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Kapitel 3
ОглавлениеLeutzinmanoth – 324 n. DK
„Hört, Leute! Hört mich an! Viele von uns leiden Hunger und frieren in der Nacht. Wie viele von euch haben Haus und Hof verloren? Wie viele von euch haben keine Arbeit mehr?“ Der Mann stand auf einem wackeligen Podest aus Fässern und alten Holzplanken. Seine fleckige, graue Kleidung hing schlaff um seine Schultern und Beine. Eine größere Menschenmenge hatte sich um ihn versammelt. Leises zustimmendes Gemurmel erklang.
„Wessen Schuld ist das? Sicherlich ist es nicht das Verschulden der hart arbeitenden Bevölkerung!“ Einige Menschen klatschten zaghaft. „Es ist die Schuld der Herrscher! Erst wurden wir von der harten Hand König Roderichs geknechtet und nun sitzt seine verschollene Nichte auf dem Thron und will uns weiß machen, dass ab jetzt alles besser wird?! Ich sage euch: Glaubt nicht an diese falschen Versprechungen! Nichts wird sich ändern, wenn wir nicht selbst dafür sorgen!“
Ein wütendes Raunen ging durch die Menge und Stimmen wurden laut. Plötzlich flog ein angebissener Apfel in Richtung des Podestes und verfehlte den Mann knapp.
„Ich weiß nicht, was du hier willst, aber Unruhe kannst du woanders stiften!“ Ein älterer Mann hob drohend die Faust und erhielt unterstützenden Jubel aus der Menge.
„Königin Aurelia hat in ihrer kurzen Amtszeit mehr für uns einfache Leute getan, als ihr uns in hundert Jahren versprechen könnt. Wir sollten dankbar für solch eine gütige Königin sein!“, rief eine Frau und erntete Applaus dafür.
„Pah!“, machte der Sprecher auf dem Podest und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Das Zeitalter der Könige ist vorüber! Ihr klammert euch an einen längst verblassten Traum!“
„Es wurden uns Änderungen versprochen und bisher wurden diese Versprechen eingehalten“, argumentierte ein anderer Mann.
„Und dann? Glaubt ihr wirklich, dass die Königin auch nur einen Zipfel ihrer Macht abtreten wird?!“, hielt der Sprecher dagegen. „Diese Königin ist genauso verschlagen wie alle anderen Monarchen. Mit diesen Versprechungen versucht sie nur uns – das Volk – ruhig zu halten, bis sie ihre Macht gefestigt hat!“
„Das stimmt nicht!“, schrie ein kleines Mädchen, welches auf den Schultern seines Großvaters saß. „Königin Aurelia ist gütig und mutig! Sie hat den Schattenkönig ganz alleine besiegt und damit den gesamten Kontinent gerettet!“
Die Menschenmenge stimmte dem Mädchen zu und weiteres verdorbenes Obst wurde dem Sprecher entgegen geworfen.
„Außerdem wird sie jemanden aus dem einfachen Volk heiraten!“, kam es von einer Gruppe von Frauen, welche sich synchron an die Brust fassten und verträumte Blicke miteinander tauschten.
Der Sprecher begann mit den Zähnen zu knirschen. „Das ist meine letzte Warnung!“, schrie er. „Löst euch von diesen Gedanken und schließt euch uns an! Wir sind die Menschen dieses Landes! Wir allein wissen, was gut für uns ist! Wir werden dafür sorgen, dass sich die Gesetze in diesem Land zu unseren Gunsten ändern!“
„Und das ist meine letzte Warnung!“, rief ein kräftiger Mann und sprang mit einem Satz auf das Podest. „Nimm die Beine in die Hand und lauf, wenn du weißt, was gut für dich ist. Wir wollen deine ketzerischen Worte nicht hören!“
„Das wird euch noch leid tun“, fauchte der Sprecher, als er sich unter Pfiffen und Buh-Rufen zurückzog.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Nacht endlich Einzug hielt, wussten die Dorfbewohner, dass es keine leere Drohung gewesen war. Noch in der gleichen Nacht brannte das halbe Dorf nieder.
Im Schloss war es dunkel und still. Seit der Abendmahlzeit waren einige Stunden vergangen und die meisten Bewohner hatten sich inzwischen auf ihre Gemächer zurück gezogen. Constantin war, wie so oft in den letzten Tagen, von einer inneren Unruhe ergriffen und schlenderte ziellos umher. Als er den Gang zu Aurelias Gemächern passierte, hielt er kurz inne. Er freute sich für sie, dass sie jemanden gefunden hatte, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Auch wenn es bei ihm eine Spur der Bitterkeit zurückließ. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er ihr niemals das hätte geben können, was sie am meisten brauchte.
