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Kapitel 2

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Eine Krähe flog einsam ihre Runden über dem wolkenverhangen Himmel. In den letzten Tagen waren unaufhörlich dicke, weiße Flocken aus den Wolken zu Boden gesunken und hatten das gesamte Land unter einer kniehohen Decke begraben. Vermutlich hatte Canthan noch nie so viel Schnee gesehen, wie in diesem Winter. Es wirkte fast so, als wolle die Natur die Spuren der vergangenen Schlacht unter dem kalten Weiß verstecken.

Sie standen auf einem weiten Feld außerhalb von Syndia und betrachteten die langen Reihen frischer Gräber. Lillith und Raik hatten mit ihrem Feuer den gefrorenen Boden aufgetaut, sodass das Erdreich ausgehoben werden konnte. Ohne ihre Hilfe wäre dies ein unmögliches Unterfangen gewesen und ihnen wäre nichts weiter als eine Feuerbestattung geblieben. Jedoch hatte Aurelia dies den Familien der gefallenen Soldaten unter allen Umständen ersparen wollen. Jeder Soldat sollte einen Platz bekommen, an welchem man ihm gedenken konnte.

Aurelia faltete ihre behandschuhten Hände und blies ihren warmen Atem hinein, um sie ein wenig aufzuwärmen. Sie trug ein langes, schlichtes, schwarzes Kleid und einen ebenso schwarzen Mantel. Kyle stand dicht an ihrer Seite und beobachtete die versammelten Menschen eingehend. Tausende waren gekommen, um der Trauerfeier für die Gefallenen beizuwohnen. Sie standen am Rande des Feldes und warteten geduldig darauf, dass Aurelia mit ihrer Ansprache begann. Es war nicht das erste Mal, dass sie zu den Menschen ihres Volkes sprach, dennoch sorgte es bei ihr für Unwohlsein. Stundenlang hatte sie darüber nachgedacht, was sie den Familien, Frauen und Kindern sagen sollte, welche ihre geliebten Männer und Väter verloren hatten - für deren Tod sie, als Königin, unweigerlich die Verantwortung trug.

Sie atmete tief durch und fing Kyles Blick auf. Er legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter, dann nickte er ihr zu und sie trat vor die wartenden Menschen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um derer zu gedenken, die in der Schlacht ihr Leben ließen, um uns und dieses Land zu schützen“, rief sie laut und klar, damit alle sie verstehen konnten. „Unser aller Dank gilt den tapferen Soldaten, die sich dem unausweichlichen Tod entgegen gestellt haben und mit Mut in ihren Herzen der Gefahr die Stirn boten.“

Leises Weinen und Schluchzen wurde hörbar. Viele begannen in ihren Taschen nach Tüchern zu suchen, um sich damit die Tränen der Trauer aus den Augen zu wischen.

„Voller Stolz können sie nun unseren Ahnen gegenüber treten und zusammen mit ihnen über unsere Schritte wachen“, fuhr Aurelia fort und breitete die Arme aus. „Möge die Nacht auch noch so dunkel sein, ihr Stern wird uns den Weg weisen. Wir werden sie niemals vergessen!“ Sie ließ die Arme sinken und die traurigen Klänge eines Klageliedes ertönten.

Eine kleine Gruppe von Musikern hatte sich für die Gedenkfeier erboten und entlockte ihren Instrumenten eine herzergreifende Melodie. Ein Mann mit einer Laute erhob die Stimme und begann zu singen. Nach und nach fielen die Anwesenden mit ein, bis die Luft zu vibrieren schien.

„Fürchtet euch nicht

vor den Schatten der Nacht.

Zum Geleit erstrahlt für euch mein Licht.

Von hier halte ich auf ewig Wacht.

Niemand mag diesen Weg beschreiten,

gerade in den dunkelsten Stunden,

wo es fehlt an den schönen Zeiten

und wir leiden an den Wunden.

Fürchtet euch nicht

vor den Schatten der Nacht.

Zum Geleit erstrahlt für euch mein Licht.

