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2. Kapitel

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Aria

Im Schneidersitz hocke ich auf dem orangefarbenen Zottelteppich in jenem Zimmer, das eines Tages mein Büro sein wird. Mit meinem Laptop auf dem Schoß klicke ich auf mein aktuelles Projekt. Normalerweise schreibe ich Abenteuerromane mit einem übersinnlichen Touch für Jugendliche, aber seit geraumer Zeit habe ich eine andere Geschichte im Kopf, an der ich mich endlich versuchen will. Eine romantische Komödie über zwei Protagonisten, die von ihren verrückten Müttern immer wieder gemeinsam in witzige Situationen gebracht werden und schließlich die große Liebe finden.

Als ich anfange, mich in der Geschichte zu verlieren und meine Finger nur so über die Tastatur fliegen, höre ich ein seltsames Geräusch, das aus der Küche oder dem Wohnzimmer zu kommen scheint. Ich halte inne und blicke zu der offen stehenden Tür. Von meiner Position aus kann ich nichts erkennen, aber das Geräusch wird eindeutig lauter. Da ich erst eine Nacht und die Hälfte des heutigen Tages hier verbracht habe, weiß ich nicht, ob das normal für dieses Haus ist. Ich stehe auf und sehe in der Küche nach dem Rechten. Als ich nichts Auffälliges entdecken kann, umrunde ich die halbhohe Wand, die Küche und Wohnzimmer voneinander trennt, und keuche entsetzt auf.

Wasser läuft aus der Decke – nicht nur ein bisschen, sondern jede Menge. Aufgrund der Nässe gibt die weiße Gipskartonplatte nach und bröckelt auf den blauen Zottelteppich darunter. Es sieht beinahe so aus, als würde ein Gletscher in ein Meer stürzen, das inmitten meines Wohnzimmers heranwächst. Wie angewurzelt beobachte ich das Geschehen, ehe ich mich ruckartig in Bewegung setze.

Ich renne die Treppe hinauf zur Wäschekammer, rutsche auf dem glatten Linoleum aus und pralle mit der Hüfte sowie meinem Ellenbogen auf dem Boden auf. Ein scharfer Schmerz schießt durch meinen Körper, aber ich ignoriere ihn, rapple mich wieder auf und schlittere abermals über den nassen Boden. Gott sei Dank bekomme ich den Deckel der Waschmaschine auf, und als das Wasser versiegt, sende ich ein stilles Dankgebet gen Himmel. Ich bin seit einer Woche in der Stadt und brauchte dringend saubere Kleidung. Da ich nun sowohl eine Waschmaschine als auch einen Trockner besitze, beschloss ich, mich um meine gesamte Schmutzwäsche zu kümmern. Tja, damit hätte ich wohl warten sollen.

Mein Atem kommt stoßweise, während ich das Chaos um mich herum betrachte. Als ich kurz darauf wieder nach unten gehe und den Schaden in Augenschein nehme, möchte ich weinen. Gestern bei Target habe ich ein einziges Handtuch gekauft, weil ich nicht die Notwendigkeit für weitere sah, wenn meine mit dem Rest meiner Sachen in ein paar Tagen geliefert werden. Allerdings wird ein Stück Stoff allein den Wassermengen niemals Herr werden.

Ich senke die Lider und erlaube mir, eine einzige Träne zu vergießen, bevor ich tief durchatme und nach meinem Handy greife. Wie versprochen, hat mir Sara gestern die Kontaktdaten des Bauunternehmens zugemailt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dort so schnell anrufen würde, aber jetzt bleibt mir keine andere Wahl. Also gebe ich mir einen Ruck. Ein älterer Herr nimmt meinen Anruf entgegen und verspricht mir, schnellstmöglich jemanden vorbeizuschicken. Da alle meine Klamotten pitschnass auf dem Grund der Waschmaschine schwimmen, muss ich in nichts als einem meiner Lieblingsnachthemden aus Baumwolle – ich habe weder einen BH noch ein Höschen an – darauf warten, dass ein Mitarbeiter der Baufirma vorbeikommt. Ehrlich, dieser Tag könnte nicht schlimmer werden.

Okay, da habe ich mich scheinbar geirrt. Als ich die Vordertür öffne, stehe ich einem verdammt großen Kerl gegenüber. Sein blondes Haar ist länger als bei den meisten Männern, seine Augen sind so blau und klar, dass ich mein Abbild darin erkennen kann. Unter seinem engen T-Shirt zeichnen sich seine Muskeln deutlich ab. Seine Arme sind über und über mit Tattoos bedeckt, die mich fast schon magisch anziehen.

