Читать книгу Schattenkönig - Azura Schattensang - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление„Ich hatte Euch davor gewarnt, dass sie so reagieren würde!“ Gereizt erhob sich Kyle von seinem Platz und folgte Aurelia. Er war von Anfang an gegen dieses Vorhaben gewesen, doch Norwin hatte sich nicht davon abbringen lassen. Am Morgen hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, ihr selbst die Wahrheit über ihre Vergangenheit zu sagen, doch er fürchtete um ihre Reaktion. Wahrscheinlich hätte sie ihm gar nicht erst geglaubt. Er fluchte. Warum musste die ganze Situation nur so verworren sein? Wütend auf sich selbst und auf Norwin, schritt er den Gang entlang. Hoffentlich beging Aurelia keine Dummheit. Er erreichte die Tür zu ihrem Zimmer und blieb unsicher stehen. War sie hineingegangen oder hatte sie sich einen anderen Platz gesucht? Aber wohin hätte sie gehen sollen? Sie kannte sich im Schloss nicht aus. Versuchsweise klopfte er an die Tür. Erleichtert atmete er auf, als er ihre Stimme hörte.
„Wer ist da?“ Die Worte klangen gedämpft durch das Holz.
„Ich bin es. Kyle. Aurelia, ich komme rein“, sagte er und drückte die Klinke hinunter. Verdutzt sah er auf. Sie hatte die Tür von innen verschlossen. „Aurelia. Bitte, mach die Tür auf!“
„Verschwinde!“ War alles was sie darauf zu sagen hatte.
Wenn er es gewollte hätte, hätte er die Tür mit Leichtigkeit aufbrechen können, doch zu welchem Zweck? „Aurelia!“, versuchte er es erneut.
„Ich will dich nicht mehr sehen! Verschwinde endlich!“
Ihre Worte trafen ihn härter, als er es für möglich gehalten hatte. Betrübt ließ er den Kopf hängen. Er konnte sie verstehen. Immerhin hatte man soeben ihre Vergangenheit, ihre gesamte Existenz, als Lüge enttarnt.
„Aurelia... egal was gesagt wurde. Du bist immer noch du! Daran wird sich nichts ändern.“ Er trat dicht an die Tür und lehnte die Stirn gegen das Holz. „Auch wenn du es gerade nicht hören willst. Ich bin für dich da. Ich werde immer da sein!“ Er musste sich fest auf die Unterlippe beißen, um nicht mehr zu sagen. Das Verlangen sie in seine Arme zu schließen, wie in jener Nacht vor wenigen Tagen, war schier unerträglich. Doch sie war seine Königin. Mehr als dieses Versprechen, konnte er ihr nicht geben. Auch wenn sein Herz daran zerbrach. Zerknirscht wandte er sich von der Tür ab und ging davon. Vielleicht würde sie sich bis zum Abend beruhigt haben. Ziellos begann er durch das Schloss zu wandern.
Am Abend erschienen die Bediensteten, welche Aurelia zugeteilt waren, an seinem Zimmer. Die beiden Frauen baten ihn eindringlich um Hilfe, denn Aurelia hielt die Tür immer noch verschlossen. Constantin hatte am Nachmittag ebenfalls sein Glück versucht und war ebenso gescheitert. Sie schien ihm nicht einmal geantwortet zu haben.
Allmählich verlor Kyle die Geduld. Dass sie ihn oder Constantin nicht sehen wollte, konnte er verstehen, aber wenigstens die Bediensteten sollte sie hineinlassen.
Zusammen mit den beiden Frauen erreichte er ihr Zimmer.
Laut pochte er mit der Faust gegen die Tür. „Aurelia, mach die Tür auf. Lass die Leute ihre Arbeit verrichten, danach lassen sie dich wieder in Ruhe.“
Keine Antwort.
Er pochte wieder gegen das Holz. „Aurelia! Ich breche die Tür auf!“
Stille. Kein Laut war zu hören.
