Читать книгу Blauäugig - Atze Schröder - Страница 8
ZEUGUNG UND GEBURT
Оглавление„Clara, ich bin alles, was du dir je erträumt hast, nur mit Bauch.“
Prustend vor Lachen verschluckte sie sich an ihrem Pausenbrot und spannte vorsichtshalber ein neues Blatt in die Schreibmaschine, Modell „Gabriele“. Immer wenn mein Vater im Büro der Essener Malerfirma Brockmann auftauchte, um seine Lohnabrechnung in Empfang zu nehmen, strahlte meine Mutter übers ganze Gesicht. Da konnten die beiden natürlich noch nicht wissen, dass sie mal meine Eltern werden würden. Wahrscheinlich ahnten die lebenshungrigen Nachkriegsjugendlichen auch nicht, dass sie schon bald heiraten würden. Mein zukünftiger Vater hatte allerdings eine konkrete, wenn auch etwas lüsterne Vorstellung, was er mit der Schönheit hinter dem Schreibtisch gern anstellen würde. Clara wiederum war aufgefallen, dass Hubert Schröder, der junge Malergeselle, seit geraumer Zeit öfter als nötig bei ihr am Schreibtisch stand und heftig mit ihr schäkerte.
„Clara, was soll ich noch alles machen, damit du mit mir tanzen gehst?“
„Lass dir was einfallen, du bist doch sonst nicht so auf den Kopf gefallen. Kannst du denn überhaupt tanzen, Hubert?“
„Nee, aber ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Dann geh wenigstens mal mit mir auf die Cranger Kirmes, zusammen Geisterbahn fahren!“
Sie lachte kokett und schaute ihn neckisch an. „Da musst du mich aber beschützen, Hubert. Sonst bekomme ich am Ende noch Angst …!“
Er griente und balzte unverhohlen zurück: „In meinen Armen bist du so sicher wie in Abrahams Schoß!“
Ich habe nie herausbekommen, ob meine Eltern sich erst einmal vorsichtig und sittsam angenähert haben oder ob nach dem ersten Ankuscheln in der Geisterbahn schon von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wurde. So richtig rückten sie mit der Sprache nicht heraus. Meine Mutter erzählte lieber ausführlich von einem Picknick im Grugapark, bei dem mein Vater ihr Herz endgültig erobert haben soll. Davon an dieser Stelle nur so viel, dass meine Schwester schon in jungen Jahren – nicht nur wegen ihrer Vorliebe für das gleichnamige Kinderbuch – liebevoll „das kleine Gespenst“ genannt wurde …
Wenn wir schon mal bei legendären Zeugungsakten sind, möchte ich die Gelegenheit natürlich nutzen und meine Entstehungsgeschichte schildern.
Als Hubert und Clara 1964 schon längst ein Ehepaar mit einer kleinen Tochter waren, begab es sich, dass mein Alter bei der Karstadt-Mitarbeiterweihnachtsfeier mit seiner Kapelle Die Blizzard Boys auftrat. Die jungen Musiker heizten der Kaufhausmischpoke mit ihrem Repertoire kräftig ein. Der Saal tobte, die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Hormongeschwängerte Schweißwolken machten aus dem leer geräumten ersten Stock (Parfüm und Damenstrümpfe) einen Hexenkessel, der langsam überkochte.
Als die Blizzards dann plötzlich, völlig illegal und ohne Genehmigung der Direktion, I Want to Hold Your Hand von den Beatles spielten – selbstverständlich ohne ein Wort Englisch zu können –, tickte die Meute komplett aus. Ekstase pur! Dabei war vorher noch vereinbart worden, keine Lieder in „Kaugummisprache“ – damit war Englisch gemeint – zu singen. Und jetzt das: ein Lied von diesen langhaarigen Usselköppen. Skandal!
Das Ganze hätte legendär werden können, und der Karstadtkonzern wäre heute vielleicht noch bei bester finanzieller Gesundheit, wenn der Hausmeister Heinrich A. Sabolewski an dem Punkt nicht die Hauptsicherung rausgedreht hätte. „Nazi-Sabo“, wie er von allen genannt wurde, waren diese Hottentottenmusik und artfremde Gliederverrenkung schon seit Langem ein Dorn im Auge. In seinen Augen war das der Untergang Deutschlands. Schon beim Aufbau der Musikanlage war er am Stänkern gewesen, und die stolzen Blizzards mussten sich Sprüche anhören wie: „Mit euch langhaarigem Gesocks kann man doch keinen Krieg gewinnen.“
Da war er bei meinem Alten an der richtigen Adresse: „Wegen Idioten wie dir haben wir immerhin schon zwei verloren, du Spacko!“
Dabei war Sabo während des Krieges einfach nur Schleusenwärter gewesen. Mit einem Arm, der andere war amputiert worden. Das war aber keine heldenhafte Kriegsverletzung. Vielmehr hatte sein Riesenmümmler Adolf ihm beim Kaninchenfüttern in den Finger gebissen, und der Tonto war mit der kleinen Blutvergiftung nicht zum Arzt gegangen. Nach 1945 hatte er sich den Haken dann geradebiegen lassen, um etwaigen Verdächtigungen zuvorzukommen. Ein echtes Genie! Oder, wie mein Alter sagte: Was für ein Arschloch.
