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Kapitel 4

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Nach einer sehr kurzen Nacht machte sich Aurelia am nächsten Morgen an den Abstieg. Lillith hatte sich in ihre Drachengestalt verwandelt und war nach einer kurzen Verabschiedung nach Nordosten geflogen. Sie wollte sich mit den Ältesten ihres Volkes treffen und sich beratschlagen.

Erleichtert stellte Aurelia fest, dass sich der Abstieg leichter gestaltete als der Aufstieg und sie deutlich schneller voran kam. Wenn alles gut ging, würde sie am Nachmittag bereits den Fuß des Gebirges erreicht haben. Stellte sich nur noch die Frage, wie sie wieder zurück zum Schloss gelangen sollte. Mit etwas Glück hatte der Bauer das Pferd noch nicht zurück gebracht. Vielleicht konnte sie sich auch notfalls irgendwo ein Pferd borgen, schließlich war sie die zukünftige Königin.

Bei dem Gedanken musste sie lachen. Sie bezweifelte stark, dass irgendjemand ihr diese Geschichte glauben würde.

Langsam zog die Sonne über den Himmel, während Aurelia immer weiter hinabkletterte. Als sie fast am Ende des Pfades angelangt war, wurden die Schatten länger. Sie legte eine kurze Pause ein und schaute auf, um ein letztes Mal die Aussicht zu genießen. Die kleinen Bauernhöfe wirkten wie Puppenhäuser. Zwischen ihnen konnte sie einen einzelnen Reiter erkennen, der scheinbar von Tür zu Tür ritt. Er war viel zu weit weg, als dass sie genauere Details hätte erkennen könne, aber auch ohne diese hatte sie eine starke Vermutung um wen es sich dabei handelte. Ihr Herz wurde schwer und sie schluckte hart an dem Klos in ihrem Hals, während sie das letzte Stück des Pfades hinabstieg.

Unten angelangt, sah sie auch schon den Reiter auf sich zukommen. Scheinbar hatte er die Felsen nach dem Pfad in die Berge abgesucht. Als er nahe genug heran war, sprang er von seinem Pferd, noch ehe es vollständig zum Halten kommen konnte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und blieb dicht vor ihr stehen. Sein Haar stand wirr in alle Richtungen und unter seinen grünen Augen lagen dunkle Schatten.

„Endlich habe ich dich gefunden“, sagte Kyle erleichtert.

Aurelia hob eine Augenbraue. „Dabei habe ich nicht einmal versucht meine Spuren zu verwischen.“

Kyle lachte auf. „Nein, das hast du wirklich nicht.“

Sie sah ihn an und spürte die Distanz zwischen ihnen, wie eine unüberwindbare Mauer. Sie wusste nicht wann und wie es passiert war, aber es war fast unerträglich.

„Warum bist du hier?“, fragte sie ihn.

„Um dich nach Hause zu holen, natürlich.“

Ihr Lachen war bitter und freudlos. „Ehrenthal ist dein zu Hause, Kyle. Nicht meins.“

Sein enttäuschter Blick sagte mehr, als er in Worte hätte fassen können. „Aber es kann dein zu Hause werden...“ begann er, doch sie hob abwehrend die Hände.

„Zu Hause? Was hat dies noch für eine Bedeutung, wenn man keine Vergangenheit hat.“

„Das ist nicht wahr. Auch wenn sie nicht deine richtigen Eltern waren. Auch wenn viele schreckliche Dinge geschehen sind... sie haben dich geliebt und dies hat dich zu dem Menschen gemacht, der du heute bist“, begehrte er auf.

Aurelia sah ihn lange an. „Wer wusste über meine Identität Bescheid?“

Kyle senkte den Blick und schob die Hände in die Hosentaschen. „Außer Norwin?“

Aurelia nickte.

„Meister Albion“, sagte er leise.

Sie fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. „Wer noch? Constantin?“

Kyle schüttelte den Kopf. „Er hat es erst in der Nacht von Roderichs Tod erfahren.“

„Du hast es gewusst“, sagte sie langsam. Stumm flehte sie zu den Göttern, sie möge mit ihrer Vermutung Unrecht haben, doch der Blick in Kyles Augen verriet ihr alles.

