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MEIN PAPA

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Mein Papa wurde im März 1924 als ältestes von neun Geschwistern geboren. Sechs Jungs und drei Mädchen.

Sein Vater, der ebenfalls Hubert hieß, war Malermeister und ein richtiger preußischer Drillkopf. Mit unerbittlicher Härte nicht nur seiner Familie, sondern jeglichem Lebewesen gegenüber, marschierte mein Opa durchs Leben. Mitgefühl für Frau und Kinder war für ihn ein Ausdruck von Schwäche, alle hatten zu gehorchen. Als wäre das nicht genug, lebte sein Vater auch noch mit im Haus. Da mein Opa keinen Bock auf Kindererziehung hatte, kümmerte sich mein Urgroßvater um die Kinderschar. Mit militärischem Drill. Vor allem die Jungs sollten hart werden, funktionieren und gehorchen. Bei Ungehorsam oder Widerworten wurden drakonische Strafen verhängt. Schläge mit Gürtel oder Rohrstock gehörten zum Tagesprogramm, frei nach dem Motto: Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet.

Jedes Kind hat seine eigene Art, solche Brutalitäten zu verarbeiten. Die einen zerbrechen daran, die anderen entkommen mühsam, dank eines instinktiven Überlebensplans. Mein Vater gehörte zu diesen willensstarken Überlebenskünstlern. Als er mit siebzehn während des Kriegs zum Arbeitsdienst eingezogen wurde, war es fast eine Erlösung für ihn. Endlich raus aus dem tristen Kreislauf von Arbeit und Gewalt zu Hause! Es sollte ein grauenhaftes Erwachen für ihn werden. Vom Arbeitsdienst ging es schnell zur Wehrmacht und mitten rein in das mörderische Kriegsgeschehen.

So erlernte mein Vater mit achtzehn das grausame Handwerk eines deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg: Mord und Totschlag. Nach Einsätzen in Albanien und im Kaukasus geriet er zum Kriegsende in das barbarische Gemetzel an der Ostfront. Dort wurde er von den Russen gefangen genommen. Die hatten verständlicherweise nicht viel Nachsicht mit den deutschen Invasoren und Mördern ihres Volkes.

Sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft hinterließen bei meinem Papa unauslöschliche Spuren. Die körperlichen zeigte er mir später immer mal. Die seelischen Qualen, die er erlitt, kann ich rückblickend nur erahnen.

Als er 1951 dann abgemagert, desillusioniert und völlig entkräftet wieder nach Hause kam, stand sein Vater vor der Tür und sagte nur: „Sehr gut, dann kannst du morgen mit auf die Baustelle fahren.“

Dass mein Papa sich an diesem Punkt für ein neues Lebenskonzept entschied, gehört zu seinen größten Leistungen. Er hat es mir mal so erklärt: „Junge, in der Gefangenschaft hat mich ein Gedanke am Leben gehalten. Wenn ich diesen Albtraum überstehe, hab ich mir geschworen, möchte ich ein friedliches Leben führen und nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen.“

Ihm war völlig bewusst, dass er genug Grausames erlebt hatte und dass er Platz schaffen musste für die schönen Seiten des Daseins: Liebe, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Friedfertigkeit. Manchmal holten ihn die Schatten der Vergangenheit ein, dann ließ er sich von ihnen zu Schlägen und Gewaltausbrüchen gegenüber uns Kindern verleiten. Aber je länger er diese Dämonen bekämpfte, desto sanfter und gütiger wurde er. Irgendwann hat er es schließlich geschafft, seinen Schwur zu leben und ein friedliches, aufrechtes Leben zu genießen.

Wie so viele aus seiner Generation brauchte mein Papa nach Krieg und Gefangenschaft ein gehöriges Maß an Verdrängung, um ein normales Leben wieder aufzunehmen. Nicht nur die Städte lagen 1951 in Schutt und Asche. Auch die Seelen der Männer, denen noch vor kurzer Zeit die Weltherrschaft versprochen wurde, waren kaputt. In den Nachkriegsjahren ging es für die Menschen erst mal ums blanke Überleben: Essen organisieren, Wohnraum schaffen, das zerstörte Land wieder aufbauen.

Dann sah man langsam Licht am Ende des Tunnels. Millionen von Carepaketen erreichten Westdeutschland. Die Jahre des Hungers und des Schwarzhandels wurden durch die Währungsreform und volle Regale in den Geschäften abgelöst. Das Deutsche Fernsehen startete nach zweijähriger Testphase den Regelbetrieb. In Essen wurden erstmals wieder Partys veranstaltet, für die Arbeit beim Bauern in der Umgebung gab’s Eier, Kartoffeln, manchmal sogar ein halbes Schwein. Im Kino lief der Skandalfilm Die Sünderin. Hilde Knef zog blank. Und die Nation stellte fest: Deutschland hatte wieder mehr auf der Brust.