Für die Blizzards war der Abend nach dem Sabotageakt jedenfalls zu Ende, und der Abteilungsleiter weigerte sich, die vereinbarte Gage von 75 Mark auszuzahlen. Beim Einladen der Instrumente und der Soundanlage in den Hanomag ließ Papa es sich jedoch nicht nehmen, dem Spirituosenlager im Erdgeschoss noch einen kleinen, heimlichen Besuch abzustatten. Er gelangte von der Laderampe aus ins Depot. Geschickt erbeutete er für seine Bandkollegen mehrere Flaschen Cognac und eine Kiste allerfeinsten Dom-Pérignon-Champagner, die er allerdings für sich behielt.
Champagner war für Otto Normalverbraucher damals ein unerschwinglicher Luxus. So was tranken nur die Reichen und Filmstars wie Nadja Tiller, Anita Ekberg oder Brigitte Bardot. Inge Meysel wurde zumindest nie mit der Edelbrause gesehen. Alles in allem also doch noch ein gutes Geschäft, trotz des erzwungenen Gagenausfalls. Der Diebstahl wurde zur allgemeinen Freude dann auch noch dem verhassten Hausmeister angelastet. Ein toller Abend! Und er wurde noch besser.
Laut meiner Mutter kam Hubert bestens gelaunt nach Hause. Die Kiste mit dem Schampus pfefferte er im Wohnzimmer auf den Kacheltisch und rief: „Buona sera, signorina, buona sera, it is time to say goodnight to Napoli!“
Als Muttern neugierig aus der Küche angelaufen kam, knallte auch schon der erste Champagnerkorken, und sie schaltete begeistert in den Sophia-Loren-Modus um, den sie vorzüglich draufhatte.
Der viel beschworene Champagnerkick und ein sie heftig anschmachtender Hubert machten aus der braven Familienmutter Clara eine hochattraktive Salonlöwin auf Beutezug. Was den Partyfaktor anging, waren meine Eltern auf Augenhöhe mit Aristoteles Onassis. Allerdings ohne die blöden Tanker und das viele Geld. Außerdem war Mama der divenhaften Maria Callas stimmlich haushoch überlegen, allerdings nur, wenn sie ordentlich einen im Schlappen hatte.
Mein Alter köpfte die zweite Flasche Dompi, schnappte sich sein Akkordeon und kurbelte meine tanzende Mutter auf dem Couchtisch hoch und runter. Eine Stunde später war der dritte Korken an die Schleiflackdecke geflogen, und auf dem Sofa wurde James Bond – Liebesgrüße aus Moskau nachgespielt. Mein Vater zog alle Register, schließlich war er im Auftrag seiner Majestät unterwegs. Als die Liebeskugel aus dem Schaft seiner Walther PPK schoss und Claras Augen vor Glückseligkeit brachen, stöhnte er mit letzter Kraft: „Dat wird einer!“
Anschließend rauchte meine Mutter ihre wohlverdiente Zigarette und sagte siegesgewiss: „Dat wird ’n Junge.“
James Hubert Bond kratzte sich am Kinn. „Wieso dat denn?“
„Du hast die Socken noch an. Dat wird unser kleiner Atze!“
Am 27. September 1965 um 6.05 Uhr wurde ich als Beweisstück jener steilen These an die frische Luft gesetzt. Viele Erinnerungen an meine Zeit vor der Geburt habe ich nicht mehr, aber meine Begeisterung für Champagner ist geblieben. Gute Arbeit, Papa, wie mit dem Ohr gemalt!
Während „meiner“ Schwangerschaft wurde meinen Eltern klar, dass die Zweizimmerwohnung an der Wattenscheider Straße für vier Leute auf Dauer zu klein sein würde. Was tun? 1965 war Wohnraum knapp, und längst nicht alle Buden hatten Heizung, Toilette oder gar ein Badezimmer.
Meine Oma hatte die rettende Idee: „Kommt doch alle zu mir ins schöne Münsterland! Seit mein Heinrich tot ist, wohn ich in dem großen Haus ja ganz alleine. Dann kommt wenigstens wieder Leben in die Bude, und die Kinder sehen auch mal Kühe statt Autos.“ Für Oma war das Ruhrgebiet eine einzige große Zechenkolonie, ein Albtraum in Schwarz-Weiß.
Meine Eltern nahmen dankend an. Der Umzug ins Münsterland dauerte allerdings etwas, weil Papa für die Firma noch einen Großauftrag zu erledigen hatte.