„Nun gut“, sagte er zu sich selbst und zückte einen Dolch. Er hatte nicht vor die Tür zu zerstören. Dies war auch gar nicht nötig. Als Kinder hatten er und Lex sich öfter unerlaubt Zutritt zu irgendwelchen Räumen verschafft und so wusste er, wie man die Schlösser an den Türen aufhebelte. Mit wenigen, flinken Bewegungen ließ er den Hebel im Schloss klackend zurückschnappen und die Tür aufgleiten. Kyle gab ihr einen kleinen Schubs mit der Hand, sodass sie vollständig aufschwang und den Blick in das Zimmer frei gab. Er sah hinein und fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen.
Das Zimmer war leer, die Fensterläden standen offen und die Vorhänge waren heruntergerissen worden. Aurelia hatte das Bett ans Fenster geschoben, die Vorhänge an dessen Beine geknotet und scheinbar als Seil benutzt.
Kyle durchquerte das Zimmer und sah nach draußen. In Höhe des ersten Stocks endeten die Vorhänge. Die restliche Distanz musste sie sich fallen gelassen haben. Wütend über seine eigene Naivität, schlug er mit der Faust auf den Sims. Er war lange genug mit ihr zusammen unterwegs gewesen, um zu wissen, dass sie sich nicht aufhalten lassen würde, wenn sie es nicht wollte. Sie war die Klippen des Magaerus herabgestürzt und hatte überlebt!
„General Farland?“ Eine der beiden Bediensteten war an ihn heran getreten und sah ihn bestürzt an. „Was ist mit der Lady geschehen?“
Seufzend wandte er sich vom Fenster ab. „Sie hat einen Ausflug unternommen.“ Zögernd sah er sie einen Moment lang an. „Ich hoffe auf eure völlige Verschwiegenheit. Wenn sich jemand nach der Lady erkundigt, sagt ihnen, dass sie sich nicht wohl fühlt und unpässlich ist.“ Er wusste nicht warum, aber er wollte nicht, dass Aurelias Verschwinden bekannt wurde. „Verschließt die Tür und lasst niemanden herein. Auch den großen, blonden Mann mit den braunen Augen nicht.“
Die beiden Frauen warfen sich vielsagende Blicke zu. Natürlich wussten sie von wem die Rede war.
„Ich werde die Lady schnellstmöglich zurück bringen. Bis dahin...“ Er legte einen Finger auf die Lippen und die Frauen kicherten. Schnellen Schrittes verließ er das Zimmer, eilte die Gänge und Treppen hinab und marschierte geradewegs auf die Stallungen zu. Das Fenster in Aurelias Zimmer lag zwar auf der Rückseite des Hauptgebäudes, aber wenn sie Schloss Ehrenthal verlassen wollte, musste sie zwangsweise das Innentor passieren. Anderenfalls bliebe ihr nur ein waghalsiges Klettermanöver über die Mauer und die steile Bergflanke hinab. Kyle schmunzelte. Aurelia war mutig, aber nicht dumm. Sie würde nicht ihr Leben riskieren, wenn es eine wesentlich simplere Möglichkeit gab.
Ohne zu klopfen stürmte er in die Sattelkammer. Ein Stallbursche sprang erschrocken auf.
„Hat sich heute Mittag eine Lady ein Pferd geliehen und ist bisher noch nicht zurückgekehrt?“
Der Stallbursche zählte gerade vierzehn Sommer und reichte Kyle nicht einmal bis zur Schulter. Von der Frage und der schärfe der Worte völlig überrumpelt, begann er zu stottern und sein Gesicht lief puterrot an.
„Ähm... äh“, war alles was er heraus bekam.
„Die Lady war ungefähr so groß.“ Kyle hob die Hand an seine Schulter. „Sie hat lange, schwarze Haare und blaue Augen.“
Dies schien dem Jungen auf die Sprünge zu helfen, denn sein Gesicht hellte sich auf und ein verträumter Blick trat in seine Augen. „Ja. Die schöne Lady war hier. Sie wollte ein Pferd, um in die Stadt zu reiten...“
Kyle ließ den Jungen mit seinen Tagträumen in der Sattelkammer zurück, schnappte sich sein Sattelzeug und begab sich zu seinem Pferd. In Windes eile hatte er das Tier gesattelt und gezäumt. Die Sonne war bereits fast untergegangen, als er das Pferd aus dem Stall führte und aufsaß. Die Wachen an den Toren warfen ihm fragende Blicke hinterher, als er wortlos an ihnen vorbei preschte.
