Читать книгу Dschungeltanz - Aurel Levy - Страница 12

ACHT

Оглавление

Auf dem Weg zurück ins Hotel wollte Benny wissen, was die Beule in Daisys Gesäßtasche sollte.

»Pfefferspray. In 95 Prozent aller Angriffe das Mittel der Wahl. Wenn es nur darum geht, einen Angreifer loszuwerden und keine Schusswaffen im Spiel sind«, hatte ihre knappe Antwort gelautet. Sie hatte diesen Satz mit einer solchen Selbstverständlichkeit ausgesprochen, dass Benny wissen wollte, ob sie denn schon schlechte Erfahrungen gemacht habe. Daisy hatte gelacht und gemeint: »Allerdings, und nicht nur einmal.«

So waren wir draufgekommen. Daisy hatte eine Karriere als Polizistin beim LKA Hessen hinter sich. Wurde die jüngste Hauptkommissarin Deutschlands.

Warum sie dann aufgehört habe?

»Weil ich die Schnauze voll hatte von testosterongeschwängerten Fehlentscheidungen«.

In was für einem Bereich sie gearbeitet habe?

»Kripo«, kam lapidar ihre Antwort. Schien nicht ihr Lieblingsthema zu sein. Ich kannte Daisy zwar noch nicht lange, aber diese Einsilbigkeit passte nicht zu ihr. Sonst redete sie auch, ohne zwischendurch Luftholen zu müssen.

Benny war nicht unbeeindruckt, auch wenn er das zu verbergen suchte.

Er wollte nach dem Fischessen noch an die Hotelbar und sich für die Völkerverständigung starkmachen. Mir egal. Ich war schlagartig müde geworden und schaffte gerade noch, die Klimaanlage abzuschalten. Dann schlug ich wie eine gefällte Tanne ins kühle Laken. Ohne Zähneputzen und ohne Abschminken. Ich war dermaßen platt, dass ich mich nicht einmal an die letzten Gedanken vor dem Einschlafen erinnern konnte. Schließlich kamen die Bilder. Die Alte aus der Hütte tobte und sprang mit Schaum vor dem Mund wie eine Furie hinter dem Hahn her. Die Kleine saß auf ihren Schultern und feuerte die Großmutter lautstark an. Daisy zog Handschellen und Erkennungsmarke aus der Gesäßtasche. Ob sie die Frau nicht vorläufig festnehmen solle? Sicher sei sicher. Ich winkte ab. Ich wollte wissen, wie die Sache ausging. Die alte Frau blieb stehen, um sich zu übergeben. Schwallartig brach das Blut aus ihrer Kehle. Sie wischte mit dem Ärmel über die Lippen und geiferte anschließend mit unvorstellbarem Geheul hinter dem Hahn her. Das Blut sammelte sich auf dem Lehmboden. Ich starrte in die Pfütze. Was war das? Das Blut bewegte sich. Langsam schälte sich aus dem Rot ein Gesicht. Kein Zweifel, das war Old Fucking Seizingers Hackfresse. Wie kam der in das Blut der Uroma?

Natürlich wusste ich es. Ich wusste es seit dem Augenblick, als die Feticheuse in meiner Hand den bösen Mann entdeckt hatte. Daisy war nicht klar, wie sie es übersetzen sollte, aber ich hatte ausnahmsweise mal sofort begriffen. Der gerechte Mann, ein Mann des Rechts. Erwin Seizinger war Oberlandesrichter.

Noch Fragen?

Ich träume übrigens immer tagesaktuell. Das kann Fluch oder Segen sein. Kommt ganz drauf an.

Plötzlich sprang die Tür auf. Benny stand im Türrahmen und fingerte nach dem Lichtschalter. Eine dunkle Gestalt vor dem beleuchteten Hintergrund des Hotelflurs. Zorro, der nicht an seinen Degen rankommt.