Damals waren die meisten Frauen noch unbekümmerter unterwegs, was das Kinderkriegen anging. Heute ist eine Schwangerschaft ja eine Art wissenschaftlich-esoterisches Großprojekt, das umfangreiches Wissen in Ernährungslehre und wenigstens ein Grundstudium der Allgemeinmedizin erfordert. Die junge, moderne Mutter des Jahres 2022 ist mit allen Wassern gewaschen. Resonanztherapie, Beckenatmung, Spitzkopfyoga, Friedensschwimmen, ganzheitliches Gebären, Singen mit Buckelwalen … die Möglichkeiten sind unendlich. Wunderbar! Das einzige Thema, das dies noch überstrahlt, ist das „Wo“: Wo soll das Kind geboren werden? Im Kreißsaal, auf der Rasenplane im Wald, unter Wasser, in der Präsidentensuite des Adlon, im Bällebad bei Ikea, im Wald hockend, im Geburtenkloster, umgeben von Shaolin-Mönchen …?
1965 war die Sache dagegen klar. In Essen wurden Geburten im Elisabethkrankenhaus erledigt, und zwar im erbswurstgrün gekachelten Kreißsaal, mit robustem Gullyschacht in der Mitte der sterilen Hölle.
Geburtsvorbereitung gab’s damals jedoch auch schon. Exakt eine Stunde vor der Geburt erschien die berühmt-berüchtigte Brachialhebamme Mechtild mit ihren Riesenpranken im Kreißsaal. Unhöflich, aber bestimmt, gab sie meiner armen Mutter knappe Anweisungen: „Brüll nicht so rum, immer schön drücken, und für alle Fälle hab ich hier noch ein Beißholz!“
Mit dieser rustikalen pädagogischen Art hatte die eiserne Mechtild schon etwa tausend unschuldigen Babys den Sprung ins Leben gründlich versaut. So auch in meinem Fall. Hatte ich eben noch gemütlich in meiner warmen Höhle bei Kaffee und Mutterkuchen gesessen, so wurde ich nun, wenige Pressattacken später, durch einen viel zu kleinen Geburtstunnel ungefragt in die kalte, raue Welt befördert. Scheiße, war das kalt! Und hell. Und ungemütlich. Zudem schnitt ein mir völlig unbekannter Arzt eigenmächtig meine Nabelschnur durch. Schön ist was anderes. Wie meine Mama immer sagte: Es ist nicht alles Kind, was rauskommt!
Es gab aber auch Schönes zu entdecken. Die zauberhafte Frau, die mich rausgedrückt hatte, war äußerst lieb zu mir. Ihre Riesenbrüste beeindruckten mich sowohl ästhetisch als auch von der Konsistenz her, zudem kam ein herrliches Getränk aus den wunderbaren Dingern. Meine Mutter roch gut, sie war warm und gab mir Nahrung. Ich war schockverliebt. Nie wieder würde ich jemand mehr lieben können! Und so beschloss ich bereits in diesem frühen Stadium meines Lebens, das hinreißende Geschöpf spätestens an meinem achtzehnten Geburtstag zu heiraten. Top-Olle!
Am nächsten Tag lernte ich endlich auch meinen Vater kennen. Die Stimme kannte ich ja schon, das Äußere war ansprechend, wenn auch noch etwas verschwommen. Ein grundsympathischer Kerl. Auch er zeigte sich begeistert von seinem Werk, und ich hatte das untrügliche Gefühl, bei den beiden sehr erwünscht zu sein. Diese liebevolle Verbindung sollte sich für den Rest unseres gemeinsamen Lebens nicht mehr ändern.
Der Name, den Papa dann auf dem Standesamt ins Familienstammbuch eintragen ließ, war Schall und Rauch, denn schon ab der ersten Woche wurde ich von allen nur Atze genannt.
Als ich mit meinen Eltern nach Hause kam, war ein Familienmitglied allerdings weniger angetan. Meine Schwester, in den letzten Tagen von Tante Agnes betreut, hatte nicht auf dem Zettel, dass von nun an auch ein kleiner Prinz Ansprüche stellte. Oder überhaupt Aufmerksamkeit bekam. Sie war not amused! Und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass schon da der Plan in ihr reifte, mich bei jeder Gelegenheit vorzuführen und zu demütigen.
Im Sommer 1966 war es dann so weit: Der Lkw, den uns der Malerbetrieb Brockmann freundlicherweise geliehen hatte, stand vor dem Haus. Stunden später waren die sogenannten Möbel inklusive des legendären Kacheltisches und Papas Schlagzeug verstaut, und mit viel guter Laune fuhr die Familie Schröder ins ach so grüne Münsterland.
