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1.4 FASZINATION DER ANGST
ОглавлениеMit Garrett McNamara, Orlando Duque, Alexander Huber, Reinhold Messner, Steve House
Im letzten Kapitel des ersten Teils wollen wir uns einer ganz speziellen Emotion annähern, die wir alle kennen, die uns immer wieder begleitet, und die wir wohl als die unmittelbarste und intensivste aller Emotionen wahrnehmen: die Angst.
Big-Wave-Surfer Garrett McNamara sagt von sich, er verspüre im Wasser keinerlei Angst. „Ich konzentriere mich vollkommen auf den Moment und denke nicht darüber nach, was passieren könnte. In der Realität gibt es keine Angst, sie existiert ausschließlich in deinem Kopf. Ob du Angst hast oder nicht, ist ganz alleine deine Entscheidung.“
Was Garrett hier anspricht, ist ein wichtiger Punkt: Es existiert keine Angst. Sie ist ein subjektives Gefühl, das in intensivierter oder kumulierter Form außer Kontrolle geraten und sogar zu einer Panik heranwachsen kann, in der wir nicht mehr rational handeln. Deshalb erscheint es sinnvoll, sich mit seiner Angst zu beschäftigen, um diese zu kontrollieren.
Die meisten Sportler, mit denen ich gesprochen habe, sehen die Angst aber keinesfalls als negatives Gefühl. Vielmehr kann durch die Angst ein hohes Maß an positiver Energie freigesetzt werden, um in der Realität konzentrierter, gezielter und sicherer agieren zu können.
Im Moment des Absprungs ist ein gewisses Maß an Verrücktheit durchaus hilfreich.
Der Kolumbianer Orlando Duque kennt die Angst, weil es sein Beruf ist, aus furchteinflößender Höhe ins Wasser zu springen. Im Alter von zehn Jahren begann er mit dem Kunst- und Turmspringen. 1992 qualifizierte er sich für die Olympischen Spiele in Barcelona, musste aufgrund fehlender finanzieller Mittel seines Verbandes allerdings auf die Teilnahme verzichten.
Nach einem Engagement als Stuntman in einem österreichischen Safaripark wandte er sich Ende der 1990er-Jahre dem Klippenspringen zu. Eine Entscheidung, die von Erfolg gekrönt war: Bis heute gewann er elfmal den WM-Titel, 2013 und 2014 holte er zudem Gold beim FINA-Klippen- springen im Rahmen der Schwimmweltmeisterschaften. Kein anderer Klippenspringer war so erfolgreich wie Orlando Duque. Innerhalb der Szene nennen sie ihn den „Duke“.
Zu Beginn unseres Gesprächs fragte ich ihn, ob er verrückt sei.
„Ja“, lautete seine Antwort, „ein bisschen verrückt bin ich mit Sicherheit. Für das Klippenspringen brauchst du verschiedene Fähigkeiten. Es gibt aber diesen einen Moment, in dem du die Entscheidung triffst, abzuspringen. In diesem Augenblick ist ein gewisses Maß an Verrücktheit durchaus hilfreich. Dein Gehirn teilt dir klar und deutlich mit, dass du nicht springen solltest, weil du dich dabei umbringen könntest. Dein Abwehrsystem löst Alarm aus, weil du dich in Lebensgefahr befindest. Du bist sehr hoch und wirst viel zu tief fallen. Das ist die Botschaft, die du erhältst. Du nimmst sie zur Kenntnis, setzt dich aber über diese Warnung hinweg und tust es einfach.“
Die Folge ist ein Sprung, der zum Fall wird. Aus einer Höhe von 28 Metern trifft Orlando nach 2,5 Sekunden mit rund 85 km/h auf dem Wasser auf. Schmeißt man aus dieser Höhe eine Wassermelone ins Wasser, zerplatzt sie beim Aufprall, als wäre das Wasser aus Beton.