Von hier halte ich auf ewig Wacht.

Sind eure Tränen noch so bitter

und eure Herzen wenig heiter,

so bleibt der Hoffnungssplitter

auf eine Zukunft hell und befreiter.

Fürchtet euch nicht

vor den Schatten der Nacht.

Zum Geleit erstrahlt für euch mein Licht.

Von hier halte ich auf ewig Wacht.“

Das Lied endete, die Melodie verklang und hinterließ eine bleierne Stille.

Schweigend löste sich die Menge auf. Viele traten den Heimweg an, während die Familien die Gräber ihrer verstorbenen Liebsten aufsuchten, um dort Blumen und andere Beigaben niederzulegen.

Aurelia spürte eine leichte Berührung am Arm und blickte in Kyles Gesicht.

„Es ist so weit“, sagte er leise.

Sie nickte und folgte ihm über einen verschneiten Pfad zwischen den Grabreihen hindurch. Etwas abseits der Soldatengräber fand sich ein weiteres Grab, an dem sich bereits vertraute Gesichter versammelt hatten.

„Eine schöne Rede“, lobte Raik leise und reichte ihr grüßend die Hand.

Der Reihe nach umarmte sie Lillith, Constantin und die anderen. Zu guter Letzt folgte Norwin. Der Tod seines Bruder hatte ihn arg mitgenommen, aber er tat sein Bestes um es nicht offen zu zeigen. Doch vielleicht hätte ihm gerade dies Erleichterung gebracht. Es schmerzte Aurelia fürchterlich, ihn so leiden zu sehen. Sie umarmte Norwin fest, dann sah sie ihn ernst in die grauen Augen. „Wir sind für dich da.“

Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte er nur dankend den Kopf.

Sie ließ ihn los und sie wandten sich gemeinsam dem Grab zu. Ein Künstler hatte ein lebensgroßes Abbild Meister Albions aus Stein gefertigt und es an seinem Grab aufstellen lassen. Insgeheim fragte Aurelia sich, ob bei der Herstellung nicht Magie im Spiel gewesen war, denn die Figur wirkte so lebensecht, als würde der Meister sich jeden Moment aus seiner steinernen Haltung befreien. Ernst und gebieterisch blickte er von seinem Sockel hinab. In der einen Hand hielt er eine unsichtbare Flamme, mit der anderen stützte er sich auf seinen Stab.

Aurelia räusperte sich und öffnete den Mund um etwas zusagen, ehe sie ihn wieder schloss. Eigentlich hatte sie die letzten Worte für ihren Meister sprechen wollen, doch sie bekam keinen Ton heraus. Constantin erging es ähnlich und so bot sich Raik an, dies für sie zu tun.

Dankbar lächelte sie ihn an, dann fasste sie Kyles Hand und griff mit der anderen nach Constantins Arm. Einer Eingebung folgend, griff Sharon nach Constantins andere Hand und reichte ihre freie Rechte an Levin. Dieser tat es ihr gleich, dann folgten auch Orias, Lillith, Raik und Norwin ihrem Beispiel. Gemeinsam lauschten sie Raiks Worten.

„Hier und heute verabschieden wir uns von einem großartigen Menschen. Er war ein unbeschreiblich großer Zauberer, ein sorgsamer Bruder und für viele von uns ein unvergessener Lehrmeister. Sein Verlust hinterlässt eine Lücke, die nicht gefüllt werden kann“, sagte Raik laut.

Warme Tränen liefen Aurelias Wangen hinab und benetzten den Kragen ihres Kleides. Constantin blickte stumm in den Himmel, doch auch ihm rannen die Tränen aus den Augenwinkeln.

„Doch wir werden nicht den vergangenen Tagen hinterher trauern, sondern uns mit Stolz und mit Freude im Herzen an die gemeinsame Zeit erinnern. Den Blick nach vorne gerichtet, werden wir sein Andenken in Ehren halten und den Weg der Zukunft beschreiten.“ Raiks Stimme verklang und ließ sie in einem stillen Moment zurück.