Mein Vater lenkte den alten Hanomag. Neben ihm auf der Doppelsitzbank: meine Schwester Anne und meine Mutter mit mir auf dem Schoß. Auf der Ablage vor der Windschutzscheibe: zwei Thermoskannen mit Kaffee, vier Brote mit Ei und zwischendurch auch mal meine ewig plappernde Schwester. Kopfstützen und Sicherheitsgurte waren völlig unbekannt. Man hielt sich fest und versuchte durch beherztes Wegatmen, den stinkigen Zigarettenrauch aus der Fahrerkabine zu verbannen. Idylle pur.
Ich hatte beim Einpacken der tausend Sachen Gott sei Dank nicht mithelfen müssen, wahrscheinlich auch, weil ich noch nicht laufen konnte. Meine Mutter erzählte jedem in Reichweite, dass ich ihr Sonnenschein sei und immer gute Laune hätte. Mir war vor allem wichtig, dass immer genug Muttermilch da war und sich ihre Nippel in Reichweite befanden. Meine Schwester hasste mich deswegen. Sie wollte natürlich auch wieder an diese herrliche Theke des freudigen Genusses, aber das Lokal war eben nur noch für den kleinen Atze geöffnet. Sorry, only for members, kleine Prinzessin!
Doch wenn ich geahnt hätte, was dadurch im Kopf meiner Schwester an Bösem erwachte, hätte ich sie augenblicklich und liebend gerne selbst gestillt.
Nach zwei Stunden Fahrt stand der Möbelkutter qualmend vor Omas Haustür. Oma strahlte wie ein Primelpott, und alle hatten den Eindruck, dass ihr größter Wunsch in Erfüllung gegangen war. Ihre Tochter war wieder zu Hause! Mit meinem Papa verstand sie sich auch bestens, und nach uns Kindern war sie sowieso total verrückt. Ich muss es an dieser Stelle mal sagen: Das war heile Welt in Reinkultur. Von da an war immer jemand zu Hause, und für Kinder ist so ein Haus mit Garten selbstredend großartig.
Die ersten Jahre teilten meine Schwester und ich uns ein Zimmer, was ich ziemlich lustig fand. Anne war nicht so begeistert. Ihr Unmut über meine bloße Existenz wurde langsam, aber sicher befeuert. Die dunkle Seite in ihr wurde stärker – unbemerkt, denn sie war schlau genug, ihren Hass auf mich vor unseren Eltern zu verbergen.
Meine Oma Johanna war ein sehr glücklicher Mensch. Wir Kinder liebten sie über alles und schlossen sie über die nächsten Jahre als Bilderbuchoma in unser Herz.
Johanna war 1895 geboren und hatte somit schon einige Katastrophen erlebt. In der strengen Kaiserzeit von Wilhelm II. wuchs sie mit preußischen Erziehungsidealen auf. Sie war erst achtzehn, als es mit Hurra in den Ersten Weltkrieg ging. Vier Jahre später war der bereits verloren, woraufhin nicht die Trottel aus dem Kaiserhaus oder die Generäle die Suppe auslöffelten, sondern die einfachen Leute. Mühsam versuchte jeder, sich durchzuschlagen. Es ging nicht um das Lebensglück, sondern um das Glück zu überleben. So war die Weimarer Republik: Inflation, Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise! Das machte vielen schwer zu schaffen und öffnete das Tor für die dumpfe Ideologie der Nationalsozialisten.
Ehe Oma sich’s versah, entfachten die braunen Verbrecher nur wenige Jahre nach dem letzten Krieg die größte Katastrophe, die die Welt bis heute erlebt hat: Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit Hitlers Überfall auf Polen. Mehr als siebzig Millionen Menschen fielen dem Nazi-Wahnsinn zum Opfer. Nach der Kapitulation der braunen Mordschergen musste Johanna mit ihrem Heinrich und den vier Töchtern mal wieder von vorn anfangen. Ganz Deutschland war ein Trümmerhaufen, der vor allem von tüchtigen Frauen wieder flottgemacht werden musste.
In den Fünfzigern ging es dank der Währungsreform und des beginnenden Wirtschaftswunders erstmals wieder bergauf für die kleine Frau mit dem großen Herzen. Ihre Töchter waren gut verheiratet, und das Leben sah endlich wieder rosig aus. 1964 starb Heinrich dann nach kurzer, schwerer Krankheit. Nun war sie allein mit der Stille in dem leeren Haus – und selig, dass wir mit Sack und Pack dort einzogen.
1966 hatten die wenigsten Einfamilienhäuser eine Zentralheizung. Omas auch nicht. Genauso wenig gab es in unserem neuen Heim eine Dusche, und durch die Einfachverglasung pfiff der Wind schlimmer als Klaus Meine im Intro von Wind of Change. Kalt war uns aber nie, weil Oma Johanna uns alle warmhielt. In jedem Zimmer stand ein Holzofen, gekocht wurde auf dem Küchenherd mit Holzfeuer.