Ich kenne Tide aus meiner Kindheit. Wir waren nie befreundet, aber ich war heftig in ihn verliebt. Nicht, dass ihm das jemals aufgefallen wäre. Wir hingen nicht mit denselben Leuten ab. Himmel, wir haben nicht mal miteinander geredet. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Eltern gefällig zu sein, und er damit, Football zu spielen und jedes Mädchen zu daten, das ihn ranließ. Mehr als einen kurzen Blick oder ein Nicken im Vorbeigehen bekam ich nicht, wenn wir uns auf dem Schulflur zwischen den Unterrichtsstunden oder auf dem Weg zum Mittagessen begegneten.

Für ihn war ich nur eines der reichen Kids. Er war für mich der Junge, den ich wollte; nicht nur, weil er superheiß war – und es offensichtlich noch ist. Er war außerdem nett und hat diejenigen verteidigt, die es nicht selbst konnten. Ich kann unmöglich aufzählen, wie oft er sich für jemanden stark gemacht hat oder sich prügelte, um eines der Kinder zu beschützen, die eine Zielscheibe für Mobbing waren.

Ich wollte wie er sein. Tief in meinem Herzen hätte ich gerne den Mut gehabt, diesen Idioten zu sagen, dass sie aufhören sollen. Meinen Eltern, dass sie gefälligst erwachsen werden und endlich merken sollen, was sie mir und einander antaten. Doch ich habe nie irgendetwas davon getan, was nicht für die Person spricht, die ich einst war. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist, mich und mein Verhalten zu ändern.

»Überschwemmung.«

Dieses Wort reißt mich aus meinen Erinnerungen und ich schüttle irritiert den Kopf. Es ist offensichtlich, dass er mehr gesagt hat, aber ich habe nur das gehört. »Wie bitte?«

Er mustert mich für einen Moment, als versuche er, mich einzuordnen und herauszufinden, ob beziehungsweise woher er mich kennt, ehe er über meine Schulter hinweg ins Haus sieht. »Mein Vorarbeiter meinte, es gebe hier eine Überschwemmung.«

»Entschuldigung.« Ich bemühe mich, wieder Herr meiner Sinne zu werden, und halte ihm die Tür auf. Meine Wangen glühen. »Die Waschmaschine ... Sie muss kaputt sein. Das Wasser ist ausgelaufen und durch die Decke im Wohnzimmer gebrochen. Ich glaube, irgendetwas stimmt mit der Maschine nicht.« Himmelherrgott, könnte ich noch idiotischer klingen?

»Ich schaue es mir mal an.«

Ohne Umschweife geht er an mir vorbei und direkt nach oben, ohne dass ich ihm die Richtung weisen muss. Ich folge ihm und kann meinen Blick weder von seinem Hintern noch von seiner muskulösen Rückansicht reißen. Bisher habe ich den Rücken eines Mannes noch nie für attraktiv befunden, was offensichtlich ein Fehler war.

Im Waschraum angekommen, bleibe ich hinter ihm stehen und beobachte, wie er die schwere Maschine von der Wand zieht, als wäre sie federleicht. Er verschwindet dahinter, und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um zu erkennen, was er tut. Vergeblich. Mit meinen ein Meter fünfundfünfzig kann ich ohne Hilfe nicht mal die Sachen auf den oberen Regalen im Supermarkt erreichen. Über den nach oben geklappten Deckel der Waschmaschine kann ich erst recht nicht spähen. Tide rumort eine Weile dahinter rum und taucht wieder auf.

»Der Schlauch war nicht mit dem Abfluss verbunden. Sieht so aus, als wollte sie jemand mitnehmen, hat es sich dann aber anders überlegt.«

»Echt?« Ich betrachte das wasserspeiende Ungetüm. »Sie war im Kaufpreis des Hauses mit inbegriffen, zusammen mit dem Trockner und den Küchengeräten.«

Tide mustert mich für einen Moment. »War es eine Zwangsvollstreckung?« Er fährt sich mit einer Hand durch sein dunkelblondes Haar und schiebt sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. »Manchmal werden die Betroffenen sauer und wollen dem Käufer eins auswischen.«

»Nein«, entgegne ich und schlinge die Arme um meinen Körper. »Die ursprünglichen Besitzer lassen sich scheiden.«

