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FÜNF

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Zauberspiegel gibt es echt.

Man schaut beispielsweise als Horst-Herbert hinein und augenblicklich erklingen elfengleiche Stimmen. Besingen einen Jüngling von berückender Schönheit. Augen wie glühende Kohlen, voller Leidenschaft und Tatendrang. Leicht schräg stehend, über hohen Wangenknochen. Das güldene Haar in sanften Wellen über breite Schultern fließend. Und erst die Lippen. Oh, Gott hilf, was für Lippen!

In meinem Fall war es ein stinknormaler Toilettenspiegel. In einem Frachtflugzeug der German Imperial Cargo. Dieser Spiegel war mausetot. Er würde nichts sagen, auch wenn ich ewig hineinglotzte. Und wenn er hätte sprechen können, dann hätte er kaum einen Lobgesang angestimmt. Ein Vergleich, den ich an außergewöhnlich guten Tagen zu hören bekomme, ist der zu Tim. Der von Tim und Struppi. Heute nicht. Das Einzige, was in meinem runden Gesicht momentan an Kohle erinnerte, waren die tiefen Schatten, die meine Augenringe warfen. Allerdings war das nicht weiter verwunderlich. Seit dem Augenblick, als ich Kai zum zweiten Mal am Telefon hatte, war ich schwer am Rumhektiken gewesen. Das geht mir immer so, bevor ich wegfahre. Ich versuche vor der Abreise noch so viele Dinge zu erledigen, dass es immer in Stress ausartet. Erst wenn ich im Flieger sitze, fahre ich runter. Dieses Mal war es besonders knapp. Unser Flug sollte um kurz nach Mitternacht Richtung Dakar starten. Folglich sah ich kein Problem darin, zur besten Vorabendsendezeit unseren Komposthaufen nach Tauwürmern zu durchwühlen.

Nein, ich bin nicht völlig gaga! Vielleicht aber eine Erklärung schuldig. Manche Menschen halten sich Papageien als Haustier, andere schwarz-weiß-gescheckte Ratten, dritte haben so einen Riesenschlangen-Fetisch. Ich besitze zwei Bartagamen. Sandfarbene Echsen, die aus Australien stammen und ungemein zutraulich werden können.

Wann immer ich auf Reisen gehe, versuche ich mein latent schlechtes Gewissen damit zu beruhigen, dass ich den beiden vorher noch etwas Gutes tue. Die Jungs lieben Tauwürmer. Dem Kind sein Fruchtzwerg ist der Bartagame ihr Wurm. Vor allem Fittipaldi kann nicht genug bekommen. Seit ich Keke dazugesetzt habe, frisst er wie ein Scheunendrescher. Konkurrenz belebt das Geschäft, anscheinend auch bei Bartagamen.

Fittipaldi und Keke sonnten sich unter ihrer UV-Lampe. In munterster Sandwichstellung übereinandergestapelt. Ich schwenkte lecker Würmchen vor ihrer Nase. Noch bevor einer der beiden zuschnappen konnte, wurde ich schlagartig hochgerissen.

»Hey!«, empörte ich mich und wusste doch im selben Moment, dass es keinen Sinn machte, Widerstand zu leisten. Zwar war Benny einen Tick kleiner als ich, besaß aber die Muskulatur eines Turners und verfügte über die Kraft eines Preisboxers. Zudem war er weit über die Grenzen Feldmochings als Taekwondo-Großmeister bekannt und gefürchtet. Selbst die Halbstarken aus der S-Bahn-Unterführung machten eine Gasse frei, wenn er daherkam.

Dieser Großmeister hatte mich über die Schulter gelegt und trug mich in Richtung Wohnungstür. Vorbei an Jil, die freundlich vom Sofa herüberwinkte. Mein Einwand, dass mir gerade einer der Gartenpantoffel vom Fuß gefallen sei, Afrika ohne Schuhe aber extrem uncool, wurde von Benny ignoriert. Er stopfte mich auf den Vordersitz seines ferrariroten 79er Alfa Romeo GTV, sprang selbst hinter das Lenkrad und startete den Motor.

Gerade als der Großmeister die Handbremse gelöst hatte, klopfte es an mein Fenster.

Ich kurbelte das Fenster hinunter.

»Hier ist deine Slippers. Keine Angst, Topsi, ick mack das schon mit die Wormer!« Jil reichte mir den Gummi-Puschen und nahm den Tauwurm entgegen.

Schon brauste der Großmeister mit quietschenden Reifen davon.