Samstags war Badetag. Da hieß es für uns Kinder: Ab in die Zinkwanne! Das Wasser wurde auf dem Herd erhitzt. Anne und ich mussten immer gleichzeitig rein in die milchige Kernseifenbrühe. Dann folgten wahrlich paradiesische Momente: In Handtücher eingemuckelt gab es heißen Kakao und ’ne Eierstulle mit Butter. Aber das war längst noch nicht der Höhepunkt! Da wir kein Fernsehgerät hatten und das Nordmende-Röhrenradio mit dem magischen Auge auch nur selten eingeschaltet wurde, wird mancher sich jetzt sicherlich fragen, was nun noch kommen konnte. Ganz einfach: Die Sensation war selbst gemacht. Nicht nur mein Papa war ein begnadeter Geschichtenerzähler – auch Oma war eine Garantin für leuchtende Kinderaugen. Wenn Anne und ich dann mit glühenden Wangen todmüde von Papa ins Bett gebracht wurden, waren wir von den mit viel Fantasie vorgetragenen Abenteuern so erschöpft, dass uns nach wenigen Sekunden der Schlaf übermannte.
Ich weiß, das klingt jetzt alles nach gütiger Märchenoma. Trotzdem will ich hier keine Zweifel aufkommen lassen, dass meine Oma zugleich eine sehr selbstbewusste, intelligente Frau war, die bis ins hohe Alter zeitgenössische Literatur gelesen hat und immer ein großes Interesse an Bildung hatte. Die Ideale der Frauenbewegung waren ihr ein stetes Anliegen. Zurückblickend denke ich, dass diese starke, warmherzige und kluge Frau mich in meiner Lebenseinstellung am meisten geprägt hat.
Ein Erlebnis hat mich besonders beeindruckt. Am 6. Juni 1971 erschien eine Ausgabe der Illustrierten Stern mit der Titelschlagzeile „Wir haben abgetrieben!“. Dazu waren zum Teil prominente Frauen auf dem Cover abgebildet, die öffentlich bekannten, ihre Schwangerschaft abgebrochen und damit gegen geltendes Recht, nämlich den umstrittenen Paragrafen 218, verstoßen zu haben. Unter den Teilnehmerinnen befanden sich Stars wie Senta Berger, Romy Schneider und Vera Tschechowa, aber auch viele „normale“ Frauen.
Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich mit Oma den örtlichen Tabak- und Zeitschriftenladen betrat und Oma zwei Packungen Lord Extra und ebendiese Stern-Ausgabe kaufte. Beim Kassieren schaute der Inhaber der Lottobude sie missbilligend über den Rand seiner schwarzen Hornbrille an und raunzte: „Den Schund verstecken Sie mal lieber vor dem Kleinen. Früher wären solche Weiber im Lager gelandet.“
Oma nahm wortlos die mit einem Gummiband zusammengerollte Zeitschrift und verpasste dem Quatschkopf rechts und links saftig was um die Ohren. Dabei schaute sie ihm direkt ins Gesicht und zischte: „Schäm dich, du widerlicher Pinscher!“
Gebannt hatte ich das Schauspiel verfolgt. Während sich der Lotto-Nazi noch verdattert die knallroten Wangen hielt, nahm Oma mich an die Hand und zog mich zum Ausgang. Wortlos verließen wir den Laden. Auf dem Bürgersteig blieb sie stehen, beugte sich mit ernstem Gesicht zu mir herunter und sagte: „Atze, merk dir das, gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen. Du bist ein kluger Junge. Rede einem dummen Menschen niemals nach dem Mund!“
Ab da war mir endgültig klar: Mit Oma an meiner Seite konnte mir auf dieser Welt nichts passieren.
Ansonsten war die Welt im katholischen Münsterland eigentlich ganz in Ordnung. Wie das so ist in der Provinz, die Uhren gehen langsamer, dafür sind die Stunden länger und schöner. Statt im Kinderzimmer waren wir fast das ganze Jahr an der frischen Luft. Ich will das gar nicht romantisch verklären, es war einfach so. Wir Kinder, auch die aus der Nachbarschaft, konnten im Prinzip machen, was wir wollten. Hier ging ja keiner verloren! Wenn man mittags mal nicht zu Hause war, saß man halt bei einer anderen Familie am Tisch und futterte mit.
In meiner Erinnerung habe ich die ersten Jahre hauptsächlich auf Kuhwiesen, am Bach oder in selbst gezimmerten Baumhäusern verbracht. Vormittags ging es in der Woche natürlich in den Kindergarten. Dort hatten damals noch die Nonnen das Sagen und führten ein strenges Regiment. Meine besten Kindergartenfreunde, Hermann und Andreas, waren Brüder im Geiste. Krawallbrüder, vor allem! Immer wieder stellten wir die Geduld unserer frommen Erzieherinnen auf die Probe. Regelmäßig mussten wir an einem separaten Tisch unsere Strafstunden absitzen. Wir waren zwar nicht die Fleißigsten beim Aufräumen, konnten aber sehr ausdauernd sein, wenn es um das Verzapfen groben Unfugs ging.