„Ich falle sehr schnell“, beschreibt Orlando seine Sprünge, bei denen er mehrere Saltos mit Schrauben ausführt, „du fühlst die Beschleunigung, du fühlst den Wind im Gesicht, er pfeift in den Ohren. Es ist ein bisschen wie Motorradfahren ohne Helm.“
Sein höchster Sprung fand im Rahmen eines Filmprojekts von einer Brücke an der Küste von Amalfi statt, aus 34 Metern Höhe ins Mittelmeer. „Das sind Sprünge, bei denen nichts schiefgehen sollte“, sagt Orlando – und was ihm dabei helfe, sei die pure Angst vor dem Fall:
„Ja, da ist Angst. Ich weiß nicht, wie es bei anderen Klippenspringern ist, aber ich habe Angst. Schließlich weiß ich, wie knallhart der Aufprall sein wird. Ich habe Angst, dass ich einen Fehler mache. Dass etwas schiefläuft. Aber gleichzeitig bin ich überzeugt davon, gut genug trainiert zu haben und vorbereitet zu sein. Deshalb hindert mich die Angst nicht daran, zu springen. Sie paralysiert mich nicht. Sie schickt mich drei Schritte im Kopf zurück. Sie hilft mir dabei, an mein Können zu glauben, mich zu fokussieren und den Sprung schließlich mit höchster Konzentration auszuführen.“
Man kann die Angst intensiv spüren. Hat man sie überwunden, fühlt man sich wahrhaft lebendig.
Während Orlando Duque seinen Fall gezielt herbeiführt, versucht Alexander Huber, einen solchen zu vermeiden. Der jüngere Bruder von Thomas Huber zählt zu den bekanntesten Extrembergsteigern unserer Zeit. Er hat im Laufe seiner Karriere einige der schwersten überhaupt existierenden Kletterrouten durchstiegen und dabei immer wieder mit spektakulären Free Solos für Aufsehen gesorgt, bei denen er ohne jegliche Sicherung klettert.
Ich fragte ihn bei einem Treffen, was ihn in die Wand treibt. Er antwortete: „Ich will meinen Arsch in Gefahr bringen und ihn anschließend wieder rausholen.“
Alexander Huber war dabei allerdings wichtig, zu betonen, dass er kein „Hasardeur“ sei, wie er sagte, dass er nicht kopflos in eine Wand steige, sondern exakt wisse, worauf er sich einlasse. Dennoch wolle er sich einer gewissen Gefahr aussetzen und seine mentale Kraft dagegensetzen. Dabei spiele die Angst eine wichtige Rolle:
„Wir können nur wachsen, wenn wir uns unseren Ängsten stellen. Die Angst vor dem Absturz, das ist die Urangst vor dem Abgrund. Beim Klettern ist diese Angst ein wichtiges Regulativ, um mit Sorgfalt vorzugehen und volle Konzentration auszulösen. Ich kann die Angst intensiv spüren, gerade beim Free Solo, wo die Gefahr schon krass vorhanden ist. Ein Absturz bedeutet den sicheren Tod. Aber wir unterscheiden zwischen objektiver und subjektiver Gefahr. Bei Expeditionen im Himalaya kann dich eine Lawine oder ein Steinschlag erwischen. Das sind unkontrollierbare Einflüsse von außen. Free Solo ist ehrlicher, weil ich es selbst in der Hand habe. Die größte Barriere dabei ist es, den Boden zu verlassen und in die Wand einzusteigen. Das ist die Entscheidung, die ich treffen muss: Dass ich mich die nächsten zwei oder drei Stunden in einer Einbahnstraße befinde. Es geht nur noch nach oben. Wenn ich dann aus der Wand aussteige, verspüre ich die totale Freiheit. Man kann die Angst intensiv spüren. Hat man sie überwunden, fühlt man sich wahrhaft lebendig … dann hat man einen erinnerungswürdigen Moment in seinem Leben gefischt.“
Den Rest der Welt gibt es nicht mehr. Mein Kosmos reduziert sich auf die Stellen, an denen meine Hände und Füße mit dem Berg verbunden sind.
Reinhold Messner.
Er ist wohl eine jener Persönlichkeiten, die kaum vorgestellt werden müssen. Mir kommt es so vor, als hätte sein Name bereits den Informationsgehalt einer ganzen Biografie.