Ich glaube, nein, ich weiß, dass der Flug nach Senegal in dieser Nacht auch ohne Bennys Überzeugungsgabe und ohne seine Erfahrung aus diversen Oldtimer-Bergrennen stattgefunden hätte. Allerdings ohne uns. Denn die Strecke München-Feldmoching nach Frankfurt-Kelsterbach ist selbst an einem ganz normalen Dienstag-Abend vierhundertdreißig Kilometer lang. Auf meine Frage, weshalb wir nicht einfach früher losgefahren seien, erklärte mir Benny, dass er dies über eineinhalb Stunden hinweg angemahnt habe, es aber durch den Hinweis auf unaufschiebbare Projekte meinerseits mehrfach abgeblockt worden sei. Erst als klar wurde, dass die Reise ins Land der brasilianischen Nymphomaninnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne uns über die Bühne gehen würde, habe er sich zu Zwangsmaßnahmen genötigt gesehen.

Was ich Benny wirklich hoch anrechne, ist der Umstand, dass er nicht eine Sekunde lang den Max machte. Wobei das nicht ganz stimmt. Als ich direkt nach unserer Abfahrt – unschlüssig darüber, wohin mit meinen Händen – nach einem geeigneten Ablageplatz suchte, hob Benny warnend den Finger. Ich solle mich unterstehen. Er würde mich mit der Nase an seiner Chromstoßstange einhängen und den Rückwärtsgang einlegen, sollte ich bloß auf die Idee kommen, meine Tauwurmfinger an seinen Ledersitzen abwischen zu wollen.

Benny ist ein lässiger Hund, aber mit seinem Auto spießert er ein bisserl herum. Also verzichtete ich auf eine Belehrung, dass Wurmkacke quasi geruchsneutral war und in Ländern mit Humusmangel in Gold aufgewogen wurde. Er würde in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen.

Rekordverdächtige zwei Stunden vierzig später schwenkten wir auf den Parkplatz für Cargo-Piloten ein, passierten die Sicherheitskontrolle und wurden von Kai und seiner Copilotin stürmisch begrüßt.

Alles wäre so unfassbar glatt gelaufen, wäre mir nicht im letzten Moment eingefallen, noch eben mal die Mails zu checken. Schwachsinnige Einfälle bestraft der Direktor des Universums bekanntlich sofort.

Im Gegensatz zu dir halten sich manche Männer an ihre Versprechen. Erinnerst du dich?

Du würdest in Jura keinen Fuß auf den Boden kriegen.

Nun willst du dich also in Medizin versuchen? Nur zu, Glück auf! Aber wundere dich nicht, wenn das mit dem Studienplatz nicht klappt ...

E.S.

Besten Dank und mit LG zurück!

Was sollte das E.S., wenn mit dem Absender family-seizinger@t-online.de sowieso klar war, von wem das Ding stammte? Ich halte nichts von Abkürzungen und schon gar nicht in einem Drohbrief. Jetzt mal ehrlich, wie blöd muss man sein, dass man einen Drohbrief mit seinen Initialen unterschreibt? Entweder ich machs gescheit, weil ich bin die Mafia oder einer der Salafisten-Brüder. Aber dann steht unter meinem Bekennerschreiben Don Corleone oder ein cooles RAF-Logo und nicht E.S. für Erwin Seizinger.

Trotzdem versaute mir Old Seizinger irgendwie den Abend.

Gleich nach dem Start in Frankfurt hatte ich mich hingelegt. Rein körperlich war mir nach soliden zwanzig Stunden Schlaf zumute. Dennoch fand ich keine Ruhe. Woher zum Teufel wusste der Alte, dass ich mich für einen Medizinstudienplatz bewerben wollte? Ich hatte seit unserer Trennung nichts mehr von Carola gehört, geschweige denn mit ihr gesprochen. In einer konzertierten Aktion hatte mich ihr gesamter Freundinnenkreis von ihren Facebook-Freundeslisten gekickt. Was okay war. Wir hatten uns sowieso nie viel zu sagen gehabt.

Wie also hatte Seizinger von meinen Studienplänen erfahren? Und konnte er wirklich verhindern, dass ich in München einen Studienplatz bekam? In Jura von mir aus, aber in Medizin? Die Plätze wurden von der ZVS verteilt, nach strengen Vergabeschlüsseln. Da kam es doch auf Vitamin B nicht an. Oder etwa doch?