Gegenüber vom Kindergarten gab es eine Baustelle, wo ein neues Einfamilienhaus errichtet wurde. Damals wurde die Einfachverglasung (Doppelverglasung war noch nicht erfunden) einfach in die Fensterrahmen eingekittet. Dieser Kitt hatte es uns angetan. Mit Herzblut und Leidenschaft popelten wir in einer sorgfältig geplanten Nachmittagsaktion sämtlichen Kitt aus den Rahmen. Damit konnte man nämlich super kneten. Leider kam uns auf der Zielgeraden Schwester Hildegard in die Quere. Zur Belohnung gab es einen Satz heiße Ohren, und unsere Eltern wurden verständigt.
Mein Vater erschien am Tatort. Vor der aufgebrachten Nonne spielte er den strengen Erziehungsberechtigten, grinste aber, kaum dass wir allein waren, und brachte nur ein kopfschüttelndes „Mann, Mann, Mann!“ über die Lippen. Ein wenig Stolz schwang auch mit, angesichts unserer großen Kreativität. Als Maler war er zum Glück in der Lage, die Scheiben bereits am folgenden Samstag wieder fachgerecht einzusetzen. Damit war die Sache für ihn erledigt. Rückblickend muss ich sagen, dass mein Vater eigentlich immer sehr milde reagierte, was meine Kindergartenstreiche anging. Später strapazierte ich sein Verständnis allerdings derart, dass selbst ihm der Kragen platzte und es richtig Dresche gab.
Aber immer schön der Reihe nach.
Hermanns Vater hatte eine Bäckerei. Früher war eine Bäckerei noch eine Bäckerei. Mit Lehrlingen, Gesellen und einem Bäckermeister. Der stand nachts um zwei in der Backstube (das Wort existiert wahrscheinlich schon gar nicht mehr!), um den Ofen anzufeuern. Wenn dann in aller Herrgottsfrühe der Rest der Belegschaft kam, konnte die Produktion aus dem Stand auf Hochtouren gebracht werden. Fertigprodukte gab’s so gut wie gar nicht. Der Natursauerteig für Brote wurde jeden Tag neu angesetzt und durfte auf großen Blechen in Ruhe reifen.
Ganz fortschrittlich hatte Hermanns Papa eine riesige Knetmaschine angeschafft. Diesem Ungetüm durften wir Jungs uns höchstens auf drei Meter nähern, weil der Knethaken unerbittlich seine Kreise zog. Über der Maschine befand sich ein fünfzig mal fünfzig Zentimeter großes Loch in der Decke, das auf der Oberseite, also auf dem Dachboden, lediglich mit einer Metallplatte abgedeckt war. Mit viel Ehrgeiz und einer Brechstange gelang es uns Steppkes, besagte Abdeckung mit vereinten Kräften zur Seite zu schieben. Von oben schauten wir dann fasziniert zu, wie der Teig von dem Knethakenungetüm immer wieder gnadenlos durchgewalkt wurde. Präzise, sauber und ordentlich.
Ich weiß nicht mehr, wer von uns zuerst auf die hirnverbrannte Idee kam, aber wir holten fast gleichzeitig unsere ungewaschenen Minipimmel aus dem Feinripptempel, zielten beherzt durch die Öffnung und strullerten munter drauflos. Eine dreistrahlige Pinkeldüse wässerte den Sauerteig und verlieh ihm eine herzhafte Golden-Shower-Note. Gott sei Dank hatte unten in der Backstube niemand was bemerkt. Auch später kamen keine Klagen über saures Brot von der Kundschaft. Es hat wohl allen gut geschmeckt, wahrscheinlich auch uns Übeltätern, denn unsere Mütter kauften selbstverständlich auch in der Bäckerei ein. Lecker!
Rückblickend möchte ich diese Aktion nicht unnötig glorifizieren, doch wir waren sicher Vorreiter eines Trends, der sich später fest in der alternativen Heilslehre etablieren sollte. Wer’s nicht glaubt, kann sich heute noch das Buch Ein ganz besonderer Saft – Urin der bekannten Rundfunkmoderatorin Carmen Thomas besorgen, erhältlich in guten Buchhandlungen.
Natürlich erinnert man sich hauptsächlich an den groben Unfug, den man in der Kindheit verzapft hat. Wir waren eine muntere Truppe und hatten jede Menge Unsinn im Kopf. Trotzdem ist aus allen was Ordentliches geworden. Hermann wurde Arzt, Andreas studierte Agrarwissenschaften und bewirtschaftet heute einen großen Bauernhof.