Aurelia ließ ihr Pferd in einem gemächlichen Tempo traben. Schloss Ehrenthal zu verlassen war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Der junge Stallbursche hatte sie so liebestoll angesehen, dass sie wahrscheinlich alles von ihm hätte bekommen können. Sie hatte sich jedoch auf ein Pferd und einen Mantel beschränkt. Selbst die Wachen hatten keine Fragen gestellt, als sie an ihnen vorbei geritten war. Grinsend blickte sie zurück, als das Schloss schon einige Meilen hinter ihr lag. Danach wandte sie sich nach Osten und ritt auf die beständig anwachsenden Gipfel des Schattengebirges zu.
Die Sonne senkte sich herab und zwang sie ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Sie stieg vom Pferd und führte es vom Weg herunter. Nach kurzem Suchen fand sie einen niedrigen Baum, an dem sie das Tier festband und sich selbst in einer Nische zwischen seinen Wurzeln niederließ.
Die Nacht war warm und angenehm. Bald würde der Sommer Einzug halten. Definitiv eine der schönsten Jahreszeiten in Canthan.
An die raue Rinde des Baumes gelehnt, lag sie noch eine ganze Weile wach und dachte über ihr weiteres Vorhaben nach. Sie musste gestehen, dass ihr Aufbruch ziemlich überstürzt und unüberlegt gewesen war. Doch sie hätte es auf dem Schloss keinen Moment länger ausgehalten.
Als erstes würde sie weiter Richtung Osten reiten und sich einige Tage in den Bergen aufhalten. Vielleicht klärte dies ihre Gedanken. Danach würde sie entscheiden, wie es weiter gehen sollte. Vielleicht würde sie nach Arthenholm gehen, oder in die Länder, die dahinter lagen. Der Kontinent war so riesig, sie könnte ein ganzes Leben darauf verwenden, die einzelnen Länder zu bereisen. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?
Wahrscheinlich, weil sie ihre Zukunft immer im Orden gesehen hatte. Wenn die Inquestoren sie nicht gefunden hätten, wäre sie vermutlich immer noch dort. Vermutlich würde auch Roderich noch leben. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätten Sharon und die Rebellen es auch ohne ihre Hilfe geschafft, den König zu stürzen. Vielleicht...
Immer dieses Hätte, Wenn und Aber!
Wenn so vieles nicht so fürchterlich schief gegangen wäre, würde ihre Familie noch leben. Sie würde immer noch in dem kleinen Dorf, nahe der Grenze, wohnen und wäre womöglich längst verheiratet. Aurelia rollte sich zur Seite. Ihre Familie. Bei diesem Gedanken begann ihr Magen zu schmerzen. Sollte das alles wirklich eine Lüge gewesen sein? Sie konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben! Sie schloss die Augen und zwang sich sämtliche Gedanken aus ihrem Geist zu verdrängen. Schließlich fiel sie in einen traumlosen Schlaf.
Wenige Tage später erreichte Aurelia den Fuß des Gebirges. Dunkel reckten sich die schroffen Gipfel in den Himmel und auf den höchsten Kämmen glitzerte der ewig währende Schnee. Im Schatten des Gebirges duckte sich eine kleine Ansammlung von Bauerngehöften. Die Menschen waren emsig auf den Feldern beschäftigt und nahmen kaum Notiz von ihr, als sie die Siedlung passierte.
An einem kleinen Gehöft weiter außerhalb, traf sie auf den Sohn eines der Bauern und erzählte ihm, dass sie ihr Pferd aus dem Schloss gestohlen hatte und eine reiche Belohnung auf ihn warten würde, wenn er es zurück brachte. Er sah sie skeptisch an, schien ihr die Geschichte aber zu glauben. Aurelia musste sich ein Lachen verbeißen. Ganz so frei erfunden war es schließlich nicht. Netterweise gab er ihr zum Tausch ein Messer und einige Vorräte. Unter den erstaunten Blicken der restlichen Familie, schulterte sie die Tasche und marschierte davon.