Er musste Kyle dafür Respekt zollen, dass er Aurelia ins Leben zurückgeholt hatte. Wie auch immer er es angestellt haben mochte. Niemand schien Genaueres darüber zu wissen. Allerdings er hatte den Verdacht, dass Lillith, Raik und Aurelia sehr genau wussten, was geschehen war. Was auch immer die Gründe waren, weswegen sie sich darüber ausschwiegen: Er hegte kein Interesse daran dies zu hinterfragen. Das Wichtigste war, dass Aurelia lebte.
Außerdem hatte er im Moment Sorgen von ganz anderer Art. In seinem Nachlass hatte Meister Albion darüber verfügt, dass er – Constantin – sein Nachfolger und somit Führer des Ordens der weißen Zauberer werden sollte. Einerseits freute er sich darüber und fühlte sich geehrt, auf der anderen Seite war er sich nicht sicher, ob er der Verantwortung gerecht werden konnte. Immer, wenn er daran dachte, überfiel ihn eine gewisse Art von Panik und er begann rastlos umherzuwandern.
Die Hände in die Taschen seiner Hose gesteckt, ging er weiter. Den Blick auf den steinernen Boden gerichtet, nahm er kaum Notiz von seiner Umgebung.
Schließlich erreichte er den Gang zu seinem Zimmer und stieß beinahe mit Sharon zusammen, als er um die Ecke bog.
„Was zur...“, fluchte er und sah sie überrascht an. „Was machst du hier?“
„Das Gleiche könnte ich dich fragen“, schnappte sie und trat einen Schritt zurück.
„Ich musste mir mal die Beine vertreten“, grollte er und rieb sich den Nacken.
Sharon legte den Kopf schräg und musterte ihn eingehend.
„Dir geht es nicht gut. Das sieht man dir an“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Vielen Dank für die Blumen.“ Er wollte an ihr vorbei gehen, doch sie hielt ihn fest.
„Möchtest du darüber reden?“
Erstaunt sah er sie an. „Solch ein Angebot ausgerechnet von dir? Sonst interessierst du dich doch auch nicht für die Belange anderer. Es sei denn, es handelt sich dabei um deinen Bruder oder Orias.“
Geräuschlos schnappte Sharon nach Luft und ließ ihn los. Wortlos schritt Constantin an ihr vorbei und hielt auf die Tür zu seinem Zimmer zu.
„Ich wollte mich lediglich für deine Hilfe während der Schlacht revanchieren“, rief sie ihm hinterher.
Ohne sich umzudrehen hob er eine Hand zum Dank und verschwand in seinem Zimmer. Nachdem er die Tür hinter sich ins Schloss fallen gelassen hatte, warf er sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen. Wie gern hätte er sich mit Aurelia unterhalten. Er vermisste sie. Sie war so nah und doch schien sie Meilen weit entfernt zu sein.
Aurelia saß kerzengerade auf dem schlichten dunklen Thron. Das Holz der Rückenlehne drückte ihr unangenehm in den Rücken. Der Thron war alles andere als bequem und sollte wohl die Schwere der Bürde der Herrschaft symbolisieren. Unmerklich rutschte sie auf dem Sitz nach vorne, während sie mit den Händen die Lehnen umklammerte. Der schwere Stoff ihres schwarzen Kleides raschelte leise bei der Bewegung. Noch immer trug sie die Farben der Trauer, um an die Gefallenen der Schlacht zu erinnern. Die Schrecken des Kampfes waren noch längst nicht verblasst und hatten im Volk tiefe Spuren hinterlassen. Um den Menschen ihre Anteilnahme zu zeigen, hingen die Flaggen im Schlosshof auf Halbmast. Auch Kyle, sowie sämtliche anderen Bewohner des Schlosses, waren stets in schwarzer Kleidung anzutreffen.
Inzwischen hielt Aurelia fast täglich Audienzen ab, um sich der Belange des Volkes anzunehmen. Neben all den wichtigen oder auch weniger wichtigen Dingen im Land, fand sich ein nicht enden wollender Strom an Menschen, die Aurelia gegenüber ihre Trauer bekunden oder ihr zu ihrer Verlobung gratulieren wollten. Doch im Vergleich zu der Nachricht, welche der alte Mann soeben verkündet hatte, nahmen sich alle anderen Anliegen als dekadente Spitzfindigkeiten aus.
