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1.2 MAGIE DER NATUR
ОглавлениеMit Michael Weiss, Emelie Forsberg, Gerlinde Kaltenbrunner, Thomas Huber, Bode Miller, Christian Hoffmann, Rebecca Rusch, Garrett McNamara, Bjørn Dunkerbeck
„Die Hälfte der Menschen bekommt doch mittlerweile ihre E-Mails aufs Handy.“ – Das sagte mir der österreichische Triathlet Michi Weiss im Jahr 2009. Ein Satz, der zehn Jahre später bereits erstaunlich antiquiert klingt. Schon damals fühlte sich Michi von der ständigen Erreichbarkeit gestört und versuchte, dieser zu entfliehen.
„Mich beschäftigt die Schnelllebigkeit. Ich bin einer von denen, die sich gerne ablenken lassen. Von technischen Geräten, von all diesen neuen Medien. Dazu kommt das ständige Herumfliegen, einchecken und wieder auschecken. Ich bin so viel unterwegs und lasse mich dann auch schnell von meiner Umwelt stressen. Deshalb ist die Entschleunigung ein ganz wichtiges Stichwort für mich.“
In der Natur finde er die Ruhe und die Zeit zum Nachdenken. „Hier werden mir viele Dinge erst wirklich bewusst. Weil ich alleine für mich sein kann.“
Michi Weiss war U23-Europameister im Mountainbiken und nahm an den Olympischen Spielen in Athen 2004 teil, ehe er zum Triathlon wechselte. 2011 wurde er Weltmeister im Cross-Triathlon, inzwischen zählt er zur Weltelite auf der Langdistanz, hat bis heute acht Ironman®-Rennen gewonnen. Ob er sich dabei in den USA oder Argentinien, in Mexiko oder Österreich aufhielt – es war immer sein spezielles Verhältnis zur Natur, aus dem Michi die Energie für seine stundenlangen Trainingseinheiten und seine beinharten Wettkämpfe gewann.
Im Jahr 2009 zog er nach Colorado Springs, wo er bis 2018 lebte. „Drüben in Colorado war ich viel beim Freeriden. So ein weites Land, kaum Zivilisation, das ist Natur pur. Es kann vorkommen, dass du einen Berglöwen siehst und ein bisschen fester in die Pedale trittst. Aber auch an anderen Orten hat mich die Natur immer wieder in ihren Bann gezogen. Bei der Xterra-WM auf Maui fährst du im Nationalpark am Fuße eines Vulkans. Ein Teil der Laufstrecke führt über einen Sandstrand. Das ist anstrengend, aber du spürst die Natur mit jedem Schritt. Und als ich zum ersten Mal die Ironman®-Strecke vor Big Island abgeschwommen bin, war das Meer so klar, dass ich unter mir die Schildkröten habe tauchen sehen.“
Dabei müsse man gar nicht bis Hawaii fliegen, um die Wunderwelt der Natur zu erleben: „Beim Xterra in Kärnten schwimmst du durch den Klopeiner See, der hat Trinkwasserqualität, das gibt es nicht mehr oft auf dieser Welt. Wer möchte, kann seinen Flüssigkeitsverlust gleich im See wieder ausgleichen. Die Radstrecke ist traumhaft, später läufst du über weichen Waldboden und bemooste Wurzeln, es ist wie in einem Märchenwald.“
Als ich Michi Weiss im Jahr 2018 für ein weiteres Interview kontaktierte, hielt er sich anlässlich der Ironman®-70.3-WM im südafrikanischen Port Elizabeth auf, den Blick bereits auf den Ironman® Hawaii gerichtet, der einen Monat später stattfinden sollte.
„Die Magie dieses legendären Wettkampfs liegt in der Energie der Insel. Ich kenne keinen extremeren Triathlon. Das Schwimmen im Meer mit seinen Strömungen und Wellen, das Radfahren auf einer windigen Strecke, der Lauf über Lavafelder: Du spürst die Elemente hautnah. Sie lassen dich mit Demut ins Rennen gehen. Sie kosten dich extrem viel Kraft, schenken dir aber gleichzeitig eine ganz besondere Stärke.“
Bei seiner achten Teilnahme auf Big Island landete Michi Weiss erstmals in den Top Ten, legte dabei mit 4:11:28 Stunden die zweitschnellste jemals in Hawaii gefahrene Radzeit auf den Asphalt.
Einmal mehr war er an seine Grenzen gegangen. Dennoch gab es keinen Grund, zu pausieren. Im November siegte er beim Ironman® Mexiko, im Dezember gewann er mit dem Ironman® Argentinien in Mar de Plata die Südamerikameisterschaft.