Dennoch in kurzen Worten: Als erster Mensch bestieg er ohne mitgeführten Sauerstoff den Mount Everest, den mit 8.848 Metern höchsten Berg der Erde. Zudem bestieg er als erster Mensch alle 14 Achttausender.
Messner durchquerte zu Fuß die Antarktis und die Wüste Gobi, er saß für die italienischen Grünen im EU-Parlament, veröffentlichte mehr als 50 Bücher und kann übrigens nicht schwimmen, was er, wie er mir erzählte, auch nicht mehr lernen werde, weil er dafür keinen Anlass sehe.
Leider habe ich nicht das Glück gehabt, Reinhold Messner persönlich zu treffen. Es war ein telefonisches Interview, auf das ich wochenlang warten musste, bis ich ihn dann eines Nachmittags am Hörer hatte.
Er kam mir atemlos vor, das Interview war zeitlich exakt terminiert, es war, also wolle er keine Sekunde unnötig verstreichen lassen. Ich stellte kurze Fragen und bekam auf jede von ihnen ein Donnerwetter von Antwort, wie in Stein gemeißelt, es war eines jener Interviews, die ich kaum bearbeiten musste, ich transkribierte einfach nur Wort für Wort vom Diktiergerät, und alles war gut.
Natürlich ging es auch im Gespräch mit Reinhold Messner um die Gefahr, der er sich seit Jahrzehnten gezielt aussetzte; um die Frage, warum man immer wieder aufbricht, auf einen Berg steigt und dort dann in erster Linie zusieht, dass man dabei nicht draufgeht.
„Grundsätzlich gibt es so viele Gründe, bergzusteigen, wie es Menschen gibt, die Berge besteigen“, sagte Messner, „und ein Berg ist entweder gefährlich oder es ist kein Berg. Ein Berg ist eine hohe, geologische Formation, eine lebensfeindliche Umgebung. Es gibt nun einmal die Schwerkraft – und wenn sich hoch oben ein Stein löst, dann bedroht er denjenigen, der von unten nach oben steigt. Das Gleiche gilt für den Schnee, für die Lawinen, für den Eisschlag. Je höher ich steige, desto stärker sind die Winde, desto kälter wird es, desto geringer ist die Konzentration an Sauerstoff. Mit einem Berg ist für den Menschen immer eine Gefahr verbunden. Gottfried Benn hat einmal gesagt: Bergsteigen ist am Tod pro- voziertes Leben. Wir Bergsteiger suchen also ein intensives Lebensgefühl über die Möglichkeit umzukommen. In meinen Worten: Bergsteigen ist die Kunst, dort hinzugehen, wo man umkommen müsste, um nicht umzukommen. Wenn ich a priori nicht umkommen kann, ist das Bergsteigen keine Kunst und somit auch kein Bergsteigen mehr.“
Mit dem Bergsteigen einher geht die Angst, die für gewöhnlich auftritt, so wie wir uns in Gefahr begeben. Wie für Alexander Huber ist aber auch für Reinhold Messner die Angst mitnichten ein störendes Gefühl, das schlotternde Knie auslöst, sondern vielmehr eine als vielschichtig anzusehende Reaktion von Geist und Körper, die uns dabei hilft, in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation nach Möglichkeit keinen Fehler zu begehen.
„Bei der Angst kommen die instinktiven menschlichen Kräfte zum Tragen. Die Angst sagt mir: Bis hierher und nicht weiter! Dieser Überlebensinstinkt ist unser wichtigster Helfer. Es gibt allerdings verschiedene Ängste. Die Angst kann im Vorfeld kommen, lange bevor ich losgehe. Wenn ich in meinem Bett liege und über eine Expedition nachdenke, gibt es keinen Grund, nicht einzuschlafen. Ich liege trotzdem wach. Weil ich Angst habe, auf dem Everest könnte mich eine Lawine erwischen oder mein Kocher kaputtgehen. Ich muss mich auf alle Gefahren vorbereiten, die auf mich zukommen könnten. Dann werden diese Ängste nachlassen. Was ich meinen Ängsten entgegensetzen kann, ist meine Aktivität. Mein Tun, mein Können und meine Erfahrung. Ich darf nicht warten. Beim Warten sind die Ängste größer und schlimmer als während einer Aktion. Setze ich der Angst aber meine Sicherheit entgegen, löst sie sich auf. Dann kann ich vollkommen konzentriert klettern. Den Rest der Welt gibt es nicht mehr. Mein Kosmos reduziert sich auf die Stellen, an denen meine Hände und Füße mit dem Berg verbunden sind. Mensch und Fels sind eins, es gibt keinen Zweifel mehr, alles ist im Fluss. Und in diesem Fluss steigt es sich leichter, so entstehen Erfolge, über die andere Menschen nur den Kopf schütteln können.“
Reinhold Messner hat die Angst geholfen, zu der Persönlichkeit zu werden, die er ist. Weil er daran gewachsen ist. Und weil er ohne Angst wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten in irgendeiner Wand an irgendeinem Berg den einen Fehler zu viel gemacht hätte.