„Mein Bruder – wir hatten uns nach zwanzig langen Jahren endlich wieder gefunden und nun bist du fort. Doch wir werden uns wiedersehen. Ruhe in Frieden“, sagte Norwin heiser und schnäuzte sich geräuschvoll.

Lillith löste sich aus der Kette und trat auf die steinerne Figur zu. Sachte legte sie die Hände auf den glatt polierten Stein und schloss die Augen. Ein warmes Licht begann von ihr auszustrahlen, griff auf die Figur über und begann sie einzuhüllen. Meister Albions Antlitz verschwand für einen kurzen Augenblick hinter einer Wand aus waberndem Dampf, dann tauchte es wieder auf. Lillith löste ihre Hände und trat zurück. Der Stein hatte eine gläserne Oberfläche bekommen und in Meister Albions offener Hand brannte eine Flamme.

„Lillith, wie...“, hob Aurelia leise an.

„Drachenmagie“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich bin lediglich einer Eingebung gefolgt.“ Sie betrachtete die zuckende Flamme. „Diese Flamme wird brennen, so lange wie ich lebe.“

„Danke“, war alles, was Aurelia sagen konnte.

Sprachlos starrten sie alle Meister Albions Abbild an, in dessen Inneren sich das Licht der Flamme widerspiegelte und ihm damit einen lebendigen Anschein verlieh.

„Wahrhaftig unglaublich“, wisperte Norwin und schnäuzte sich erneut. Dann sah er einen nach dem anderen an und rieb sich fröstelnd über die Arme. „Ich denke, mein Bruder wird nichts dagegen haben, wenn wir seinem Andenken an einem wärmeren Ort gedenken.“ Er grinste schief.

Aurelia legte ihm einen Arm und die Schultern und drückte ihn an sich. „Das denke ich auch.“ Sie blickte über die Schulter zu Meister Albions Statue und musste plötzlich lächeln. Norwin hatte Recht. Irgendwann würden sie sich wieder sehen. Sie wandte sich ab und ging mit den anderen zum Schloss zurück, um sich bei einer Mahlzeit zu wärmen. Nach dem Essen löste sich die Gruppe auf und ein Jeder ging seiner eigenen Wege. Norwin schien es nach der Trauerfeier deutlich besser zu gehen, denn er schnappte sich Constantin, um mit ihm irgendetwas zu besprechen und wirkte dabei fast schon wieder wie sein übliches selbst.

Aurelia zog sich mit Kyle, Lillith und Raik in die Bibliothek zurück. Sie hatte für den Tag einen Trauertag ausgerufen, sodass sie für den Moment von ihren offiziellen Pflichten befreit war. Es war ein befreiendes Gefühl, denn sie hätte in ihrer gegenwärtigen Gemütslage unter keinen Umständen irgendwelche Audienzen abhalten können.

Gemeinsam mit Lillith ließ sie sich auf einem Sofa nieder und sah dabei zu, wie Kyle und Raik einige Tische und Sessel beiseite rückten. Raik war von Kyles Schwertkünsten so fasziniert, dass er ihn fast schon angefleht hatte, ihm einige Techniken zu zeigen. Während die beiden Männer sich mit den Waffen beschäftigten, betrachtete Lillith eingehend den Ring an Aurelias Finger und machte dabei erstaunte Laute.

„Wo hat er dieses Schmuckstück nur her“, wunderte sie sich und riss damit Aurelia aus ihren Gedanken.