Der Alte hatte sich immer aufgeblasen, mit welchen hochgestellten Münchner Persönlichkeiten er dicke war. Vermeintlich hatte er beste Kontakte ins CSU-Hauptquartier und in die Spitzen sämtlicher Ämter und Behörden. An seinem Mittagstisch gaben sich Präsidenten und Direktoren die Klinke in die Hand. Angeblich. Gesehen hatte ich in meiner Carola-Ära niemanden. Der alte Seizinger war der Prototyp von Platzhirsch featuring J.C. Großmaul. Ich schwöre, ich werde nie mehr eine Frau anfassen mit solch einem Vater! Benny sagt immer, man müsse sich die Mütter angucken, da würden die Töchter figürlich auch irgendwann landen. Scheiß auf die Figur, ehrlich! Was interessiert mich die Figur meiner Ex, wenn mir ihr gestörter Alter mit der Machete hinterherrennt?

»Baust du da drinnen Schwammerl an oder was wird das?« Kein Zweifel, wer an die Toilettentür klopfte.

»Ich habs gleich.«

Egal ob Passagierflugzeug oder Frachtbomber – kennste eine, kennste alle. Sie haben beide, wenn es drauf ankommt, zu wenig und zu enge Toiletten. Kai hatte uns extra in die Toilettenetiquette eingewiesen. Wir hätten mit Daisy eine Dame an Bord. Somit bitte alle Geschäfte im Sitzen und hinterher den Deckel runter, weil es rausmüffele.

»Siehst du eine Chance, dass du in den nächsten Minuten rauskommst, oder soll ich mir einen Eimer suchen?«

»Jetzt mach nicht so nen Wind, bin gleichfertig.« Ich warf mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht, wischte die Hände an meiner Frisur ab und verließ die Toilette.

»Denk dran, brav hinsetzen. Wie daheim.«

Benny verzog das Gesicht. »Wenns um die ginge,« er deutete mit dem Kopf in Richtung Cockpit, »dann müsste man eigentlich Zielpinkeln von hier draußen machen. Die hat ganz schön Haare auf den Zähnen.«

»Ist was passiert?« Ich war überrascht. Nach dem Start war Benny im Cockpit geblieben und hatte sich mit Kai angeregt übers Kitesurfen unterhalten.

»Erzähl ich dir später. Aber du wirst es selbst merken«, sagte Benny und zog die Klotür hinter sich zu. Ich machte die drei Schritte zur Kaffeemaschine und fragte mich, wie alt der Inhalt schon sein mochte.

Benny hatte sich also schon mit Kais Copilotin in die Haare gekriegt. Dabei hatte sie auf mich eigentlich einen ganz netten Eindruck gemacht. Es passiert eher selten, dass mein Kumpel mit weiblichen Wesen gar nicht kann. Selbst wenn Frauen ihm signalisieren, dass sie seinem Charme nicht erliegen würden, nimmt er das von der sportlichen Seite.

Egal. So schlimm würde es schon nicht werden.

Kai hatte nicht übertrieben. Das Cockpit der McDonnel Douglas war wirklich imposant. Riesige Seitenscheiben vermittelten das Original-Enterprise-Feeling. Ich saß hinter Captain Kai Kirk und blickte auf die Lichter der Küstenlinie herab, die in schwärzester Nacht an uns vorbeizogen.

»Wo sind wir gerade?«

»Marokko«, antwortete Daisy. »Zwischen Casablanca und Agadir. Da vorne rechts sieht man schon die Kanaren.«

Ich streckte mich und schaute an Daisy vorbei. Tatsächlich konnte ich einzelne Lichtpunkte erkennen.

»Und wie weit isses noch?«

Daisy nahm ihre Navigationskarte vom Clip und breitete sie vor mir aus. Ich kannte diese Karten mit ihren vielen Linien und Zahlen von unseren Piloten. Wie Schnittmuster aus einem Brigitte-Sonderheft für Sommerkleider hatte mal eine behauptet. Es stimmte.

»Schau mal, wir sind da.« Sie tippte auf eine Stelle im Hellblau. »Marokko zieht sich bis hier runter, dann kommt die Spanische Westsahara, Mauretanien und schließlich der Senegal. Unser Computer behauptet, dass wir um 7 Uhr 28 landen, also in knapp drei Stunden.«

Daisy lächelte. Ich lächelte zurück. Es hätte mich wirklich brennend interessiert, weshalb sie mit Benny aneinandergeraten war. Daisy und Kai verstanden sich super, und Kai war ein guter Indikator, ob jemand okay war oder nicht. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Frauen kann ich wahnsinnig schlecht einordnen. Vor allem im Halbdunkel eines Cockpits. Daisy trug straßenköterfarbene Haare. Vorne kurz, im Nacken länger. Ich glaube, man sagt dazu Pagenschnitt. Oder war das ein Bob? Erinnerte mich jedenfalls an die zeitlose Eleganz unserer Bundeskanzlerin.

