väter samstags nicht mehr, waren aber trotzdem nicht für die Kinder da. Am Samstag wurde der Hof gefegt, das Auto gewaschen und Bundesligakonferenz gehört. Abends gab es Sportschau, Kulenkampff, und im Anschluss wurde schnell zum Aktuellen Sportstudio rübergeschaltet. Sonntags ging es zum gepflegten Frühschoppen in die Kneipe. Die Fußballergebnisse, die große Politik und die alltäglichen Heldentaten wurden mit reichlich Pils und Schnaps verklappt. Wenn die Männer dann strunkelig nach Hause kamen, hatte gefälligst der Sonntagsbraten auf dem Tisch zu stehen. Das Familienleben war komplett auf den Mann ausgerichtet. Alles drehte sich um den allmächtigen Haushaltsvorstand. Ich weiß, das klingt alles unfassbar altbacken und rückständig, aber so war’s.
Erst 1976 wurde das westdeutsche Ehe- und Familienrecht überarbeitet. Die Reform ersetzte das Prinzip der Hausfrauenehe durch das sogenannte partnerschaftliche Prinzip. Das bedeutete zum Beispiel, dass eine Ehefrau nicht mehr die Einwilligung ihres Mannes brauchte, um ein Konto zu eröffnen oder eine Arbeitsstelle anzutreten. In Sachen Gleichberechtigung hat sich also in den letzten Jahrzehnten vieles zum Guten verändert.
Was heute wie gesagt auch kaum vorstellbar ist: In den Siebzigern wurde grundsätzlich geraucht. Überall standen Aschenbecher herum. Viele Kinder töpferten für ihre Papas Ascher aus Ton. Der Dreh-und-drück-Aschenbecher gehörte zu unseren liebsten Spielzeugen. Ein Patientenzimmer im Krankenhaus war gleichzeitig Raucherzimmer. Praktisch – Chefvisite ganz locker abgehalten zwischen zwei Reval.
Im Fernsehen dasselbe Bild. Ich hätte als Jugendlicher meinen Hintern drauf verwettet, dass es bei Talkshows eine Rauchpflicht gab. Die NDR Talk Show war doch ohne Qualm gar nicht denkbar! Sollte es damals schon Rauchmelder gegeben haben, waren die in den Studios auf jeden Fall nicht scharf gestellt. Unvergessen bleibt Werner Höfers Internationaler Frühschoppen: Journalisten aus aller Herren Länder diskutierten live das aktuelle Weltgeschehen für den deutschen Zuschauer. Dabei wurde natürlich geraucht, als ginge es um die Brandrodung einer kompletten Tabakplantage. Doch damit nicht genug. Vor laufender Kamera wurde gesoffen, gelötet und gebechert, als hinge die Existenz der deutschen Weinindustrie davon ab.
Sonntags mittags, direkt nach der Sendung mit der Maus, konnten wir Kinder miterleben, dass Rauchen und Saufen die Grundvoraussetzung waren, um die politischen Probleme dieser Welt mit Sachverstand zu analysieren. Dafür brauchte man mehr als nur ein Gläschen. Selbstverständlich wurde während der Show permanent munter nachgeschenkt. Man hätte die zechende TV-Runde auch Betreutes Trinken nennen können. Werner Höfer, Moderator dieser wahnwitzigen Runde, ließ derweil unter den interessanten, vielfältigen Meinungsäußerungen nur eine gelten: seine!
Höfers halsbrecherische Übergänge und rabiate Wortabschneidungen wurden vom WDR nicht nur geduldet, sondern auch goutiert. Immer wieder laberte Höfer sich angetrunken um Kopf und Kragen. Aber immer souverän und hochpolitisch. Im März 1971 hatte es sich bis zum trinkfesten Bundeskanzler Willy „Whisky-Willy“ Brandt rumgesprochen, dass es hier rustikaler zuging als in der Bundestagskantine. Er ließ es sich nicht nehmen, zur tausendsten Sendung höchstpersönlich vorbeizukommen und munter mitzubechern. Endlich gab es einen Gegner auf Augenhöhe für den deutschen Bundeskanzler.
Auch wenn das heute vielleicht etwas übertrieben klingt: Der Internationale Frühschoppen war eine Art Sinnbild für den Zustand der paffenden und süppelnden Bundesrepublik. Während die Jugend versuchte, dem Muff unter den Talaren zu entkommen, und die Achtundsechziger-Studentenbewegung sich mit dem Establishment anlegte, wurde in der deutschen Provinz so weitergemacht wie gewohnt. Das normale spießbürgerliche Leben ließ sich von ein paar langhaarigen Jugendlichen und Mädchen in Miniröcken nicht aus der Ruhe bringen.