Jahrzehnte später traf ich Hermann per Zufall in einem Club in Berlin. Ich stand am Urinal. Wie es sich unter anständigen Männern gehört, starrte ich diskret auf das Nachbargemächt, natürlich auch, um mich meiner Führungsposition nochmals zu vergewissern. Als mein Mitstreiter ansatzlos und mit unvergleichlichem Wasserdruck seine Blase erleichterte, war mir sofort klar: Diese Naturgewalt konnte nur einer entfesseln. Ohne hochzuschauen, sagte ich: „Hermann, was machst du in Berlin?“
Der Gute ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er schüttelte ungerührt seinen Urinschlegel ab, und von da an ging es rund. So mancher Liter lief noch über unsere Nieren und rief Erinnerungen an das Aroma unserer Kindheit wach. Alte Freundschaft rostet nicht …
Die Nonnen im Kindergarten hatten also alle Hände voll zu tun, uns in Schach zu halten. Die gottesfürchtigen Damen waren in der Wahl ihrer Methoden recht rustikal unterwegs. Im Namen des Herrn habe ich so viel Prügel kassiert, dass ich noch Jahre später bei Boxkämpfen von Ali, Frazier oder den Klitschkos immer an die saftigen Nonnen-Backpfeifen denken musste.
Trotzdem ging ich gerne in den Kindergarten. Morgens wurde gesungen und dann in der Morgenandacht dem lieben Gott gedankt. Tatsächlich kreisten meine Gedanken oft um unseren allmächtigen Schöpfer. Sein eigenartiges Konzept leuchtete mir partout nicht ein. Einerseits hatte er mich so erschaffen, wie ich war – andererseits ließ er mich dafür ständig von Schwester Mike Tyson verdreschen! Alles in allem ein recht eigenartiges System. Jesus, Gottes Sohn, schien noch ganz okay zu sein, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ war ja eine gute Idee. Unsere Nonnen mussten diese Stelle aber überlesen haben, oder sie mochten sie nicht so.
Weil unsere Kita ein katholischer Kindergarten war, mussten wir selbstverständlich auch dauernd in die Kirche. Für Kinder eine wahre Folter. Aufstehen, hinknien, aufstehen, sitzen, singen, hinknien. Und wehe, einer war nicht schnell genug oder quatschte dazwischen! Das zog schmerzhafte Konsequenzen nach sich. Ich kann heute noch viele Strophen von Kirchen-Oldies wie Lobet den Herren und anderen Fangesängen auswendig. Bei der Stelle in dem Song Wahrer Gott: „Preis dir, du Sieger von Golgatha, Sieger wie keiner, alleluja“, denke ich mehr an Nordkorea als an einen gütigen Vater.
Die katholische Kirche mit ihren irdischen Servicekräften ist ja insgesamt eine ziemlich spaßbefreite Truppe. Dauernd geht es um Büßen, Leiden, Schuld, Sühne und ganz viel Lustfeindlichkeit. Ihr bester Mann wurde erbarmungslos ans Kreuz genagelt. Da hat es mich als Kind nicht sonderlich verwundert, dass der irritiert vom Haken runterruft: „Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?“ Logischerweise ist das die Stelle, wo jedes Kind denkt: Echt nicht nett, den Alten würde ich keines Blickes mehr würdigen! Ich weiß noch, dass ich meinen Vater immer wieder gefragt habe, ob er mir geholfen hätte, wenn man mir so was Mieses angetan hätte. Da mein Papa mich mochte, war seine Antwort jedes Mal: „Junge, ganz klar – ich hätte dich da rausgeholt und denen ordentlich das Fell über die Ohren gezogen!“
Somit kam ich als Kind zu folgendem Schluss: Gott ist als Vater und himmlischer Teamchef schräg drauf. Dem war nicht so richtig über den Weg zu trauen. Oder wie sollte ich es verstehen, wenn beim Zubettgehen „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“ gesungen wurde? Mich beruhigte das kein bisschen. Was war denn, wenn Gott das nicht wollte? Eine Frage, die mein kleines Kinderlockenköpfchen schwer beschäftigt hat.
Wie schon gesagt: Die Kindergartenzeit war nicht die schlechteste. Trotz der unsäglichen katholischen Hardcore-Pädagogik, der strengen Nonnen und der haarsträubenden Bibel-Storys. Einzig die Geschichte, wo Jesus über den See Genezareth spaziert, überzeugt mich bis heute. Daher kommt wahrscheinlich meine spätere Begeisterung fürs Surfen. Aber mit dem Glauben hab ich es nicht so. Glauben heißt eben nicht wissen! Der vierzehnte Apostel, Lemmy Kilmister von Motörhead, hat das mal in einer brillanten Kurzanalyse auf den Punkt gebracht: „Dünne Geschichte, die christliche Religion. Jungfrau wird schwanger von einem Geist, bleibt aber Jungfrau. Sagt zu ihrem Mann, ich bin schwanger, Darling, aber mach dir keine Sorgen, ich bin ja immer noch Jungfrau. Menschen, die sich so benehmen, verdienen es, in einem Stall übernachten zu müssen.“
Tja, so war er, der gute alte Lemmy. Schlimme Musik, aber sehr unterhaltsame Zitate.