»Auch eine passende Gelegenheit. Die Leute können echt fies sein, wenn ihr eigenes Leben den Bach runtergeht. Hin und wieder wollen sie andere mit hineinziehen.«

»Na super.« Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe zur Seite. »Sollte ich jemanden anrufen, um den Gasherd überprüfen zu lassen? Ich bin nicht sonderlich erpicht darauf, wegen der Eheprobleme anderer und eines Gaslecks in die Luft zu fliegen.«

Er lacht, und als ich mich zu ihm umdrehe, wirft er amüsiert den Kopf in den Nacken – und sieht ungemein gut dabei aus. Sein Lachen klingt tief und echt, was ein seltsames Gefühl in meinem Inneren auslöst. Als er mich aus seinen klaren blauen Augen anschaut, fällt mir das Atmen schwerer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich nicht an mich erinnert, dennoch kommt es mir vor, als hätte er mir soeben etwas gegeben, das nicht vielen zuteilwird.

»Ich überprüfe die Leitung.« Er klappt den Deckel der Waschmaschine hinunter, woraufhin sie wieder zu laufen beginnt, und schiebt sie zurück an die Wand. »Du bist zu hübsch, um in die Luft gejagt zu werden.«

Hat er mich gerade hübsch genannt?

Ja, definitiv. Auch wenn ein Teil von mir glaubt, dass ich mich verhört habe. Nach all den Jahren mit meinen Eltern und jenen an der Seite meines Ex-Mannes entdecke ich bei einem Blick in den Spiegel nur das, was sie in mir gesehen haben. Eine Frau mit tollen Haaren, die jedoch weder rot noch blond sind. Helle Haut und zu viele Sommersprossen. Zu große blaue Augen, volle Lippen und ein Körper, der der Norm entsprechen würde, wenn ich zu Marilyn Monroes Ära gelebt hätte. Leider gilt man mit einer Kleidergröße achtunddreißig oder gar vierzig heutzutage als unattraktiv. Dumm wie ich war, habe ich über Jahre hinweg gehungert und wie eine Irre Sport getrieben, in dem Versuch, mich diesem Ideal anzupassen.

Nicht, dass das je geklappt hätte. Ich war noch nie schmaler als eine sechsunddreißig und seit meiner Scheidung trage ich durchgehend Größe vierzig, manchmal auch zweiundvierzig. Ich denke nicht, dass ich hässlich bin; mein Erscheinungsbild finde ich passabel, aber nicht hübsch. Wenn ich darüber nachdenke, hat mich noch nie jemand so bezeichnet.

Ich drücke meine Nägel in meine Handflächen und verdränge all diese Gedanken.

»Ich werde mir mal den Schaden im Erdgeschoss ansehen und sicherstellen, dass alles richtig angeschlossen ist, bevor ich wieder gehe«, meldet sich Tide zu Wort.

»Okay«, stimme ich leise zu.

Er hält für eine Weile meinen Blick gefangen, und ich habe das Gefühl, dass er mehr darin erkennen kann, als er sollte. Als wüsste er, was in mir vorgeht und was ich denke. Der Moment zwischen uns ist vorbei, als er mir bedeutet, mich in Bewegung zu setzen. Ich folge seiner Aufforderung und laufe vor ihm die Treppe hinunter. Wie wenig ich anhabe, wird mir dabei noch bewusster als vorhin. Im Wohnzimmer angekommen, schaue ich hinauf zur Decke. Sie ist weiter gebröckelt und ein großes Loch klafft dort, wo einmal die Trockenmauer war. Das Wasser hat zudem eine Spur dunkler Flecken hinterlassen.

»Scheiße«, zischt er.

Ich drehe mich zu ihm um. »Was ist?«

»Babe, die gesamte Decke in diesem Raum muss erneuert werden.« Er senkt den Kopf. »Der Teppich auch. Vielleicht sogar der Boden darunter.«

»Wie viel?«

»Wie bitte?«

»Wie viel wird es kosten, alles zu richten?«

»Mehrere tausend.« Er mustert mich und wirkt angesichts meiner Frage überrascht.