Es knisterte an allen Ecken und Enden, es kam wieder Wind ins Segel, Prostitution erblühte, das öffentliche Leben erwachte. Die Polio-Impfung wurde flächendeckend eingeführt. Speziell das Ruhrgebiet wurde zum Motor des Wirtschaftswunders. Bergbau, Stahlindustrie, Kokereien – es dampfte aus allen Pötten. Die Motorisierung wurde eingeläutet. 1955 gab es schon eine Million VW Käfer (Neuwagenpreis: 4400 Mark), und jede Familie träumte davon, mit dem eigenen Auto nach Rimini zu fahren. Mein Vater hatte keinen Führerschein. Nur für Panzer, aber die wollte er schnell vergessen.

Der Hunger nach Leben und sorglosem Vergnügen war immens. Als musikalischer Mensch ergatterte Papa bei einem Bauern, dem er das Haus gestrichen hatte, ein Akkordeon. Von da an mischte er im Essener Unterhaltungsgeschäft mit. Egal ob Geburtstage, Hochzeiten oder erste Scheunenpartys – ab jetzt war er mittendrin im Amüsierbetrieb. Statt Heil dir im Siegerkranz gab es Schlager oder Swing, den Louis Armstrong auf seiner ersten Deutschlandtournee nach Deutschland gebracht hatte. Man trällerte vergnügt Die süßesten Früchte und Der schönste Platz ist immer an der Theke. In den Kneipen, Tanzlokalen und Jazzkellern ging es hoch her. Immer mehr Amüsierlokale öffneten auf der Reeperbahn. Es wurde gesoffen, getanzt, gemuckt und gefickt. Der berühmte Nagel der Freude wurde beherzt eingeschlagen und sorgte für einen Babyboom.

Die Kirche stand dem Ganzen zwiespältig gegenüber. Einerseits begrüßte sie natürlich, dass neue Familien gegründet wurden, andererseits konnte man das wilde Treiben nicht genug anprangern. Von der Kanzel herab warnten die Pfaffen immer wieder vor Sittenverfall, vorehelichem Geschlechtsverkehr und anderen sündigen Umtrieben. Es half nichts: Das Wirtschaftswunder machte die Bäuche satt, aber der Hunger nach heißer Liebe wollte auch ohne Trauschein gestillt werden. Was nicht immer leicht war! Nicht alle Paarungswilligen wohnten in der Stadt, nicht alle waren selbstbewusst genug oder hatten Zeit genug, offensiv auf Partnersuche zu gehen.

Mein Vater erkannte die Problematik und wurde aktiv. Als Maler und Musiker kam er viel rum. Wann immer er beim Anstreichen oder einer Mucke ein liebeshungriges Herz kennenlernte, das auf Amors Pfeil hoffte, notierte er sich Name und Adresse und versprach, sich zu kümmern. Zur nächsten Tanzveranstaltung oder sonstigen Festen lud er die Frauen und Männer aus seinem Notizbuch dann ein. Dadurch waren seine Gigs immer gut besucht. Es sprach sich schnell herum, dass man bei Hubert Schröders Auftritten auf geeignete Partner treffen konnte. Und mein Alter lieferte. Durch geschickte Liederauswahl, gepaart mit listiger Moderation, führte er viele einsame Herzen zusammen und half so manchem Glück auf die Sprünge. Meine Tante Agnes erzählt heute noch davon, wie mein Papa mit seiner fidelen Quetschkommode selbst die scheuesten Rehe und Böcke zum Schmusetanz verführte.

Dazu muss man wissen, dass es Mitte der Fünfzigerjahre noch keine Großraumdiscos oder mondäne Clubs mit Laser und exquisiter Soundanlage gab. Auf der Tanzfläche schwitzte auch keine selbstoptimierte Instagram-Gemeinde in Designerkluft, sondern eine nach heutigen Maßstäben eher skurril anmutende Truppe. Die Damen trugen selbst genähte Kleider und mühsam ondulierte Frisuren. Die, die sich ein paar heiß begehrte Nylonstrümpfe besorgen konnten, gehörten zu den Privilegierten. Viele malten sich die Nylonnaht einfach aufs nackte Bein.

Die Herren versuchten, ihrerseits das Optimum herauszuholen, wobei die Latte hier nicht besonders hoch lag. Wohl dem, der ein sauberes Hemd hatte! Das widerborstige Haar wurde mit einer pomadeartigen Frisiercreme namens Brisk gebändigt. Wer sich das nicht leisten konnte, nahm Ballistol oder Margarine. Manch einer besaß nicht einmal ein zweites Bein für die gebügelte Hose, was das Tanzen natürlich schwieriger machte. Viele so versehrte Männer atmeten auf, wenn eine langsame Nummer gespielt wurde. Auf drei Beinen tanzt es sich halt komfortabler.