Sie verbrachte einige Stunden damit, einen Pfad hinauf in das Gebirge zu suchen. Endlich fand sie einen und begann den steinigen Aufstieg.
Der Pfad war nicht sehr breit und wand sich in engen Windungen die Hänge hinauf. Zwischenzeitlich wurde er so schmal und unwegsam, dass Aurelia schon fast ans Umkehren dachte. Doch sie riss sich zusammen und kletterte weiter. Immerhin zwang sie der Pfad dazu, sich auf jeden ihrer Schritte und jeden Handgriff zu konzentrieren sodass sie keine Zeit hatte, über andere Dinge nachzudenken.
Obwohl die Tage im Land immer länger wurden, schwand das Licht in den Bergen rasch. Nach nur wenigen Stunden war sie gezwungen, sich einen Unterschlupf zu suchen.
Die Nacht auf dem harten, felsigen Grund war kalt und ließ sie am nächsten Morgen mit steifen Gliedern erwachen. Nach einem kargen Frühstück, machte sie sich an die nächste Etappe. Sie wusste nicht, wohin der Pfad sie führte und wie lange sie ihm folgen würde, aber das war ihr im Moment egal. Stundenlang suchte sie sich kletternd ihren Weg hinauf. Gelegentlich hielt sie an und spähte hinunter auf die Ebene. Die Luft war klar und der Himmel blau, sodass sie das Land meilenweit überblicken konnte. Es erstreckte sich in einer Mischung aus grünen und braunen Flecken unter ihr. Als kleiner Punkt am Horizont, konnte sie sogar Schloss Ehrenthal und die Stadt Syndia ausmachen. Der Anblick war atemberaubend.
Gegen Abend erreichte sie schließlich ein kleines Plateau. Den Kopf in den Nacken gelegt, spähte sie in das Blau der Nacht, doch der Blick in den Himmel verhieß nichts Gutes. Dunkle Wolken zogen auf und Donner rollte bereits leise heran. Langsam verfluchte sie ihre Idee, völlig planlos in die Berge zu klettern. Ein Unwetter so hoch oben, war gewiss kein Vergnügen.
Im letzten Licht des Tages suchte sie nach etwas, dass ihr Schutz bieten würde. Noch während sie die steilen Felswände absuchte, fielen bereits die ersten Tropfen hinab und der Wind frischte auf. Sie beeilte sich, konnte aber keinen geeigneten Unterschlupf finden. Der Wind wurde stärker und peitschte nun die Regentropfen vor sich her. Grell zuckte ein Blitz über den Himmel und erleuchtete die Umgebung in einem fahlen Licht. Dann folgte ein ohrenbetäubender Donner. Er hallte von den Berghängen wieder und potenzierte sich zu einem unerträglichen Kanon. Aurelia hatte das Gefühl ihr Herz würde stehen bleiben. Innerhalb weniger Minuten war ihre Kleidung völlig durchnässt und sie begann zu frieren. Vorsichtig tastete sie sich an den nassen Felsen entlang, auch wenn sie die Hoffnung auf einen Unterschlupf längst aufgegeben hatte. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein unfreiwilliger Absturz. Plötzlich griffen ihre Hände ins Leere. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. In einer Hand formte sie eine kleine, leuchtende Kugel und schleuderte sie in die Finsternis hinein. Vor ihr klaffte ein weiter Spalt im Fels. Scheinbar handelte es sich um den Eingang in eine Höhle. Erleichtert darüber, das Unwetter doch nicht ungeschützt über sich ergehen lassen zu müssen, ging sie hinein. Sie formte eine zweite, diesmal größere Lichtkugel und schickte sie in die Höhe. Die Höhle war groß und das Licht reichte nicht aus, um auch das hintere Ende zu erleuchten. Kurz überlegte Aurelia, wie weit sie die Höhle erkunden sollte und entschied sich dafür nur im vorderen Teil zu bleiben. Ihre nasse Kleidung klebte an ihrem Körper und ihre Arme und Beine schmerzten vom vielen Klettern. Sie suchte sich eine ebene Stelle nahe der Höhlenwand und wickelte sich fest in ihren Mantel. Dann erwärmte sie die Luft um sich herum mit magischer Energie. Es war nicht viel und sie würde es nicht die ganze Nacht aufrecht erhalten können. Dafür kostete dieses Kunststück zu viel Kraft. Aber immerhin würde ihre Kleidung nur noch klamm und nicht mehr triefend nass auf ihrer Haut liegen.