Seit mehr als 15 Jahren auf Achse. Und kein bisschen müde. Vielmehr scheint es, als würden sein Körper, sein Geist und seine Ausdauer gerade erst zu voller Blüte finden.
Es ist die Natur, die ihn antreibt, ihm die Energie schenkt, sich immer und immer wieder zu verausgaben; die Wärme der Sonne, der rastlose Wind, ein tropischer Regenschauer. Am liebsten spürt Michi aber den natürlichen Boden unter seinen Füßen.
Warum das so ist? – „Weil es mich erdet.“
Ich denke, dass alles auf irgendeine Weise miteinander verbunden ist. In den Bergen lässt sich das besonders gut beobachten.
Emelie Forsberg trägt gerne ein Symbol in den Haaren, eine einfache Blume. „Manchmal ist es eine echte, dann wieder eine, die ich mir aus Stoffresten bastle“, erzählte mir die Schwedin, die zu den erfolgreichsten Trailläuferinnen der Welt zählt: „Ich bin sieben Jahre Stunde um Stunde durch die Berge gelaufen, ehe ich an meinem ersten Wettkampf teilnahm. Ich war immer dort draußen, weil ich es wollte. Die Blume erinnert mich daran, warum ich es tue: weil es meine Leidenschaft, weil es mein Leben ist.“
Mit Anfang 20 lief Emelie an einem freien Tag über 50 Kilometer, stundenlang auf und ab, entlang einer Bergkette, bewältigte dabei rund 4.000 Höhenmeter. „Die Strecke war wundervoll, ich konnte und wollte einfach nicht aufhören.“ Auf dem Nachhauseweg traf sie Freunde, die auf dem Weg zu einem Bergrennen waren. Emelie hatte noch Lust zu laufen, sie nahm spontan am Rennen teil und gewann.
Diese erstaunliche Begebenheit war der Start in eine Karriere als professionelle Trailläuferin. Zwar war Emelie immer noch dort draußen, weil sie es liebte, aber der erste Schritt in Richtung Wettkampf war getan, es folgten weitere Rennen und große Erfolge, von 2012 bis 2015 holte sie viermal Gold in der Skyrunner World Series, 2014 gewann sie mit einem Sieg über 80 Kilometer am Mont Blanc den WM-Titel im Ultra SkyMarathon; sie triumphierte beim Ultra Race of Champions (UROC) über 100 Kilometer und beim Transvulcania auf La Palma über 80 Kilometer, zudem holte sie bis heute sechs WM-Medaillen im Skibergsteigen.
Als ich im Januar 2015 ein telefonisches Interview mit Emelie führen sollte, hielt ich mich in Kenia auf, wo ich einen Freund besuchte. Vor dem verabredeten Termin hatte ich eine Kitestunde, die länger dauerte, als geplant. Weil ich mich noch dazu in der Zeitzone vertan hatte, war ich spät dran, und so rannte ich eine gute halbe Stunde in für mich hohem Tempo am Strand von Diani Beach entlang; dank Ebbe und weit zurückgezogenem Meer eine malerische Laufstrecke zwischen Palmen und türkisblau leuchtendem Wasser, aber – ich war im Stress.
Emelie Forsberg war damals schon mit Kilian Jornet liiert, den ich eigentlich als Interviewpartner angefragt hatte. Weil der zu dieser Zeit kein Interesse an einem Interview verspürte, vermittelte mir sein Sponsor den Termin mit Emelie. Nun hatte ich reichlich afrikanische Sonne abbekommen, erreichte das Haus meines Freundes wenige Minuten vor dem verabredeten Gesprächstermin, war erschlagen von der Hitze, müde von der Surfstunde, außer Puste vom Strandlauf und noch dazu nicht unbedingt gut vorbereitet.
Ich rief Emelie über eine wacklige Internetverbindung per Skype® an. Die Umstände für ein Interview mit einer unbekannten Person waren nicht optimal. Ich hatte keinen Bock. Ich hatte Sand in den Shorts. Ich war unentspannt und hatte Bedenken, meine Unruhe könnte sich auf das Interview übertragen, sodass es ein Gespräch würde, das auch Emelie keinen Spaß machte.
Es wählte durch. Plötzlich hatte ich eine so nette, so frische, so lebensfrohe und vergnügte Stimme im Ohr, dass sich meine Verfassung in einem einzigen Augenblick ins Gegenteil verkehrte. Es war ein wunderbares Telefonat. Locker, positiv und inspirierend; vom Äquator ins norwegische Tromsø, inmitten des Polarkreises.