Benny gab ein ungepflegtes »Scheiße!« von sich und ließ sich auf die freie, der Tür zugewandten Seite des Kingsize-Betts fallen. Es war wieder stockdunkel im Zimmer. Ich hörte, wie Benny seine Füße aneinanderrieb. Dann plumpsten nacheinander zwei Schuhe auf den Boden.

»Hey, Malaka, schläfst du schon?«

Deutlich roch ich den Alkohol. »Jetzt nicht mehr, danke der Nachfrage.«

»Hast nix verpasst.«

»Na, dann bin ich ja beruhigt«, bemerkte ich, während ich mich auf den Rücken rollte.

»Leiden alle unter Stangenfieber, alle miteinander.«

»Wer?«

»Die da unten, an der Bar«, murmelte Benny, »Gazellen unter Stangenfieber.«

»Was?«

»Wäre doch ein geiler Titel für einen Hemingway-Roman, oder?«

»Geht so.«

Nachdem ich nun schon wach war, konnte ich das hinter mich bringen, was ich früher oder später sowieso hätte tun müssen. Ohne Licht zu machen, tastete ich mich ins Bad. Als ich jenes kurze Zeit später wieder verließ, kam mir eine Idee.

Manchmal weiß ich es selbst nicht. Mir fällt einfach was ein und ich mache es, ohne lange darüber nachzudenken. Mochte es auch völlig blödsinnig sein. So wie ein Kind garantiert in die Regenpfütze hüpft.

Trotz Dunkelheit war ich mir sicher, wo das Bett stand und in welcher Position ich mich dazu befand. Außerdem konnte ich mich an Benny orientieren. Der schnarchte.

Wie gesagt, ein spontaner Einfall. Es gab keine Frau, es war zappenduster, ich sprang einfach. Fast ohne Anlauf. Gleich würde ich flach auf dem Bett aufdotzen. Ich hatte wie ein Skispringer artig die Flossen angelegt. Dann kam die Meldung meines Körpers: Chef, bist du sicher, dass da ein Bett steht? Sollte die Matratze nicht schon längst da sein? Sicherheitshalber zog ich die Beine an. Was soll ich sagen? Meine Knie rotierten in den Boden. Meine Handflächen erreichten wenig später den Bettvorleger. Ich krachte mit meinem gesamten Oberkörper drauf. Ein Schrei ließ sich nicht unterdrücken. Allerdings gedämpft, weil ich mit Mund und Nase im feuchten Hochflorteppich steckte. Benny schreckte hoch und riss bei der panischen Suche nach dem Lichtschalter die Nachttischlampe herunter.

Als ich ein paar Minuten später mit schmerzenden Knochen auf dem Bett lag, wurde mir klar, dass ich trotz einer unglücklichen Verkettung von Fehlern ganz schön Dusel gehabt hatte. Schuld war Benny. Er hatte sich während meines Badbesuchs auf meine Bettseite gerollt und hatte dort weitergepennt. Jener Benny drehte sich nach kurzer Bestandsaufnahme auf die Seite und sagte im Wegdämmern: »Boah, Alter, du bist sowas von unberechenbar! Vor dir hab ich manchmal richtig Schiss!«

Ich stand an der Reling der Fähre und sah die Stadt an mir vorüberziehen. Manche Reiseführer bringen ihre Begeisterung für eine Stadt mit Worten zum Ausdruck wie: »Dakar – schwarze Perle am Tor zum Atlantik« oder »Dakar – Paris des Südens« oder »Dakar – viriles Kleinod zwischen gestern und heute«. Ich sah auf die niedrigen Hütten und siebziger Jahre-Betonklötze und wettete, dass sich hier niemand solche blumigen Vergleiche ausdachte. Meine Knie schmerzten mehr als in der Nacht und ich war froh, dass Kai den Inselausflug vorgeschlagen hatte.

Die Ile de Gorée liegt in der Bucht von Dakar. Wir wollten uns das alte Gefängnis ansehen und die Ruhe der Insel genießen. Erschien mir machbar, trotz meiner geschundenen Knochen.