Draußen tobte der Gewittersturm. Blitze erhellten die Nacht und der Donner wurde mit ohrenbetäubendem Lärm von den Hängen zurückgeworfen. Sie lehnte den Kopf gegen den Felsen und beobachtete das Unwetter.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn ein lautes Grollen ließ sie aufschrecken. Die Magie war ihr entglitten, als der Schlaf sie erfasst hatte und die Luft um sie herum war eisig kalt. Trotzdem hatte es gereicht, um ihre Kleidung antrocknen zu lassen. Ein weiteres Grollen ließ die Höhle erzittern. Erschrocken sah sich Aurelia um. Dies war kein Donner gewesen. Ein Blick nach draußen bestätigte ihr, dass das Gewitter weitergezogen war. Langsam presste sie sich gegen die Höhlenwand und versuchte mit den Schatten zu verschmelzen. Scheinbar war sie nicht allein in dieser Höhle. Sie schalt sich selbst einen Narren, dass sie wieder einmal ohne Waffen unterwegs war.
Vergeblich versuchte sie etwas in der Finsternis zu erkennen. Das Grollen kam näher und ein Schaben, wie von Metall, welches über Stein gezogen wurde, mischte sich hinein. Aurelia schleuderte eine Lichtkugel in die Richtung. Immerhin wollte sie wissen, womit sie es zu tun bekam.
Zwei rubinrote Augen leuchteten auf und für einen kurzen Moment sah sie einen schuppigen, silberfarbenen Kopf. Dann schossen ihr lodernde Flammen entgegen. Mit einem entsetzten Aufschrei warf sie sich zur Seite, rollte zurück auf die Füße und sprintete auf den Ausgang der Höhle zu. Das metallische Schaben und Klacken wurde lauter. Gerade noch rechtzeitig ließ sie sich fallen, als der gewaltige Kopf nach vorne schnellte und die Kiefer sich mit einem furchterregendem Geräusch über der Stelle schlossen, wo vor wenigen Sekunden noch ihr Kopf gewesen war. Mit pochendem Herzen suchte sie hinter einem Felsen Deckung.
Nach dem Unwetter war der Himmel wieder sternenklar und die schmale Sichel des abnehmenden Mondes erhellte die Umgebung. Die Strahlen seines fahlen Lichtes trafen den schuppigen Körper und ließen ihn in einem silbrigen Glanz erstrahlen. Aurelia traute ihren Augen nicht. Vor ihr bäumte sich ein riesiger Drache auf. Er zog witternd die Luft durch seine Nüstern ein. „Komm raus, kleines Menschlein“, grollte der Drache, schnellte herum und ließ seinen langen Schwanz wie eine Peitsche durch die Luft sausen. Die Spitze des Schwanzes traf den Felsen, hinter dem sich Aurelia duckte. Er zerplatzte wie eine tönerne Schale. Gesteinssplitter flogen umher und Aurelia musste sich mit Magie schützen, um nicht getroffen zu werden. Ohne Deckung stand sie dem riesigen Wesen gegenüber.
Es wirkte, als würde der Drache seine Maulwinkel zu einem Lächeln verziehen. Die roten Augen glühten. „Was hast du in meiner Höhle zu suchen gehabt?“
„Ich habe lediglich Schutz vor dem Unwetter gesucht“, antwortete Aurelia wahrheitsgemäß.
„Lüge“, grollte der Drache und hob eine Pranke.
„Nein! Das ist die Wahrheit. Glaube mir, bitte.“ Aurelia wich zurück und überdachte ihre Möglichkeiten. Sie zweifelte daran, dass es ihr gelingen würde, den Drachen im Kampf zu besiegen. Eine Flucht schien ebenso unmöglich, wie zwecklos zu sein. Selbst wenn sie sich bei einem überstürzten Abstieg nicht den Hals brach, wäre der Drache zweifelsfrei schneller als sie.