Während über mir hörbar die Affen auf dem Dach herumkletterten, erzählte mir Emelie von der Insel Lyngen, wo sie vorübergehend mit Kilian Jornet gelebt hat, ein Ort, den sie wegen seiner „unglaublich puren, wirklichen Umgebung mit zerklüfteten, arktischen Bergen“ liebte.
Die Kälte schien mir in diesem Augenblick unglaublich weit entfernt. Warum sie nicht lieber am Strand abhänge, ihr Leben stattdessen in den Bergen, in unwirtlichen Regionen verbringe, fragte ich sie. „Ich denke, dass alles auf irgendeine Weise miteinander verbunden ist und zusammengehört“, sagte Emelie: „In den Bergen lässt sich das besonders gut beobachten. Am besten, man verbringt seinen Tag mit einer Kombination aus Laufen und Klettern. Ich bewege mich gerne mit Händen und Füßen gleichzeitig, dabei bin ich extrem fokussiert auf die Umgebung, die sich direkt vor mir befindet. Daraus entstehen besonders echte Momente.“
Es gibt nur die Wolken oder den blauen Himmel, und die riesigen Sechstausender liegen irgendwo dort unten.
Berge sind von Natur aus eine geeignete Kulisse für große Herausforderungen und starke Emotionen. Im Laufe der Jahre habe ich mit vielen professionellen Kletterern und Bergsteigern gesprochen, dabei traf ich ausnahmslos auf Interviewpartner, die viel erlebt, viel nachgedacht und viel zu erzählen hatten.
Die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner ist eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen der Welt. Im Jahr 2011 erreichte sie den Gipfel des 8.611 Meter hohen K2 und war damit die dritte Frau, die alle 14 Achttausender der Erde bestiegen hatte, die erste, der dies ohne zusätzlich mitgeführten Sauerstoff gelang.
„Als ich mit 23 Jahren auf dem Vorgipfel des Broad Peaks stand, da wusste ich, dass ich immer wieder kommen würde“, erzählte sie mir über den Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie ihr Leben dem Alpinismus widmen wollte.
„Seitdem suche ich die hohen Berge, diese grandiosen Dimensionen, die man im Himalaya und im Karakorum erlebt. Die Berge strahlen so eine Kraft und Wucht aus, das gefällt mir einfach wahnsinnig. Ich weiß nicht, wie intensiv andere leben. Aber ich bin mir sicher, dass ich viele Momente erlebe, die besonders intensiv sind. Sie gehen so tief, dass ich mich voll und ganz erfüllt fühle. Von diesen Momenten kann ich sehr lange zehren.“
Auch, wenn die meisten Bergsteiger immer wieder darauf hinweisen, dass der Gipfel mitnichten das Ziel, sondern erst die Hälfte des Weges markiere, weil darauf in den meisten Fällen ein potenziell ebenso riskanter Abstieg folge, sind es die Momente dort oben, die in besonderem Maße bewegen und in Erinnerung bleiben.
Auf dem Gipfel eines Achttausenders ist Eile geboten. Ein ungünstiger Wetterumschwung kann sich innerhalb weniger Minuten vollziehen. Bei Windstille ist es mal eine Dreiviertelstunde, meistens allerdings deutlich weniger. Umso intensiver wird der Moment ausgekostet.
„Es sind immer zwei oder drei Minuten, in denen gar nicht gesprochen wird“, erzählte mir Gerlinde über die Zeit auf dem Gipfel eines Achttausenders: „Ich fühle dann eine demütige Freude, eine tiefe Erfüllung, dort oben stehen zu dürfen. Es gibt nur die Wolken oder den blauen Himmel, und die riesigen Sechstausender liegen irgendwo dort unten.“
Gerlinde Kaltenbrunner beschrieb mir wunderbare Momente in lebensfeindlichen Regionen. Sie erzählte von knirschendem Schnee, der sich in ihren Worten so behaglich anhörte, als redeten wir über Kaminfeuer. Ich bekam Lust auf von Kälte errötete, eisige Wangen. Und ich bekam ein Gefühl dafür, dass die Natur uns auf viele Weisen ihre Geborgenheit schenken kann. Nicht nur im warmen Sand oder unter einem schattigen Baum; sondern überall dort, wo wir bewusst ihre Nähe suchen und uns auf die ureigene Faszination der Natur einlassen, deren Teil wir sind.
Das Gespräch liegt mehr als zehn Jahre zurück, aber ich erinnere mich noch genau daran, wie Gerlinde mir von ihrem Heiratsantrag erzählte, auf den sie mit Schmelzwasser angestoßen hatte.