Daisy stammte aus Versmold. Hatte ich noch nie gehört. Kreis Gütersloh, Westfalen. Der Fettfleck Deutschlands, weil das Zentrum der Wurstverarbeitung. Daher habe sie auch ihre Figur. »Viel Pelle, wenig Taille«, ergänzte sie mit einem einen Tick zu lauten Lachen. Daisy lachte ständig, gerne über sich selbst. Es sei wie bei Hunden, hatte sie erklärt, Mischlinge seien nicht die schönsten, aber meist robust und gewitzt. Sie sei auch ein Mischling. Vater Westfale, Mutter Luxemburgerin. Von Papa habe sie die Bockigkeit, von Mama die Freude am Leben.

»Und du willst Medizin studieren? Kai hat was in der Richtung fallen lassen.«

»Wollen kann man nicht gerade sagen, aber ja, ich bewerbe mich gerade für das Wintersemester.«

»Warum machst du es, wenn du es nicht willst?«

»Weil ich reich und sexy werden möchte.«

»Aber doch nicht als Arzt«, stieg Daisy auf meine Vorlage ein, »die Zeiten sind vorbei, denke ich. Mediziner müssen heutzutage auch sehen, wo sie bleiben.«

»Bei mir reicht das Studium. Ich bekomme quasi Zeugnisgeld.«

»Echt? Cool, von wem? Von deinen Eltern?«

»Nee, von Oma.«

»Nicht schlecht. Eine reiche Oma könnte ich auch gebrauchen. Kannst du sie mal fragen, ob sie nicht noch ein süßes, kleines Mädchen adoptieren möchte? Ich kann auch ganz brav sein.« Mit fahrigen Handbewegungen richtete Daisy ihr Haar und versuchte, niedlich zu gucken.

»Vergiss es! Das nimmt dir keiner ab«, sagte Kai kopfschüttelnd.

»Meine Oma ist letzten Herbst gestorben. Sie hat testamentarisch verfügt, dass ich das ganze Erbe kriege, wenn ich den Medizin-Doktor mache.«

»Wie? Und wenn nicht?«

»Gibt es nur ein Handgeld. Aber ihren Kater darf ich behalten.«

»Das habe ich ja noch nie gehört. Entschuldige bitte, aber weshalb macht sie das?«

»Ihr Mann, also mein Großvater, war Arzt mit Leib und Seele. Scheinbar war es ihr ein Bedürfnis, dass ich in seine Fußstapfen trete.«

»Und ... warst du so gut in der Schule? Ich meine, hast du ein gutes Abi? Medizin hat doch einen NC, oder?«

»Geht so. Mit Wartesemestern und Medizinertest sollte das schon irgendwie klappen, das ist nicht das Problem.«

»Sondern? Du kannst kein Blut sehen.« Daisy gluckste.

Ich stutzte. »Woher weißt du ...?«

Ich sah zu Kai.

Der schüttelte den Kopf. »Nee, von mir nich.«

»Echt, du kannst kein Blut sehen?«

»So ähnlich. Ich kann es eigentlich schon sehen. Aber es kann passieren, dass ich mich kurz ablegen muss. Jedenfalls manchmal.«

»Plöd.« Daisy zog die eine Seite ihrer ziemlich vollen Oberlippe hoch. »Stell dir vor, du bist gerade im OP ... wobei, du müsstest ja nicht unbedingt Chirurg werden. Machst halt einen auf Radiologe. Da siehst du gar kein Blut, wenn du dich nicht an einem Röntgengerät anhaust. Oder hat Oma auch die Fachrichtung vorgegeben?«

»Nein, hat sie nicht. Aber im Studium kommt man um Blut nicht rum.«

»Klar. Und was machst du dagegen? Kann man das nicht therapieren? Heutzutage gibts doch für alles eine Therapie.«

»Yep. Genau das mache ich gerade.«

»Was ist der Stand der Dinge?«, fragte Kai, der sich nach einem Funkspruch an den marokkanischen Fluglotsen wieder einklinkte.

Ich erzählte von meiner nicht-klassischen Blutphobie, von Prangishvili und ihren Lösungsansätzen. Von der mir bevorstehenden Hypnose, einem Besuch im Schlachthof und dem geplanten Abstecher in die Pathologie.

Old Seizinger erwähnte ich nicht.


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