Zu Hause gefiel es mir natürlich viel besser als bei den Nonnen. Mama, Papa und Oma waren sicher auch mal von uns genervt, aber ich fühlte mich immer wohl und geborgen im Kreis der Familie. Oma war meine Nummer eins. Ihre Lebensweisheit, ihr Humor und ihr liebevoller Cateringservice machten meine Tage zu einem Vergnügen. Dieser warme Kakao zum Frühstück! „Ohne Wurst und ohne Speck hat das Leben keinen Zweck“ war Omas kulinarisches Motto. Egal was sie mir zubereitete, es war immer lecker und wurde mit Herzenswärme serviert. Wenn es sonntags Herrencreme zum Nachtisch gab, war unser Küchentisch der schönste Platz der Welt. Außerdem war die westfälische Puddingspezialität mein erster Kontakt mit Hochprozentigem.
Für alle, denen Herrencreme nicht bekannt ist: Grundsätzlich ist sie ein unverzichtbarer Bestandteil jedes echten westfälischen Hochzeitsessens. Das Grundrezept ist einfach, aber effektiv – Vanillepudding, Sahne, reichlich Schokostückchen und ein ordentlicher Schuss Rum. Allen, die jetzt entsetzt aufschreien: „Um Himmels willen, man kann Kindern doch keinen Rum geben!“, sei gesagt, dass derlei Bedenken in den Sechzigern keinen Arsch interessiert haben. Vielmehr war es so: Zu Omas Geburtstagsfeiern kamen unzählige Tanten, Onkel, Nachbarn, Freunde, von denen sich niemand einen Kopf machte, ob Zigarren- oder Zigarettenrauch schädlich für uns Kinder sein könnte. Im Gegenteil! Immer wieder wurde man aufgefordert, doch mal an der Zigarre zu ziehen oder am Pils zu nippen. Im Kinderzimmer, auf der Toilette, im Schlafzimmer, im Auto, beim Fernsehen, sogar beim Kochen wurde gepafft, was das Zeug hielt. Es gehörte einfach dazu.
Rauchen war außerdem eine Art Statussymbol. Wer rauchte, war mondän, weltoffen, modern. In Filmen qualmten die Stars fast alle mehr, als sie sprachen. Wenn Audrey Hepburn also lasziv mit eleganten Samthandschuhen an ihrer überlangen Zigarettenspitze zog, wollte Inge Müller aus Wanne-Eickel ihren Klaus genauso verführen. Die Werbung tat ein Übriges, um die Nation zu Nikotin-Junkies zu machen: „Peter Stuyvesant – der Duft der großen weiten Welt“, „Lord Extra – Genuss im Stil der neuen Zeit“, „Come to where the flavor is. Come to Marlboro Country!“
Das Wirtschaftswunder erblühte zu voller Pracht und suggerierte der geschundenen Kriegsgeneration, dass das Leben mit Fluppe einfach mehr Spaß machte.
In den Sechzigerjahren ging es langsam ans Eingemachte: Seit dem Beginn der Auschwitz-Prozesse stellte die Jugend ihren „Kriegseltern“ unangenehme Fragen und hörte laute Beatmusik. Die Studentenbewegung legte sich mit dem stockkonservativen, vermufften Establishment an. Willy Brandt wurde der erste sozialdemokratische Kanzler, die Gesellschaft geriet in Bewegung.
Von alldem bekam ich als kleines Kind im beschaulichen Münsterland nicht viel mit. Im Sommer 1972 erlebte aber auch ich den ersten großen Schock: Ich wurde eingeschult! Was für eine Katastrophe. Es soll ja Kinder geben, die wirklich gerne in die Schule wollen. Blöd nur, dass ich mir das selbst im Nachhinein nicht einreden kann. Was hat meine Familie nicht alles versucht, um mir diesen Blödsinn schmackhaft zu machen – eigener Ledertornister, Schultüte, neue Schuhe … und vor allem warme Worte, mit viel Pathos und Klugscheißerei:
„Jetzt bist du schon groß! Du bist ja schon fast ein richtiger Mann! Kein Wunder, dass du in die Schule kommst!“
„Was will denn so ein Kerl wie du noch im Kindergarten? Da sind doch nur Babys und Muttersöhnchen!“
„Große Jungs gehen in die Schule, da lernst du so viel! Du willst doch so klug sein wie der Papa!“
Ja, der kluge Papa. Wie klug Papa wirklich war, weiß ich erst heute so richtig zu schätzen. Er ersparte mir hohle Phrasen, nahm mich stattdessen in den Arm, blickte mir fest in die Augen und sagte: „Junge, lass dir nichts erzählen. Das wird jetzt vielleicht nicht immer schön. Aber wer nicht lernt, bleibt dumm. Und dumme Menschen tun dumme Dinge.“
Im Sommer 72 konnte ich mir nicht ansatzweise vorstellen, was er damit meinte. Geschweige denn, dass er jemals etwas Dummes getan hatte.