Es waren -23 Grad Celsius, als ihr damaliger Lebensgefährte und Kletterpartner während einer Himalayaexpedition um ihre Hand anhielt. „Wir haben im Freien übernachtet. Die Nacht war sternenklar und mondhell, die Berge haben geleuchtet und drüben hat man den Mount Everest gesehen.“
Ich erlebe in den Bergen, wie vergänglich der Mensch ist.
Geht es um aussagekräftige Gesprächspartner in Sachen Bergwelt, führt kaum ein Weg an Thomas Huber vorbei, der mit seinem Bruder Alexander das Duo der „Huberbuam“ bildet. Weltberühmt wurden die beiden Bayern, nachdem sie im Oktober 2007 in der Rekordzeit von 2:45 Stunden die „Nose“ geklettert waren, eine rund 1.000 Meter lange Kletterroute durch eine Granitwand am El Capitan im kalifornischen Yosemite- Nationalpark, für die normale Seilschaften drei bis vier Tage benötigen.
Ich traf Thomas erstmals bei einem Sponsorentermin am österreichischen Mondsee. „Der Weg zu meinem inneren Frieden geht über die Berge. Dort spüre ich, dass ich lebe“, diktierte er mir in den Block. Ich kann mich noch genau an seinen Blick erinnern, funkelnde Augen unter buschigen Brauen, umrahmt von einer Mähne langer Haare, die ihm bis über den Rücken fielen; eine ungezähmte Erscheinung, die erkennen ließ, dass Thomas Huber kein großer Anhänger der Komfortzone mit ihren geordneten Verhältnissen ist. An seinem Händedruck, an seinem Blick, an seiner Gestik war zu spüren, dass er nach Grenzsituationen sucht, nach Wirklichkeit und Intensität.
„Das Einzigartige an den Bergen ist, dass man dort Gebiete findet, die absolut unberührt sind. Der Berg ist wunderschön, er steht für die pure Wildnis. Ich erlebe in den Bergen, wie vergänglich der Mensch ist. Man muss nur mal einen Stein in die Hand nehmen: Ein Stein ist fast unzerstörbar, keiner gleicht dem anderen. Ich finde, dass Berge etwas Göttliches haben. Oben auf dem Gipfel ist man Gott eindeutig näher. Ich bin gläubig, auch wenn ich nicht der klassische Kirchgänger bin. Meine Kirche ist die Natur, und mein Weg zu Gott geht über die Berge.“
Thomas Huber begann in den heimischen Alpen bei Berchtesgaden das Klettern, später bestieg er Berge und Gipfel rund um den Globus, von der Antarktis über Patagonien bis zum Karakorum.
Warum wird er nicht müde, loszuziehen und die Wände hochzugehen?
„Ich möchte immer weiter hinter den Horizont schauen. Deshalb suche ich mir immer wieder neue Ziele. Bei jedem neuen Weg muss man sich fragen, ob man ihn überhaupt gehen kann. Der Berg bietet dir unendlich viele Wege, er gibt dir eine Aufgabe, und du kannst sie lösen. Nur, dass es dem Berg ziemlich egal ist, ob du die Aufgabe am Ende wirklich löst.“
Aber was genau ist der Reiz daran, in einem lebensbedrohlichen Umfeld herauszufinden, ob eine selbstgewählte Tour zu begehen ist, oder ob man sich vielleicht doch verkalkuliert hat und sich plötzlich in einer mehr als misslichen Lage wiederfindet?
„In einer komplett industrialisierten Welt suchen wir Bergsteiger das Elementarste im Leben: das Überleben“, sagte Thomas: „Stell’ dir vor, du stehst nackt im Dschungel. Worum geht es dann noch? Ums Überleben! Wenn jemand einmal in seinem Leben knapp überlebt hat, dann wird er noch 20 Jahre später davon erzählen, als wäre es gestern gewesen.“
Meine Eltern haben mir nie gesagt, was ich tun sollte. Sie haben es mich einfach tun lassen.
Der US-Amerikaner Bode Miller war während seiner aktiven Karriere als Skirennläufer für seinen riskanten Fahrstil und seinen Querkopf bekannt, immer wieder griff er Funktionäre des Weltskiverbandes FIS an und warf ihnen Engstirnigkeit vor, zwischenzeitlich verließ er das US-Skiteam und reiste mit eigenem Betreuerstab durch den Weltcup, einige Winter tat er dies während der Rennen in den Alpen sogar im eigenen Wohnmobil, das er den für die Weltcup-Fahrer reservierten Hotels vorzog.