Helmut „Käpt’n Ahab“ Motek war ein Paradebeispiel für diese Spezies. Eigentlich hieß er gar nicht Motek, aber alle nannten ihn so. Trotz seines Holzbeins war er auf den Ruhrgebietsbaustellen ein gefürchteter Geselle, dessen Vorschlaghammer jede Trümmerwand in Rekordzeit in Geröll verwandelte. Legendär war auch seine schlechte Laune, mit der er den Kollegen das Leben zur Hölle machte. „Schade, dass es damals noch nicht Wetten, dass …? gab“, sinnierte mein Vater später. „Der Motek hätte den Kölner Dom noch während der laufenden Sendung mit dem Vorschlaghammer komplett von der Domplatte gezimmert!“

Motek war also ein Baum von einem Kerl mit biblischen Kräften. Leider auch schüchtern wie eine Feldmaus in der Manege. In normalen Zeiten wäre der Typ ein hoffnungsloser Fall gewesen, aber Männer waren knapp, somit gab es Hoffnung.

Mit feinem Gespür für das Zwischenmenschliche erkannte mein Papa, dass Moteks Grobschlächtigkeit hauptsächlich von seiner Liebesbedürftigkeit herrührte. Die Sache war klar: Der brauchte eine Frau! Und die gab es nach dem Krieg reichlich. In Papas Notizbuch stand unter D wie dringend eine gewisse Gisela Schulz. Sie war die Älteste von drei Schwestern und galt mit ihren 36 Jahren als nicht mehr vermittelbar, weil sie von großer, stattlicher Statur und rothaarig war. Beides verschreckte viele Männer. Da aber bekanntlich auf jeden Topf ein Deckel passt, war sie nach Papas Ansicht die Traumfrau für den hammerschwingenden Gesellen.

Sonntags beim Bürgerschützenfest in Essen-Kray sorgte mein Vater dafür, dass die beiden einsamen Herzen zueinanderfanden. Vorher nahm er sich den im Süßholzraspeln ungeübten Motek zur Brust: „Hör zu, Helmut, ich stell dir heute jemanden vor. Eine klasse Frau! Das ist genau die Richtige für dich, also versau es nicht! Saubere Fingernägel, freundlich sein und nicht so feste zupacken. Denk immer dran – eine Frau ist kein Hammer!“

Mit ihr sprach er natürlich auch noch mal. „Gisela, der Motek ist im Grunde seines Herzens ein guter Kerl – er weiß es nur noch nicht! Pack den hart an und mach klare Ansagen. Dann frisst er dir ganz schnell aus der Hand.“

Als mein Alter die beiden dann tanzen sah, kamen ihm allerdings doch Zweifel. Da Helmut sein Holzbein im blinden Liebeseifer an den Bühnenrand gelehnt hatte, stand er hilflos wie ein einbeiniger Lastenkran auf der Tanzfläche. Gisela mit ihrem großen Herzen erkannte jedoch seine missliche Lage und schmiegte sich als liebevolle Stütze an den schwankenden Koloss. Das Eis war gebrochen! Schon drei Monate später war sie schwanger. Aus dem stoffeligen Oger und der drallen Landpomeranze wurde ein wunderbares Paar. Wieder einmal hatte Papa es geschafft, aus anscheinend unverbesserlichen Knalltüten, welche die Hoffnung auf ein bisschen Glück schon aufgegeben hatten, ein liebendes Paar zu zaubern.

Im Jahr 2003 feierten die Moteks mit ihren drei Kindern, acht Enkeln und einem Urenkel goldene Hochzeit. Ehrensache, dass mein Alter da mit seinem Akkordeon erschien und noch mal den Schlager Das machen nur die Beine von Dolores zum Besten gab. Natürlich hat er der fröhlichen Großfamilie ausführlich erzählt, wie er die beiden damals zusammengebracht hat. Er schloss seine launige Rede mit den Worten: „Helmut, seien wir ehrlich, ich hab das nicht nur für euch gemacht – ich wollte einfach nur Ruhe auf der Baustelle!“

So war Papa. Das große Tamtam war ihm viel zu gefühlsduselig, und Dankesbezeugungen wollte er auch möglichst vermeiden. Lieber behielt er es für sich, dass er so vielen Paaren zu ihrem Glück verholfen hatte. Sein Notizbuch in den Fünfzigern war quasi der Vorläufer von Parship und Tinder. Mit höherer Erfolgsquote und ohne lästiges Mindestabo. Wie stark sein Antrieb war, Menschen zu verbinden und zu unterhalten, ahnte keiner. Vielleicht nicht mal er selbst. Viel von diesem inneren Bedürfnis ist auch in meinen Genen gelandet … aber alles schön der Reihe nach.

Blauäugig

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