Seitdem ich als Kind einen Spielfilm über einen lebenslang eingesperrten Gefangenen auf Alcatraz gesehen hatte, üben Gefängnis-Inseln auf mich eine ganz besondere, düstere Faszination aus. Eine karge, von allen guten Geistern verlassene Insel macht ein lebenslänglich noch trostloser.

Somit war ich etwas enttäuscht, als wir uns nach zwanzigminütiger Überfahrt dem Hafen von Gorée näherten. Gorée sah aus wie eine stinknormale Touri-Insel mit pittoresken Häusern, Kirchen und Cafés. Sogar Bougainvilleas mit ihrer üppigen Blütenpracht gab es. Überhaupt wirkte sie nicht wie die Teufelsinsel aus Papillon, von der es kein Entrinnen gab. Ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht doch besser einen Pooltag eingelegt hätte. Dann wäre ich wenigstens mit den Vorbereitungen zu meinem Medizinertest weitergekommen. So aber hatschte ich hinter den anderen die schmale Gangway hinunter. Meine Kniescheiben schmerzten bei jedem Schritt. Die gute Nachricht: Wir waren auf dem Weg zur Fähre an einem Markt vorbeigekommen. Und so hatte ich es geschafft, meine hinten offenen Gartenschlappen aus Gummi, die ich seit der Tauwurmsuche trug, gegen ein Paar nigelnagelneuer Adidas-Turnschuhe einzutauschen. Quietschgrün, aber saubequem. Balsam für meine gepeinigten Knochen.

Kai steuerte direkt auf den Hafenkiosk zu. Großartige Idee, hatte ich doch immer noch den Geschmack der Fischsalsa auf der Zunge.

»Weiß eigentlich jemand, wie wir zu dem ollen Gefängnis kommen?«, fragte Benny in die Runde.

Kai nickte, während er die eiskalten Colaflaschen verteilte. »Ich habs mir auf der Karte angeschaut. Die Insel ist nicht groß. Das Sklavenhaus muss irgendwo dort hinten liegen.«

»Augenblick, ich frag mal.« Daisy trat zu einem der metallenen Bistrotische, an dem ein gepflegt wirkender, älterer Herr Zeitung las. Er trug einen hellen Leinenanzug und ein graues Franzosenkäppi. Auf dem Tisch lagen eine Pfeife und ein bordeauxrotes Herrentäschchen.

»Pardon Monsieur, pouvez vous ...?«

»S'il vous plâit, Mademoiselle, was kann isch für sie tun?«, antwortete der Herr in beinahe lupenreinem Deutsch und sah Daisy fragend an.

»Wir, äh ...«

»Sie möschten das Sklavengefängnis besuchen, ab isch Rescht? Venez, isch bringe Sie in.«

Daisy starrte den Mann mit dem kurz geschnittenen, silbergrauen Bart an, als ob er ihr einen Heiratsantrag gemacht hätte. Der Mann faltete seine Zeitung zusammen und erhob sich. Er war klein und untersetzt und reichte Daisy die Hand.

»Enchanté, Mademoiselle, Papiss Demba Sangaré, Professeur für neuere, afrikanische Geschischte an der Üniversität von Dakar.«

Der Professeur gab uns allen die Hand. Dann marschierte er los. »Suivrez moi, bittschön, es ist nischt sehr weit.«

Benny war der Erste, der sich von seiner Verwunderung erholt hatte und sagte: »Also los, pack ma's.«

Monsieur Sangaré mochte um die sechzig sein, war auf seinen kurzen Beinen aber erstaunlich flink unterwegs. Er war ein begabter Erzähler. Bis wir zehn Minuten später vor dem terrakottafarbenen Bau standen, hatten wir einen kurzen Abriss der Besiedelung Dakars bekommen.

»Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?«, stellte Daisy endlich die Frage, die ich mir verkniffen hatte, um den Redefluss des Monsieur nicht zu unterbrechen.