„Meine Eltern haben mir als Kind sehr viele Freiheiten gegeben“, erzählte mir Bode, als ich ihn im Jahr 2009 nach mehr als 20 Anrufversuchen endlich am Hörer hatte; trotz eines verabredeten Interviewtermins war er zwei Tage lang nicht ans Telefon gegangen, bis es ihm dann irgendwann doch noch in den Kram passte: „Meine Eltern waren der Ansicht, es sei gut, wenn ich die Dinge selbst herausfinde. Sie haben mir nie gesagt, was ich tun sollte, sondern haben es mich einfach tun lassen.“
Bode Miller wurde 2010 Olympiasieger, viermal Weltmeister und ist bis heute der einzige Athlet, der mindestens fünf Weltcup-Siege in allen fünf alpinen Disziplinen einfuhr. Aufgewachsen ist er gemeinsam mit drei Geschwistern in den White Mountains im nördlichen New Hampshire, in einem von seinen Eltern errichteten Holzhaus ohne elektrischen Strom und fließendes Wasser.
„Es gab weit und breit keine Stadt, deshalb war ich in einer sicheren Umgebung, meine Eltern brauchten sich keine Sorgen zu machen. In einer Stadt kann viel passieren, dort draußen in der Natur ist es viel sicherer. Und ich war den ganzen Tag draußen, das ganze Jahr über. Im Sommer und im Winter. Du bist allein, läufst stundenlang durch den Wald und hörst auf deine innere Stimme. Es prasseln nicht die ganze Zeit irgendwelche Sachen auf dich ein, die dich gar nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Ich habe schon als Kind viel nachgedacht und die Unabhängigkeit genossen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das tut dir gut, weil du lernst, die Konsequenzen deiner Entscheidungen zu tragen. Wenn ich mich dort draußen verlaufen hätte, wäre es meine Schuld gewesen. Das ist die Realität. Und die konnte ich schon sehr früh einschätzen, weil meine Eltern mir nicht immer alles abgenommen haben.“
Im Dunkeln zu fahren, ist ein wundervolles Abenteuer. Wer es noch nicht getan hat, dem lege ich es unbedingt ans Herz.
Über die natürliche Ruhe, über die einzigartige Stille und Klarheit einer Umgebung ohne künstliche Einflüsse habe ich 2014 ein Interview mit dem Skilangläufer Christian Hoffmann geführt.
Das Telefonat ist mir aus zweierlei Gründen gut in Erinnerung; erstens, weil ich noch heute das Gefühl habe, von einem Berggipfel aus den Sonnenaufgang zu betrachten, wenn ich an das Gespräch denke; und zweitens, weil ich das Interview unmittelbar nach seiner Beendigung versehentlich vom Diktiergerät löschte.
Wir hatten ausführlich telefoniert, ich bedankte mich für das inspirierende Gespräch, legte auf, wollte die digitale Datei benennen, und plötzlich war da nichts mehr. Ich weiß nicht, wo genau ich den Fehler begangen hatte, und es war auch nicht von Bedeutung: Von einem Telefonat, das mehr als eine Dreiviertelstunde gedauert hatte, war nichts als Stille übrig geblieben. Ich tippte das Gespräch anhand meiner zuvor notierten Fragen, die ich wenigstens als Struktur verwenden konnte, in ein leeres Dokument.
Erst als Christian das geschriebene Interview einige Tage später autorisiert hatte, berichtete ich ihm von meinem Fauxpas und dankte ihm noch einmal für unser Telefonat, das so einprägsam für mich gewesen war, dass ich es aus meinen Gedanken hatte wiedergeben können.
Christian Hoffmann wurde 1999 Weltmeister mit der 4 x 10-Kilometer- Staffel, 2002 holte er über 30 Kilometer in der Loipe Gold bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City. Später widmete er sich dem Skibergsteigen, gewann 2013 und 2014 den Skitourenklassiker „Mountain Attack“ in Saalbach-Hinterglemm.
Auf die Frage, warum sich das Skibergsteigen in den vergangenen Jahren einer immer größer werdenden Beliebtheit erfreut, antwortete der Österreicher: „Ich denke, dass die Menschen sich nach ein wenig Ruhe sehnen. Unsere heutige Welt ist schon sehr laut und hektisch. Dort draußen in der Natur finden wir eine Stille, die es sonst gar nicht mehr gibt. Die Geräusche der Umgebung sind reduziert, so können wir uns auf Dinge konzentrieren, die wir sonst nicht in ihrer ganzen Klarheit wahrnehmen würden. Und das sind verschiedene Geräusche. Unsere Atmung. Das bloße Knirschen des Schnees. Reine, echte Klänge, die im Lärm einer Skipiste schnell mal untergehen.“
Wer ein noch intensiveres Erlebnis erfahren wolle, der könne sich zusätzlich einer visuellen Stille anvertrauen und sich mit Stirnlampe in die Dunkelheit begeben.