„Warum sollte ich dir glauben?“ Die Pranke sauste hinab. Aurelia versuchte sich in Sicherheit zu bringen, war aber nicht schnell genug. Eine Kralle streifte ihre Seite, zerriss ihr Hemd und brachte sie zu Fall. Die scharfen Klauen nagelte sie am Boden fest und sie sah das gewaltige Maul wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht schweben. Die Zähne waren so lang wie ihre Unterarme. Der Drache konnte sie mit einem einzigen Bissen verschlingen.
Wieder zog er witternd die Luft ein, legte den Kopf schräg und sah sie aus einem seiner rubinroten Augen an. Sein Schwanz peitschte aufgeregt hin und her.
„Wer bist du? Antworte oder ich fresse dich“, fauchte er.
„Ich bin Aurelia...“ Sie zögerte kurz. „Nachtschatten“, fügte sie schließlich an.
Das Brüllen dröhnte in ihren Ohren.
„Das ist eine Lüge!“ Die Pranke verstärkte den Druck auf ihrem Brustkorb und sie bekam kaum noch Luft. Das rubinrote Auge kam näher und betrachtete ihren Hals.
„Woher hast du diesen Stein um deinen Hals?“
Wenn Aurelia noch genügend Luft bekommen hätte, hätte sie laut aufgelacht. „Meine Mutter hat ihn mir geschenkt“, presste sie stattdessen hervor.
Das Auge kam noch näher und das Grollen ließ ihre Knochen vibrieren. „Wer bist du und woher hast du diesen Stein?“
Aurelia versuchte sich unter der Pranke hervor zu winden, schnitt sich jedoch nur die Haut an den scharfen Schuppen auf. „Das sagte ich bereits! Was willst du überhaupt von mir?“
Der Drache hob eine seiner spitzen Krallen und verharrte damit wenige Zentimeter vor ihrem Hals. Eine falsche Bewegung und ihr Leben wäre vorbei.
„Der Stein an deinem Hals, ist ein Drachenherz. Sie entstehen, wenn ein Drache sein Leben aus Liebe opfert. Es ist ein mächtiges magisches Artefakt und wird in den Drachenfamilien von Generation zu Generation weitergegeben. Ich kenne die Familie der Nachtschatten und du bist keine von ihnen. Also, wer bist du?“
Aurelia hatte genug. Genug von der Tragödie, die ihr Leben sein sollte. Genug von den Geheimnissen und den Dingen, die man ihr ein Leben lang verschwiegen hatte.
Mit all ihrer Kraft warf sie dem Drachen einen Zauber entgegen. Der Schlag war so heftig, dass er einige Schritte zurück taumelte und sie freigeben musste. Aurelia sprang auf die Füße.
„Ich weiß nicht wer ich bin!“ schrie sie den Drachen an. „Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge! Ich wurde als Kind von Elmar und Lorain Nachtschatten aufgezogen! Sie waren meine Eltern. Lorain schenkte mir diese Kette an meinem zehnten Geburtstag, der Tag an dem meine Familie ausgelöscht wurde!“ Aurelia spürte die Tränen auf ihren Wangen. „Zehn Jahre später erfahre ich, dass es nicht meine richtige Familie gewesen sein soll?!“ Sie bückte sich und hob einen kleinen Stein auf. Wütend schleuderte sie ihn dem Drachen entgegen, doch er verfehlte sein Ziel. „Sie sagen, ich sei die Tochter von Amelia Algrim! Ich sei die Königin!“
Mit den Fingern raufte sie sich die Haare und schrie ihre Wut und ihre Qual hinaus.
Der Drache sagte kein Wort und musterte sie stumm. Aurelia schleuderte einen weiteren Stein nach ihm. Sie versuchte ihn zu einem Angriff zu reizen, damit sie ihre Wut an ihm auslassen konnte, oder er ihrem Elend endlich ein Ende setzte, doch er reagierte nicht. Ein erneuter Schrei entfuhr ihr, dann drehte sie sich um und stiefelte davon. Nach wenigen Schritten machte sie halt, setzte sich auf einen niedrigen Felsen und vergrub das Gesicht in ihren Händen.