„Nein...“, hob er an. „Ja... Vielleicht. Ich war mir nicht sicher.“ Er suchte ihren Blick. „Bei unserer ersten Begegnung... ich hatte so einen Verdacht und Meister Albion schien ihn zu bestätigen.“

„Deswegen hast du dich nach meinem Familiennamen erkundigt?“

„Ja. Als du sagtest, er laute Nachtschatten, dachte ich, ich hätte mich geirrt. Ich wusste es erst mit Sicherheit, als auch Roderich dich für Amelia hielt.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Wenn du wüsstest, wie ähnlich du deiner Mutter siehst.“

Aurelia wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Gefühle waren ein einziges Chaos. Sie fühlte sich von den Menschen, denen sie am meisten vertraute, betrogen und hintergangen.

„Du hast es die ganze Zeit gewusst“, flüsterte sie. „Du hast es gewusst und hast es mir verheimlicht!“

„Was hätte ich denn machen sollen? Ich war mir doch selbst nicht sicher! Hätte ich dir sagen sollen, dass du womöglich Amelias Tochter bist, auch wenn es ein Irrtum gewesen wäre?“ Kyle hatte Recht, doch es nützte nichts.

Ihre Hände zitterten vor unterdrückter Wut und sie ballte sie zu Fäusten. „Also hast du das alles nur getan, weil du dachtest, ich sei ihre Tochter?!“ Ihre Stimme bebte.

„Ja und nein“, gestand er. „Ich...“ Er kam nicht weiter.

Mit aller Kraft, die Aurelia aufbringen konnte, schlug sie ihm ins Gesicht. Sprachlos sah er sie an.

„Was bin ich für dich?!“ schrie sie ihn an.

Kyle öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus.

„Bin ich etwa der klägliche Versuch, die Fehler deiner Vergangenheit wieder gut zu machen?!“ Sie wusste, dass sie zu weit ging. Das war nicht gerecht, aber sie konnte nicht anders. Das Letzte, was sie wollte, war Kyle zu verletzen, doch der Schmerz in ihrem Inneren war so gewaltig, dass es sie fast den Verstand kostete. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie es ist zu erfahren, dass man seinen eigenen Onkel getötet hat?!“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie ließ ihnen freien Lauf. „Und das, obwohl er im Grunde unschuldig war?!“ Sie begann zu schluchzen. „Das Bild von seinem Blut an meinen Händen und der Ausdruck in seinen Augen verfolgt mich bis in meine Träume!“

Es war zu viel. Ihre Beine gaben unter ihr nach und weinend brach sie zusammen. Kyle stürzte heran und schloss sie tröstend in seine Arme. An seiner Schulter weinte sie, bis sie keine Tränen mehr hatte.

Er strich ihr über die Haare und wiegte sie sachte hin und her. „Aurelia, es tut mir so leid.“ Er drückte sie fest an sich. „Ich hatte so sehr gehofft, dass ich mich irre. Glaube mir. Um alles in der Welt wollte ich dir dieses Schicksal ersparen.“ Eine Weile sagte er nichts. Stille senkte sich herab und wurde nur von Aurelias Schluchzen unterbrochen.

„Du bist meine Königin“, fügte er schließlich an. „Ich werde wieder zum General der königlichen Leibgarde ernannt. Bei meinem Leben schwöre ich dir, dass ich dir stets treu zur Seite stehen werden. Sei gewiss, dass ich dich mit meinem Leben beschützen werde.“

Das war es also. Dies war der Grund für die Distanz zwischen ihnen. Kyle stellte seine Pflicht über seine Gefühle. Plötzlich fühlte sie sich leer, so als ob man ihr etwas von ihrem Selbst genommen hätte. Kyle sagte etwas, dass sie nicht verstand und half ihr auf. Widerstandslos ließ sie sich von ihm aufs Pferd helfen, nahm hinter ihm im Sattel platzt und klammerte sich an seinen Rücken.

Die Reise zurück zum Schloss erlebte sie wie durch dichten Nebel. Die Landschaft zog an ihr vorbei, ohne dass sie davon Notiz nahm. Es wurde Nacht und wieder Tag und sie sprach kein einziges Wort. Irgendwann erreichten sie Ehrenthal und als Kyle das Pferd vor den Stallungen zügelte, rutschte sie aus dem Sattel. Ohne ihn anzusehen, verschwand sie im Inneren des Schlosses.

Schattenkönig

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