„Eine Stirnlampe ist Pflicht, ersetzt aber nicht eine ausreichende Ortskenntnis. Schließlich bewegt man sich im alpinen Gelände, das darf man nicht unterschätzen. Wenn man die Gegend und die Hänge allerdings kennt, kann es ein unvergessliches Erlebnis sein, auch mal im Dunkeln abzufahren. Ich habe das schon bei Vollmond gemacht. In der Nacht nimmt man die Abfahrt noch viel intensiver wahr. Es ist eine Art Stille für die Augen. Die Natur ist wunderschön. In der Dunkelheit wirst du aber nicht von den optischen Eindrücken abgelenkt, kannst dich vollkommen auf dich selbst konzentrieren. Auf jeden einzelnen Schwung im weichen Schnee, auf das einzigartige Gefühl, einen Hang runterzugleiten. Häufig laufe ich auch in der Dunkelheit los und steige nach oben, während es langsam hell wird. Wenn du dann auf dem Gipfel stehst, die Stille hörst und dabei zusiehst, wie die Sonne über den Bergen aufgeht und die ganze Welt in leuchtende Farben taucht, dann ist das wirklich ein erhebendes Gefühl.“
Ähnliches empfahl mir Rebecca Rusch, die Mountainbikerin, die wir zuvor bereits kennengelernt haben. Auch sie schwärmte von einem nächtlichen Ausflug mit Stirnlampe: „Es ist wie in einem Computerspiel. Du fährst durch einen Tunnel, die Zeit fliegt vorbei, du siehst kaum etwas von der Umgebung, sondern nur die Spur, in der du fährst. Für mich ist das ein extremer Fokus, ich bin total konzentriert. Du wirst hypersensitiv, achtest auf jedes Geräusch, hörst Grillen und Eulen. Das ist wirklich einmalig. Es erinnert mich an meine Kindheit, wenn ich allein im Wald unterwegs war. Im Dunkeln zu fahren, ist ein wundervolles Abenteuer. Wer es noch nicht getan hat, dem lege ich es unbedingt ans Herz.“
Wasser auf allen Seiten, eine eigenartige Ruhe. Es war die beste Welle meines Lebens, mein perfekter Augenblick.
Nachdem wir von der Wucht der Achttausender gelesen haben, durch Wälder gestreunt sind und die Magie der nächtlichen Natur erlebt haben, begeben wir uns hinab bis ans Meer und tauchen in den Ozean ein.
Wenige Menschen haben die rohe Gewalt des Wassers so hautnah und intensiv erlebt, wie der US-amerikanische Big-Wave-Surfer Garrett McNa- mara. In Massachusetts geboren, zog er im Alter von elf Jahren nach Hawaii, wo er mit dem Surfen begann.
In der Welle von Pe’ahi vor der Nordküste der Insel Maui surfte er bald Wellen mit einer Höhe von knapp 20 Metern. Wellen in dieser Größe bewegen sich zu schnell, um mit eigener Muskelkraft angepaddelt werden zu können, weshalb sich die Surfer von Jetskis in die Wellenberge ziehen lassen, was als Tow-In-Surfing bezeichnet wird.
Im Jahr 2002 gewann Garrett den Tow-In World Cup, in den folgenden Jahren wurde er zu einer der bekanntesten und prägendsten Figuren des Surfens. Insgesamt sechsmal wurde er bis heute in verschiedenen Kategorien des in der Szene begehrten Billabong XXL Awards ausgezeichnet.
Als legendär gilt eine Welle, die Garrett im Jahr 2003 in Pe’ahi ritt, als er, von den Wassermassen einer brechenden Welle umgeben, in einem gigantischen Barrel verschwand, das einen Durchmesser von rund sechs Metern hatte. Beobachter wähnten ihn bereits vom Board gewaschen; plötzlich tauchte Garrett wieder auf und brauste noch stehend aus der tosenden Gischt.
Als ich ihn in einem Interview nach dem schönsten Erlebnis seiner Surfkarriere fragte, schilderte er mir ebendiesen Moment: „Es war eine perfekte Walze. Ich habe abgewartet, sie kam über mich, und plötzlich war ich in der Tube. Wasser auf allen Seiten, eine eigenartige Ruhe. Die Zeit scheint stillzustehen. Du bist in deiner eigenen Welt. Du spürst dein Herz nicht nur schlagen, du kannst es hören. Für mich ist die Tube der beste Platz auf Erden. Die Welle hätte mich beinahe zu tief hineingesaugt. Ich dachte schon, ich stürze. Plötzlich fegt mir ein Sturm in den Rücken, und das Ding spuckt mich wieder aus. Es war die beste Welle meines Lebens, es war mein perfekter Augenblick.“
In den kommenden Jahren erkundete Garrett McNamara Wellen rund um den Globus, von Alaska, wo er eine von einem kalbenden Gletscher ausgelöste Mini-Tsunami surfte, bis nach Teahupo’o vor Tahiti, jene fast schon mystische Welle, die aufgrund ihrer enormen Hydraulik für einige der spektakulärsten Rides überhaupt bekannt wurde.