Mein Vater versuchte, unseren kleinen Familiendampfer auf Kurs zu halten. Einerseits fand er die neuen kulturellen Strömungen sehr interessant, andererseits steckte auch er in althergebrachten Traditionen fest. Sozusagen zwischen Rolling Stones, Jazzfusion und Feuerwehrkapelle. Auf der einen Seite der hedonistische Lebensstil der kulturellen Boheme und die Ablehnung der bürgerlichen Moral – auf der anderen Seite die Gemütlichkeit des Stammtisches im Vereinslokal. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll kontra Skat, Sparclub und Rosenkohl.
Ein typischer Sonntag im Jahr 1975 sah für mich so aus: Morgens mit Papa zur Probe der Feuerwehrkapelle. Da wurden tatsächlich Gassenhauer mit klingenden Namen wie Preußens Gloria, Alte Kameraden oder Fehrbelliner Reitermarsch gespielt. Durchweg militärische Aufmarschmusik, die in den Siebzigern schon reichlich absurd erschien.
Mir war das erst mal egal. Mich faszinierte das Zusammenspiel der Instrumente und die ohrenbetäubende Lautstärke. Außerdem durfte ich so viel Fanta trinken, wie ich wollte. Und es war ein Riesenspaß, zu beobachten, wie große Teile des Orchesters im Laufe der Probe immer betrunkener wurden. Einer der sogenannten Trompeter, Josef Baumkötter, genannt „Baumkötters Jupp“, soff sich jeden Sonntagmorgen so die Rübe zu, dass der Spucknapf, der als Sammelbecken für die Spucke der Blechbläser aufgestellt war, gegen Ende der Veranstaltung randvoll war. Ein furchterregender Behälter voller Bier und hochprozentiger Schnapslülle. Der eklige Nachweis eines gelungenen Vormittags.
Für uns Kinder, die diese feuchte Folklore beobachten durften, war es ein obskures Schauspiel mit nachhaltiger Wirkung. Allein aus hygienischen Gründen hätte man die komplette Spucktruppe verhaften müssen. Stattdessen feierte die Mischpoke sich selbst, berauscht durch kriegerische Musik und Unmengen an Alkohol. Vereinzelt hörte man gelallte Parolen wie „Es war nicht alles schlecht …“ und Ewiggestrigen-Landser-Bullshit wie: „Der deutsche Soldat ist im Felde unbesiegt!“ Es steckte eben noch viel brauner Schwurbelmist in den Nachkriegsköpfen.
Selbst mein Vater, der sich ansonsten vehement gegen alles Militärische stellte und sich uns gegenüber gegen den „verdammten Krieg“ aussprach, konnte sich der Wirkung dieser Musik nicht ganz entziehen. Mit meiner Fanta in der Hand konnte ich in seinen Augen ein begeistertes Funkeln erkennen, wenn er die martialische Musik schmetterte. Fühlte er sich dann von mir ertappt, nahm ich eine gewisse Scham in seinen Augen wahr. Heute erkläre ich mir diese Diskrepanz damit, dass es für Menschen seiner Generation nicht einfach war, sich der Faszination der Militärmusik gänzlich zu entziehen. Spuren des Gifts der Nazi-Ideologie zirkulierten noch immer in seiner Blutbahn. Die Begeisterung für den Pomp und das hohle Pathos, den manipulativen Sound des „Tausendjährigen Reiches“, wirkte in vielen Männern bis zu ihrem Tode nach.
Dennoch hat sich mein Papa nie über lange Haare, laute Rockmusik oder modische Trends echauffiert. Seine musikalische Agenda war einfach: Was ihm gefiel, das gefiel ihm. Jazz, Schlager oder Rockmusik – seine Ohren waren erst mal offen. Da gab es kein Dogma, und jeder Song bekam seine Chance, ob der nun von Jimi Hendrix, Michael Holm oder dem Medium-Terzett stammte. Keine schlechte Basis für einen Heranwachsenden wie mich, der auf dem Gymnasium versucht, seine kulturelle Identität zu finden.
Im Gegensatz zu vielen Mitschülern hatte ich keinerlei Generationsstress. Die Kämpfe, die einige meiner Freunde wegen Musik, Mode oder Moral mit ihren Eltern austrugen, musste ich nicht ausfechten. Man darf ja nicht vergessen, dass es Ende der Siebzigerjahre im konservativen Münsterland durchaus noch Dresche fürs Aufbegehren gab. Die Prügelstrafe war allgegenwärtig. Unsere Nachbarn hatten zum Beispiel über der Küchenbank eine fünfschwänzige Peitsche hängen. Meine Schwester und ich hörten immer mal wieder schreckliche Schreie aus dem Nachbarhaus. Heute noch läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich daran denke.
Schockierenderweise machten die Nachbarn, auch wir, damals einfach die Fenster zu, um die schrecklichen Geräusche zu verbannen. Heute würde man die Polizei rufen, den Nachbarn zur Rede stellen. Oder wutentbrannt rüberlaufen und dem verdammten Bastard die Peitsche ins Maul stopfen. Unglaublich, was es für böse Menschen gibt.