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Claus Beese

Der Eingang zu der Höhle war riesig und gähnte ihn als gigantisches schwarzes Loch an. Zu groß für eine Bärenhöhle, aber selbst als Tor zu einer Drachenhöhle waren die Ausmaße reichlich dimensioniert. Zögernd blieb der Mann vor dem gähnenden Schlund in die Unterwelt stehen, fasste sein Schwert noch fester, sodass die Knöchel an seiner Hand weiß hervortraten. Welch ein Wahnsinn, sich mitten im Winter so weit im Norden auf ein solches Abenteuer einzulassen. Doch sprach nicht die Sage von einem gar holden Frauenzimmer, das seit langen Zeiten von einem monströsen Drachen hier gefangen gehalten wurde? Gerüchten zufolge sollte es eine Prinzessin sein, derer sich das geflügelte Ungeheuer bemächtigt hatte. Viele Jahre hatte er mit der Suche nach Details zum Standort der Drachenhöhle verbracht, war von Ort zu Ort gezogen und hatte die Bibliotheken vieler Klöster und Burgen besucht, und nun war er sich sicher. Dieses war der Ort. Die Größe des Höhleneingangs ließ nur einen Schluss zu, es musste der Eingang zur Drachenwelt sein, die sich hier im Untergrund unter dem ewigen Eis und Schnee der Arktis befinden musste.

Er tastete nach dem Kreuz unter seinem Umhang, fühlte die Kühle des Metalls, spürte das feste Band, an dem es um seinen Hals hing. Mit tastenden Schritten bewegte er sich vorwärts, hinein in die Dunkelheit, die ihn nach wenigen Schritten verschluckte. Er verspürte die aus dem Untergrund aufsteigende warme Luft, die jedoch merkwürdigerweise gar nicht nach Drachen roch. Der Duft erinnerte ihn an etwas aus seiner Kindheit, doch konnte er nicht sagen, woran. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, und all seine gespannten Sinne lauschten in den vor ihm liegenden, nach unten führenden Tunnel hinein. Sehr tief unter ihm schienen Geräusche zu sein, doch das Klirren seines Kettenhemdes und das Rascheln seines Umhangs übertönten alles. Er verhielt, doch war unmittelbar in seiner Nähe nichts zu hören. Er schien allein in dieser fremdartigen Welt, trotzdem war ihm, als würden tausend Augen ihn beobachten.

Ein Stück weiter unten durchdrangen seine Blicke die Finsternis, die lichter wurde, wie die Nacht, kurz bevor der Tag anbricht. Er meinte, huschende Schatten zu sehen, die vor ihm den Stollen kreuzten und in kleineren Gängen verschwanden. Waren das die Trolle, von denen die nordischen Sagen berichteten? Die vielleicht zusammen mit den letzten Drachen in der Unterwelt lebten? Alles, was er bei seinen Studien gelernt hatte, war, dass man nicht sicher wusste, welche von beiden Spezies gefährlicher war. Die Trolle sollten schon manchen Menschen verspeist haben, und die Drachen wurden vielleicht mit den Überbleibseln ihrer Opfer gefüttert. Er verfluchte seinen adligen Ritterstand, der es ihm gebot, edel und hilfreich allen geknechteten Menschen zur Seite zu stehen, also auch gefangenen Prinzessinnen.

In diesem Augenblick blendete grelles Licht auf, hunderte Fackeln entzündeten sich wie auf Kommando an den Wänden und erleuchteten den düsteren Stollen. Von weiter unten erklang Hufschlag, der sich rasch näherte. Dann verstummte er, und in der Luft lag ein hohles Sausen und Rauschen und eine tiefe Bassstimme rief:

»Hohoho, meine Rentiere, auf geht es! Die wunderbarste Nacht auf Erden bricht an und wir haben viel zu tun. He! Du da! Aus dem Weg, verdammt! Halte uns nicht auf!«

Ritter Arnhold fühlte sich von unzähligen Händen zu Boden gerissen und konnte vor wimmelnden Zwergen, die auf ihm lagen, kaum erkennen, wie ein von Rentieren gezogener Schlitten über ihn in Richtung Höhlenausgang hinwegbrauste. Kurz nur sah er den alten, weißbärtigen Mann im roten Mantel, der ihm freundlich zuwinkte.

»Hohoho, armer Ritter! Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest!«

Dann knallte ein zusammengerolltes Bündel, versehen mit einer roten Schleife, vor seine Brust, und Ritter Arnhold, der sich gerade erst mühsam aufgerappelt hatte, ging erneut zu Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen, alle Lichter erloschen, als würden alle Fackeln auf einmal ausgelöscht. Erneut ein Huschen, ein Flüstern und Wispern und leise tappende Schritte, die schnell in der Dunkelheit verklangen, und Arnhold war wieder allein. Erst nach einer geraumen Weile wagte er es, sich zu bewegen. Er tastete sich auf die Beine, stolperte aber bereits nach dem ersten Schritt über das flauschige Paket, das ihn schon einmal umgeworfen hatte. Der edle Rittersmann griff danach und tapste verstört bergan. Dort musste der Ausgang liegen. Er wankte auf den immer größer werdenden Ausschnitt von Sternenlicht zu, bis er unter dem weiten Sternenzelt des Polarhimmels in der Kälte stand. Der Nordstern leuchtete so hell, dass er sich problemlos das Bündel näher betrachten konnte. Er löste das Schleifenband und entrollte einen langen flauschigen Pelzmantel, der ihn auf dem Heimweg ausgezeichnet vor der beißenden Polarkälte schützen würde.

Im Mantel steckte ein Papier, und staunend las er:

›Werter Herr Ritter,

Sie sind zu spät gekommen, der letzte Drache starb schon vor vielen, vielen Jahren, und die einzige Prinzessin, die hier lebt, habe ich geheiratet. Sie ist meine Frau und möchte gar nicht gerettet werden.

Mit weihnachtlichen Grüßen – Santa Claus.‹

Arnhold drehte sich noch einmal um und schaute in den dunklen Schlund hinein. Nun erinnerte er sich an den Duft, den er aus seiner Kindheit kannte. Es roch nach frischem Gebäck und Tannengrün, nach Wärme und Geborgenheit, nach Liebe und Heiliger Nacht.

Nach Hause kommen

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