»Ist leider nischt so gut.« Der Professeur lächelte ein blendend weißes Zahnpasta-Lächeln. »Isch abe in Tübin-gen studiert, s'il vous plâit. Ist aber schon lan-ge er. Wenn Sie möschten, dann komme isch mit Ihnen und erzähle ein biss-schen von der Geschischte der Sklaverei. Mon grand-père war ier auf Gorée für einige Jahre Direkteur. Informationen aus die erste And. Möschten Sie?«

Ich sah zu Kai. Der zuckte mit den Schultern. Wieder war es Benny, der reagierte. Er hatte den Zeigefinger in die Öffnung der Colaflasche gesteckt und pendelte damit hin und her.

»Super. Ist immer gut, wenn man einen Local dabei hat.«

Sangaré ließ sich Geld geben und löste die Eintrittskarten. Wenig später startete unsere Tour durch das ehemalige Sklavenhaus von Gorée. Sangaré holte aus, bevor er auf die Bedeutung des Gefangenenhauses einging. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gab es ein gut organisiertes Handelsdreieck. Schiffe fuhren mit Werkzeugen und Gebrauchsgütern von Europa nach Afrika. Mit den Erlösen der Fracht bezahlte man die Menschenjäger, die ganze Negerstämme wie Tiere einfingen (den Ausdruck Negerstamm hatte Papiss gebraucht). Die Sklaven brachte man nach Amerika, wo sie in den Südstaaten Baumwolle und Zuckerrohr pflückten. Mit dem Schiffsrumpf voller Plantagenerzeugnisse kehrten die Segler nach Europa zurück und bescherten ihren Eigentümern astronomische Gewinne. Erst das Ende des amerikanischen Sezessionskriegs durch die siegreichen Nordstaatler beendete die Sklaverei. Über zwanzig Millionen afrikanische Männer, Frauen und Kinder wurden entwurzelt und in eine grausame Zukunft geschickt.

Ein Großteil über Gorée. Der Professeur führte uns durch Kellerräume und wurde nicht müde, zu beschreiben, unter welchen Bedingungen die Menschen, zusammengepfercht wie Vieh, hier ausharren mussten, bevor sie die weite und gefährliche Seereise antreten mussten.

Die Vorstellung war beklemmend. In diesen feuchten Verliesen ohne Sonnenlicht mit all den anderen dem Tod Geweihten auf das nächste Horrorszenario zu warten. Selbst Benny, der anfangs noch über eine unbefriedigende Gesamtsituation gewitzelt hatte, war kleinlaut geworden. Endlich führte uns eine Treppe wieder nach oben. Sangaré blieb vor einer rechteckigen Maueröffnung stehen. Man sah direkt auf das im Sonnenlicht funkelnde Meer. Nach dem Rundgang durch die Katakomben verströmte dieses Bild Ruhe und Frieden. Der Professeur wartete, bis alle hinaussehen konnten, dann begann er:

»Mes amis, bittschön, ier aben wir das Tor ohne Wiederkehr, entendez?« Der Professeur deutete mit dem Zeigefinger auf das Meer. »Dort draußen warteten die grands voiliers. Die Gefangenen wurden mit Ruderbooten zu die Schiffe gebracht. Um in die Ruderboote zu kommen, mussten les hommes ins Wasser steigen und dann ins Boot klettern. Sie atten jedoch Fußketten an. Viele waren malade et faible, sie schafften es nischt in die Boote. Sie gingen einfach unter. Afrikaner können nischt schwimmen.«

»Aber hatten die Eigentümer der Schiffe denn nicht ein Interesse daran, dass möglichst viele Sklaven in die Boote kamen?« Benny, ganz Geschäftsmann, kniff die Augen zusammen.

»Absolument! Aber was glauben Sie, würde ein Sklave die wochenlange Seereise überleben, wenn er ier schon Schwäsche zeigte?«

Benny schüttelte den Kopf.

»Sie sehen, man atte so eine ganz gute Selection.« Papiss fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Aber das Schlimmste kommt noch: Viele von les prisonniers atten ... wie sagt man ... offene Aut?«

»Wunden?«, half Kai.