In jedem Fall ist es Messner wichtig, zu betonen, dass er sich durch das, was er getan hat, keinesfalls über andere habe stellen wollen. Er habe es getan, weil es sein Weg gewesen sei, die Enge des heimischen Vilnößtals zu verlassen.
Mir gegenüber drückte er es so aus: „Ich bilde mir nicht ein, ich hätte etwas Wichtiges gemacht. Ich bin ja generell der Eroberer des Nutzlosen. Aber ich habe gelernt, nicht zu verzweifeln, wenn es unmöglich erscheint. Und erfolgreich bin ich nur durch das Scheitern geworden.“
Ich hatte kaum noch Geld und auch keine Wohnung. Aber ich hatte eine neue Persönlichkeit im Gepäck.
Ein Fan des Faszinosums der Angst ist auch der US-Amerikaner Steve House, den Reinhold Messner einmal als „besten Höhenbergsteiger unserer Zeit“ bezeichnete.
Steve sagte mir: „Es wäre dumm, keine Angst zu haben. Weil sie dich vor Risiken und Gefahren warnt. Der Berg zeigt dir, wie du auf die Angst reagierst. Mit der Zeit bekommst du die Fähigkeit, deine Angst zu kontrollieren, du lernst, sie in etwas Positives zu verwandeln, in Konzentration und Fokussierung. Emotionen wie die Angst sind am Berg in ihrer Intensität komprimiert und deshalb besonders aussagekräftig. In anderen, weniger gefährlichen Situationen ist der Spiegel nicht so klar. Deshalb denke ich, dass wir durch das Bergsteigen leichter zu besseren Menschen werden können. Zurück im Tal kannst du diese Fähigkeiten auf andere Bereiche des Lebens übertragen. Wenn dir etwas nicht passt, wenn du dich unwohl fühlst, dann suchst du nach der Ursache und versuchst gezielt, Abhilfe zu schaffen. So werden die Erfahrungen vom Berg zu einem Werkzeug, mit dem sich die Herausforderungen des Lebens besser meistern lassen.“
Steve House war ein junger Kerl von 20 Jahren, als er im Rahmen einer slowenischen Expedition zum 8.125 Meter hohen Nanga Parbat ins Himalaya reiste. Es waren Bilder und Impressionen, die ihn nicht mehr losließen. 15 Jahre später kehrte er zum Nanga Parbat zurück und durchstieg an diesem mystischen Berg gemeinsam mit seinem Partner Vince Anderson den Zentralpfeiler der Rupalflanke, die mit 4.100 Metern höchste Steilwand der Erde.
Die Durchsteigung im Alpinstil gilt als eine der extremsten bergsteigerischen Leistungen der vergangenen 20 Jahre, für die Steve und Vince 2005 mit dem 15. „Piolet d’Or“ ausgezeichnet wurden.
Sechs Tage waren die beiden in der Wand, zwei Tage dauerte der Abstieg, Steve verlor in dieser Woche zehn Kilo Körpergewicht. Was bleibt von einer Expedition wie dieser?
„Was bleibt, ist man selbst. In einer veränderten Form. Als ich vom Nanga Parbat zurück in die USA kam, hatte ich kaum noch Geld und auch keine Wohnung. Aber ich hatte eine neue Persönlichkeit im Gepäck.“