Im Jahr 2011 tauchte dann plötzlich ein Video aus Europa auf, das die Big-Wave-Szene revolutionieren sollte. Garrett ritt am Praia do Norte im portugiesischen Nazaré eine Monsterwelle, die anhand der Videoaufzeichnungen auf eine Höhe von 23,8 Meter berechnet wurde. Die Folge waren ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde für die höchste jemals gesurfte Welle und ein Ansturm von Nachahmern und Schaulustigen auf das bislang unbeachtete Fischerörtchen an der Atlantikküste.
Die Riesenwellen von Nazaré sind Folge einer einzigartigen Topografie. Aus der iberischen Tiefseeebene läuft ein bis zu 5.000 Meter tiefer und 230 Kilometer langer Unterwassercanyon auf die Küste zu. Erst kurz vor eine Felsklippe wird das Wasser an die Oberfläche gepresst, wo sich bei passender Richtung von Wind und Swell einzelne Wellen mit bis zu 30 Meter Höhe auftürmen.
Einen solchen 100-Footer zu surfen und offiziell zu belegen, ist seitdem das Ziel dutzender Big-Wave-Surfer aus aller Welt, die während der Winterstürme auf dem Atlantik ihr Quartier in Nazaré aufschlagen.
Oben auf der Klippe steht ein inzwischen weltberühmter Leuchtturm. Von hier kann das Spektakel aus nächster Nähe und mit bloßem Auge verfolgt werden. Sponsoren reißen sich um die Bilder und Geschichten der Surfer, im Internet kursiert eine Flut an Videos, der Weltrekord wurde inzwischen mehrfach nach oben geschraubt, stand zuletzt bei rund 25 Metern.
„Rekorde sind Politik“, sagte mir Nazaré-Pionier McNamara über die immer skurriler anmutende Jagd nach dem nächsten Rekordbrecher: „Ich gehe in die Wellen, weil ich das Leben genießen will. Wellen haben eine rohe Energie, sie sind unglaublich kraftvoll. Wenn du auf ihnen stehst, fühlst du dich so klein und dennoch eng mit ihnen verbunden. Diese Nähe zur Natur hat etwas Magisches. Ich fühle mich in diesen großen Wellen einfach unglaublich wohl. Andere reiten auf einem wilden Stier, das würde ich niemals tun, das wäre mir zu riskant.“
Da die Surfer in den gigantischen Wellen voll austrainiert, akribisch vorbereitet und mit einem ganzen Stab an Betreuern unterwegs sind, kommt es in der Tat erstaunlich selten zu gravierenden Zwischenfällen. Natürlich steckt nach einem XXL-Waschgang mal eine Rippe in der Lunge; der Brite Andrew Cotton brach sich bei einem für seine Vehemenz mit einem Award ausgezeichneten Sturz in Nazaré den Rücken, steht aber längst wieder auf dem Brett.
Garrett McNamara, der wie die meisten seiner Kollegen vier bis fünf Minuten die Luft anhalten kann, musste in der kalifornischen Half Moon Bay 2016 mit ausgekugelter Schulter und gebrochenem Arm aus dem Weißwasser gezogen werden, nachdem ihn, McNamara war zu dieser Zeit schon 48 Jahre alt, ein Brecher am berüchtigten Surfspot Mavericks überrollt hatte. Todesfälle sind in den vergangenen Jahrzehnten jedoch an einer Hand abzuzählen, und das, obwohl die Natur an diesen Orten mit lebensbedrohlicher Wucht auftritt.