»Rischtisch, Wunden, s'il vous plâit. Diese Unglücklischen wurden zu eine leischte Beute für die Aie. Vor allem für die Grands requins blancs, die große, weisse Ai. Die Leute ier nennen sie bloß les cannibales, die Menschenfresser. Sie kamen mit den Segelschiffen, weil sie genau wussten, dass es gab ier immer eine gedeckte table.«

Kai schaute den Professeur an. Ich meinte, leise Zweifel in seinem Gesicht zu erkennen.

Papiss sprach ihn direkt an: »Sie glauben mir nischt? S'il vous plâit, sagt Ihnen vielleischt der Name Cousteau etwas? Commandant Cousteau, le grand exploratuer de la mer?«

Kai nickte.

»Dann darf isch ihnen sagen, dass Monsieur Cousteau direkt ier draußen mit seine Calypso gelegen hat, über viele Wochen. Und wissen Sie, was Commandant Cousteau erausgefunden hat, s'il vous plâit? Dass es ier noch eute, isch wiederhole, noch eute es gibt mehr Exemplars von die grand requin blanc, als irgendwo sonst en Afrique.«

Kai: »Ich dachte, das sei ein Spot in Südafrika. Seal Island, eine Robben-Insel. Dort haben sie auch Haikäfige für die Taucher.«

»Nono, nonono!« Sangarés ausgestreckter Zeigefinger wackelte hin und her. »Das denken die meiste! En Afrique du Sud es gibt große Geschäftsleute, aber die größten Aie gibt es hier!« Papiss war noch nicht am Ende. »Cousteau at gemacht eine beruhmte Film pour le cinema, sie aben es vielleischt gesehen. Seine Taucher und er aben mit Geräte zum Metallfinden gearbeitet. Sie aben en sable viele Eisenketten gefunden. In mansche, sie können sisch vorstellen, steckte noch Reste von Fußknochen.«

Sangaré verzog das Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen und sah dabei Daisy an.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie eine Mutti mit ihrem Baby auf dem Arm versuchte, ins Boot zu kommen, während so ein Monster ihre Beine abfieselte, weil sie es nicht rechtzeitig ins Boot schaffte.

Ich liebe das Meer, aber seit Der weiße Hai ist mein Verhältnis dazu nicht mehr unbeschwert.

Wir folgten dem Professeur über eine geschwungene Treppe ins Freie. Ich dachte darüber nach, welch glücklicher Fügung des Schicksals ich es zu verdanken hatte, in der heutigen Zeit unter derart geordneten Verhältnissen aufgewachsen zu sein. Zweihundert Jahre früher und ein paar tausend Kilometer weiter südlich und die Nachspeise hätte völlig anders geschmeckt.

Daisy lehnte an der Brüstung der Freitreppe und blickte gedankenverloren auf die Fassade des Maison des Esclaves. Seltsam – seit ich wusste, dass sie als Ermittlerin beim Landeskriminalamt gearbeitet hatte, hatte ich ein völlig anderes Bild von ihr. Sie war nun nicht mehr nur die nette Copilotin, die nicht auf den Mund gefallen war. Sie hatte eine zusätzliche Facette erhalten. Etwas Geheimnisvolles, Gefährliches. Welcher Film mochte hinter den großen Gläsern der Piloten-RayBan gerade ablaufen?

»Ich hoffe, unser kleiner Rundgang hat Ihnen gefallen«, sagte der Professeur in bestem Hochdeutsch. »Wenn ja, dann würden sich die Kinder in unserem Waisenhaus sehr über eine Spende freuen.«

Sangaré holte einen kleinen Leinenbeutel aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Kai. Der Beutel war bedruckt und zeigte zwei stilisierte Kinder, die sich unter einem Dach an der Hand hielten.

»Und ich muss Ihnen noch etwas sagen: Die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, ist tatsächlich bloß eine Geschichte.«

Benny sah den Professeur an, als hätte der ihm gerade ein paar Nasenhaare ausgerissen.

»Woher können Sie auf einmal so gut deutsch?«, machte ich meiner Verwunderung Luft.