Sie musste lachen, als sie Lillith die Frage beantwortete. „Der Herr General ist ein ausgemachter Geheimniskrämer. Er hat den Ring heimlich gekauft, während wir einen Spaziergang in Thyrr unternommen haben.“

„Oho“, machte Lillith und sah zu Kyle und Raik herüber. Die Wand, die sie eingeschlagen hatte, lag immer noch in Trümmern, auch wenn das Meiste an Schutt bereits hinaus geräumt worden war. „Wann wird die Hochzeitsfeier stattfinden?“

„Wir hatten an einen Tag im Sommer gedacht. Doch zunächst müssen die Dinge im Land wieder ins Reine gebracht werden.“ Verlegen spielte Aurelia mit dem Ring an ihrem Finger. „Nicht, dass unsere Hochzeit zu den nächsten Revolten im Land führt.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Lillith. „Das Volk liebt dich.“

Aurelia lachte ungläubig auf. „Wieso sollte es?“

„Weil du – ihre Königin – dazu bereit warst, dein Leben für ihr Wohl zu opfern. Das hat sich unter den Leuten wie ein Lauffeuer verbreitet. Du bist ihre Heldin“, meinte Lillith. Aurelia sah sie immer noch skeptisch an. „Und die Bekanntgabe deiner Verlobung mit jemanden aus ihren Reihen hat ihre Begeisterung für dich nur noch geschürt.“ Sie legte Aurelia eine Hand auf den Arm. „Kyle ist nicht von adeligem Blut, vergiss das nicht.“

„Kaum zu glauben, dass es einmal eine Zeit geben würde, in der sich die Königin mit jemanden aus dem einfachen Volk vermählt“, sinnierte Aurelia.

Lillith musterte sie scharf. „Ich wüsste niemanden, der es mehr verdient hätte um deine Hand anzuhalten, als er.“ Ihr Griff um Aurelias Arm wurde fester. „Liebes, du warst tot. Nicht nur nahe dran, sondern wirklich und wahrhaftig. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen und dein Geist war fort.“ Ihre Augen glühten in einem intensiven Rot. Sie deutete mit dem Finger auf Aurelias Hals, um den sie immer noch die Kette trug - auch wenn der Stein farblos und gesprungen war. „Du erinnerst dich noch daran, was ich dir damals über das Drachenherz gesagt habe?“

Aurelia nickte. Sie wusste es noch zu gut. Ein Drachenherz entstand, wenn ein Drache sein Leben aus Liebe gab. Es reagierte auf starke Emotionen. Am meisten auf die Kraft der Liebe, welche im Volksmund auch als die stärkste Form der Magie bekannt war.

„Kyle hat dich mit dessen Kraft zurück geholt. Ich kann mir gar nicht ausmalen wie stark seine Gefühle für dich sein müssen, dass ihm dies gelungen ist“, fuhr Lillith fort.

Aurelia berührte den Stein an der Kette. „Es hat seine gesamte Kraft verloren. Ich kann es spüren.“

„Das wundert mich nicht. Auch die magische Kraft eines Drachen ist begrenzt. Unglaublich, dass es überhaupt so viel Kraft besaß“, meinte Lillith.

Aurelia senkte den Blick und vergrub die Finger im weichen Stoff ihres schwarzen Kleides. „Wir haben unwahrscheinliches Glück gehabt, nicht wahr?“

„Allerdings“, stimmte Lillith ihr zu. „Und dir geht es wirklich gut?“

„Ja, wirklich. Hört auf, mich das ständig zu fragen“, verlangte Aurelia entnervt.

Lillith verengte die Augen zu schlitzen und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nun, es ist nicht alltäglich, dass jemand aus dem Totenreich zurückkehrt. Du siehst nicht zufällig Dinge, die du vorher nicht gesehen hast?“

„Nein, ich nehme die Welt genauso wahr wie zuvor“, sagte Aurelia und erklärte das Thema damit für beendet. Sie konnte die Sorge der anderen verstehen, doch ihr ging es gut. Bis auf die anhaltenden Albträume, welche sie jedoch schon vor diesem Zwischenfall geplagt hatten – auch wenn sie nun an Ausmaß und Intensität gewonnen hatten. Doch das brauchte niemanden zu erfahren. Sie würde sich an die immer wiederkehrenden Bilder gewöhnen, so wie sie sich auch an die vorherigen Albträume gewöhnt hatte. Es würde seine Zeit dauern, doch irgendwann würden diese Traumfetzen wieder verschwinden. Das hoffte sie jedenfalls.

Schattendrache

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