„Wenn eine Welle auf dich stürzt, gibt es eine Explosion. Es schleudert dich wie ein Sandkorn durchs Wasser, vollkommen außer Kontrolle. Eine große Welle kann dich im Bruchteil einer Sekunde mehr als zehn Meter tief unter Wasser drücken. Das geht auf die Ohren. Dir ist schwindlig, du weißt nicht mehr, wo oben oder unten ist. Du musst cool bleiben, Panik wäre kein guter Ratgeber. Irgendwann lässt dich die Welle los, dann suchst du die Orientierung, den Weg nach oben und schwimmst. Dabei benutze ich nur die Arme, weil die Beine zu viel Sauerstoff verbrauchen. Deine Lippen durchbrechen die Wasseroberfläche, du nimmst einen tiefen Atemzug, dann versuchst du, zu erkennen, ob eine weitere Welle anrollt und ob dein Partner auf dem Jetski in der Nähe ist, um dich aus der Gefahrenzone zu bringen.“
Und dann? Was ist dann? Warum müssen es die größten Wassermonster der Welt sein? – „Weil du hier die Gnade des Ozeans spürst. Und dich lebendiger fühlst als je zuvor.“
Wind ist magisch. Nichts als Luft, kann man ihn dennoch hören, fühlen und sehen.
Während Garrett McNamara in die Wellen paddelt oder sich von einem Jetski hineinziehen lässt, hat ein anderer Athlet den Wassersport mit einem Segel in der Hand geprägt. Der Windsurfer Bjørn Dunkerbeck gewann im Laufe seiner Karriere 168 Weltcup-Rennen sowie 42 Weltmeistertitel. Er gilt damit als der erfolgreichste Profisportler aller Zeiten.
„Meine Siege und Titel sind nach außen der wesentliche Bestandteil meiner Karriere“, sagte er mir, „es war aber auch immer wieder schön, den Wettkampf hinter sich zu lassen und das Lebensgefühl des Windsurfens zu genießen, diese reine und ungestörte Freude zu zelebrieren.“
Bjørn wurde in Dänemark geboren und wuchs auf Gran Canaria auf. Von hier aus brach er auf, um die Welt zu bereisen und das Neue zu suchen. „Ich bin über die Meerenge von Gibraltar nach Marokko gesurft, immer wieder weit hinaus aufs offene Meer gefahren, wo ich Haien, Pottwalen und Blauwalen begegnet bin. Ich war auf Fidschi, Tahiti und in Indonesien, unten in Chile, in Südafrika und auf vielen im Ozean verstreuten Inseln, um unbekannte Spots zu entdecken. Meistens waren wir mit Freunden unterwegs, sind nicht nur surfen, sondern auch tauchen und fischen gegangen, haben in einsamen Buchten stundenlang am Lagerfeuer gesessen und wunderbare Gespräche geführt.“
Es sind nicht die Wettkämpfe, von denen Bjørn besonders leidenschaftlich erzählt. Sondern seine Begegnungen und Erlebnisse inmitten der Natur, rund um den Globus, an wilden, unberührten und echten Orten. Es sind diese Momente, die zu unvergesslichen Erinnerungen wurden.
Ein interessanter Aspekt unseres Interviews war die Art und Weise, in der sich Bjørn Dunkerbeck über den Wind äußerte. Grundsätzlich nahe liegend, weil der Wind ihn rund um die Welt begleitet und ihm eine unvergleichliche Karriere ermöglicht hat; aber dennoch faszinierend, weil Surfnomade Dunkerbeck den Wind in detailliertem Facettenreichtum zu beschreiben vermag und dabei beinahe liebevoll über seinen treuen Weggefährten spricht.
„Das Schöne am Wind ist seine Vielseitigkeit, überall auf der Welt ist er anders. Ein warmer Wind ist schwächer als ein kalter. Ein Wind aus einem Tiefdruckgebiet ist böiger als ein Wind, der aus einem Hochdruckgebiet kommt. Der stärkste Wind ist immer zwischen 14 und 20 Grad Celsius. Bei höheren und niedrigeren Temperaturen wird er dünner und hat weniger Schub. Am liebsten surfe ich den Passat, der auf den Kanarischen Inseln, in Westaustralien oder auf Hawaii weht. Für mich ist der Wind wie ein komplexer Kumpel. Ich kenne ihn seit mehr als 30 Jahren und lerne trotzdem immer wieder neue Seiten von ihm kennen. Wind ist magisch. Nichts als Luft, nicht zu greifen. Dennoch kann man ihn hören, fühlen und sehen, wenn er über eine Düne pfeift, die Haare zerzaust oder das Meer aufwühlt.“
Ich möchte dieses Kapitel damit beenden, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, die Natur mit all ihrer Macht an einem möglichst lebensfeindlichen Ort zu erleben. Wir müssen nicht auf einen Achttausender steigen. Wir müssen nicht bei sengender Hitze durch eine Wüste rennen. Wir müssen uns nicht von 20 Meter hohen Wellen beinahe erschlagen lassen. Es reicht, wenn wir die Natur an uns heranlassen und den Einklang mit ihr suchen.
Jeder auf seine eigene, ganz persönliche Weise.