»Danke sehr.« Papiss deutete eine Verbeugung an. »Ich habe über dreißig Jahre als Taxifahrer in Mannheim gearbeitet, bevor ich in meine Heimat zurückkehrte. Mir war klar geworden, dass Afrika meine Hilfe braucht.«

»Und die Geschichte gerade eben?«

»Sie wurde in dieser Form vom ehemaligen Direktor dieses Hauses bis in die späten Neunziger kolportiert. Neueste Forschungen haben ergeben, dass Gorée lange nicht diese Bedeutung für den Sklavenhandel zukam. Überlegen Sie nur, was sollte der Aufwand, die Menschen mit einem Schiff zuerst hier auf die Insel bringen, um sie dann mit einem weiteren Schiff nach Amerika zu verfrachten? Warum nicht gleich direkt vom Festland aus?«

»Und das mit den Haien stimmt auch nicht, nehme ich an?« Kai lächelte.

»Nein, mein Freund.« Sangaré klopfte dem fast einen Kopf größeren Kai auf die Schulter. Die Geste hatte etwas Anrührendes. Zwei ungleiche Brüder.

»Der gute Cousteau und seine Haie müssen immer herhalten, um eine Prise Drama in die Geschichte zu bringen. Du hattest den richtigen Riecher.« Er zwinkerte Kai zu. »Aber die wahre Geschichte klingt dermaßen langweilig, dass man sie niemandem zumuten kann.«

»Und die Sache mit dem Waisenhaus?«

»Ist so furchtbar real, dass ich wünschte, ich müsste euch nicht um Geld bitten. Aber es fehlt leider immer noch am Nötigsten und so sind wir auf Spenden angewiesen.«

»Was haben Sie denn mit dem Waisenhaus zu tun?« Kai klang ernsthaft interessiert.

»Ich habe es mit finanzieller Unterstützung durch deutsche Freunde gegründet. Ich habe in Mannheim neben meiner Taxifahrerei als Clown Kinderkrankenhäuser und Hospize besucht. Dort kam mir die Idee.«

»Und wie finanzieren Sie sich, wenn ich fragen darf?«

»Wie gesagt, den Großteil tragen meine Freunde aus Deutschland. Aber auch diese Führungen helfen, das eine oder andere Loch zu stopfen.«

Kai hatte seinen Geldbeutel gezückt und ohne großes Aufheben einen braunen Schein im Leinenbeutel verschwinden lassen.

»Haie ziehen immer. Es sind diese Details, die eine Geschichte interessant machen, nicht wahr? Und ganz gelogen ist es nicht. Unsere Kinder sind auch wie Haie. Zwar werden alle satt, aber sie schnappen nach Zuneigung und Nähe, wann immer sie sie kriegen können.«

Der Professeur nahm den Leinenbeutel zurück. »Besten Dank, mes amis, das ist äußerst großzügig von euch.«

Sangaré verabschiedete sich mit Handschlag von jedem und wünschte uns allen eine gute Weiterreise. Er war bereits am Ende der Straße angelangt, als er sich nochmal umdrehte und rief: »Und vielleicht erinnern Sie sich zu Hause an die kleinen Haie von Gorée.«

Ich sah auf die Visitenkarte, die er uns zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Unter dem Symbol mit den Kindern stand:

Les petits requins de La Gorée

Ich hatte eine Weile darüber nachgedacht, was Sangarés Auftritt mit meiner Situation zu tun haben könnte, war aber zu keinem belastbaren Ergebnis gelangt. Nina hatte einmal behauptet, dass einem nichts widerfahre, was nicht irgendwann einen Sinn ergäbe.

Mag sein, aber welchen?

Daisy hatte es pragmatischer ausgedrückt: Sangarés Räuberpistole brachte mit ziemlich viel Simsalabim ziemlich wenig Geld. Manche mussten sich eben ordentlich nach der Decke hinstrecken, um ihren Laden am Laufen zu halten.

Okay, kapiert. Gleich morgen würde ich mich hinter meine Unterlagen klemmen.


Dschungeltanz

Подняться наверх