»Na toll«, stöhne ich. Sicher, ich habe ein wenig Geld für Notfälle beiseitegelegt und auch ein bisschen für die Renovierung des Hauses, aber für diese unerwartete Katastrophe wollte ich mein Erspartes ursprünglich nicht aus dem Fenster werfen. »Vielleicht kann ich so tun, als wäre es ein Dachfenster.«

»Wie bitte?«

»Nichts.« Ich wende mich um und begebe mich in die Küche. Möglicherweise könnte ich mir das Loch zu einem Dachfenster mit einzigartiger Aussicht schönreden, aber bei dem Herd, den ich bisher noch nicht benutzt habe, will ich nichts riskieren. »Könntest du sicherstellen, dass ich nicht sterbe, wenn ich dieses Ding anstelle?« Ich klopfe mit der Hand gegen die Tür des Backofens. Gestern bei Target habe ich eine dieser billigen Kaffeekannen besorgt. Außerdem Kaffee, Cola Light, Bagels und Frischkäse, weil ich die Bagels sowohl warm als auch kalt sowie morgens und mittags essen kann.

»Sara meinte, du wärst eine berühmte Autorin«, setzt Tide an, und ich werde stocksteif, als er auf mich zukommt. »Ich denke nicht, dass du dir wegen ein paar Tausender den Kopf zerbrechen musst.«

»Ich bin nicht berühmt. Ich bin zwar Autorin, aber das ist verdammt viel Geld, wenn man nicht nur für sich selbst sorgen muss.«

Bei meinen Worten verändert sich seine Miene. »Okay, verstanden«, murmelt er, dann zieht er den Herd nach vorn und sieht dahinter nach dem Rechten. »Die Gasleitung ist in Ordnung. Du kannst ihn gefahrlos benutzen.« Er schiebt das Gerät wieder an seinen Platz. Anschließend macht er sich auf den Weg zur Haustür, hält aber mit einer Hand an der Klinke inne. »Wenn du die Materialkosten übernimmst, mache ich dir einen Deal. Ich komme nach meinem Job zu dir und kümmere mich um die Instandsetzungen. So sparst du zwar nicht viel, vielleicht ein paar hundert Dollar, aber immerhin ein bisschen.«

Mir schnürt sich die Brust zu und ein Kloß bildet sich in meinem Hals.

»Da du vermutlich zeitnah mit den Reparaturen anfangen willst, müsste ich wissen, wie wir weiter verfahren.«

Zittrig atme ich ein und wieder aus. »Du musst mir keinen Deal anbieten oder dergleichen. Ich habe Geld für die Renovierung beiseitegelegt; davon werde ich was abzwacken. Aber danke, das Angebot ist wirklich lieb.«

»Bist du dir sicher? Ich könnte ein paar Sachen besorgen und mich heute Abend an die Arbeit machen. Die Decke ist nicht mehr zu retten, aber wenn ich den Teppich gleich rausreiße, kann ich den Boden darunter vielleicht erhalten.«

»Ich möchte dich nicht darum bemühen, nachdem du bereits den ganzen Tag geschuftet hast. Ich bin mir sicher, dass du mit deiner Zeit Besseres anfangen kannst.«

Ein frustrierter Ausdruck tritt auf seine Züge. »Meine Tochter ist diese Woche bei ihrer Mom, also habe ich genug Stunden totzuschlagen. Wenn ich dabei Geld verdienen kann, umso besser.«

Tochter.

Er hat eine Tochter? Warum wusste ich nichts davon? Klar, ich bin nicht auf dem Laufenden, was das Leben meiner ehemaligen Mitschüler betrifft, trotzdem checke ich hin und wieder Facebook. Diese Info sollte es irgendwann bis zu mir geschafft haben. Er meinte, sie sei bei ihrer Mom. Heißt das, dass er mit der Mutter des Mädchens nicht mehr zusammen ist?

»Also passt dir das so?«

»Ähm, ja, natürlich. Danke noch mal für ... Tja, für alles. Ich weiß das zu schätzen.«

»Kein Problem.« Er nickt mir zum Abschied zu und tritt nach draußen. Ich erhalte nicht die Gelegenheit, die Tür zuzumachen. »Schließ ab. Ich komme nachher wieder«, ruft er mir über seine Schulter hinweg zu.

Ich tue, wie mir geheißen. »Was zur Hölle war das?«, frage ich in die Stille des Hauses.

Natürlich bleibt es mir eine Antwort schuldig, also eile ich nach oben und überprüfe, ob die Waschmaschine wirklich nicht mehr leckt. Als ich sehe, dass alles in Ordnung ist, mache ich es mir auf meiner aufblasbaren Matratze bequem und starre Löcher in die Luft, bis ich die Wäsche in den Trockner tun muss. Eines steht fest: Wenn ich Tide das nächste Mal begegne, will ich angezogen sein.

Falling for Tide

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