Aurelia biss sich auf die Lippen, während sie den Resten seiner Ausführung lauschte. Wie sie bereits befürchtet hatte, war die Rebellion im Land längst nicht zum Stillstand gekommen. Offensichtlich suchten die Rebellen nach Unterstützung und waren dafür sogar bereit gesamte Dörfer niederzubrennen, wenn diese sich ihnen nicht anschlossen. All das mit dem einzigen Ziel, den Menschen die Machtlosigkeit ihrer neuen Königin vor Augen zu führen. Doch Feuer ließ sich nicht mit Feuer bekämpfen. Wenn sie nicht rasch etwas unternahmen, würde das gesamte Land in dem Flammen eines Bürgerkrieges untergehen. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich hielt sie es auf dem Thron nicht mehr aus und erhob sich. Langsam schritt sie die wenigen Stufen zu dem alten Mann und seiner Enkelin hinab.
„Welch eine furchtbare Geschichte“, sagte sie heiser und kniete neben dem Mädchen nieder, welches sie mit unverhohlener Neugier anstarrte. „Wurden viele bei dem Feuer verletzt?“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Glücklicherweise nicht. Aber die Menschen besitzen nun kein Dach mehr über dem Kopf. Einige konnten bei Freunden und Verwandten unterkommen, aber bei Leibe nicht alle.“
„Und Ihr seid Euch sicher, dass das Feuer etwas mit dem Unruhestifter zu tun hat?“
„Sicher können wir uns nicht sein, aber wir gehen davon aus.“ Unbehaglich verlagerte er das Gewicht von einem auf den anderen Fuß und sah zu Aurelia herab. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass die Königin auf dem Boden kniete.
Ein Räuspern neben dem Thron ließ Aurelia über die Schulter blicken. Arvid Nader saß an seinem Schreibpult und blätterte in einem der dicken Bücher, die sich rings um ihn herum stapelten.
„Euer Majestät, dies ist nicht der erste Fall von dem wir hören. Die Hinweise verdichten sich zunehmend. Inzwischen können wir uns sicher sein, dass noch immer eine Rebellengruppe im Land agiert und dabei ist einen Bürgerkrieg zu entzünden.“
„Das ist mir durchaus bewusst“, seufzte sie und wandte sich wieder dem Mädchen zu. „Wie heißt du, Kleines?“
Dem Kind schoss die Röte ins Gesicht, als es schüchtern antwortete. „Meine Name lautet Mina.“
„Ein sehr schöner Name. Und du wohnst bei deinem Großvater?“
Das Mädchen nickte heftig.
„Darf ich fragen, wo deine Eltern sind?“
Mina sah Aurelia aus traurigen Augen an. „Meine Mama ist gestorben... und Papa... ist fortgegangen.“
Erstaunt sah Aurelia zu Minas Großvater auf.
„Mein Schwiegersohn hat den Tod meiner Tochter nicht verkraftet und – nun - es war besser, dass er ging“, erklärte er und legte seiner Enkelin eine Hand auf die Schulter.
Aurelias Herz verkrampfte sich unangenehm in ihrer Brust, als sie über die Schulter zum Thron sah und Kyles Blick suchte. Er stand wie immer einen Schritt hinter dem wuchtigen Thron und beobachtete mit wachsamen Augen die anwesenden Personen. Zu ihrem Schutz hatte er mehrere dutzend Soldaten im Thronsaal postiert, wovon die Hälfte sich unbemerkt in den Schatten aufhielt. Sie würden jeden noch so kleinen Versuch eines Angriffs unterbinden. Doch trotz all dieser Vorkehrungen befand sich Kyle stets in höchster Alarmbereitschaft. Nach allem, was bisher geschehen war, konnte sie es ihm nicht verübeln. Dennoch wünschte sie sich, dass er etwas mehr Gelassenheit zeigen würde. Die dauernde Anspannung zehrte an seinen Kräften, auch wenn er es niemals zugeben würde.
Aurelia konnte sich kaum vorstellen, wie es für ihn gewesen sein musste zu glauben, dass er sie für immer verloren hatte. Sie selbst konnte den Gedanken kaum ertragen, die Pfade der Welt möglicherweise eines Tages ohne ihn beschreiten zu müssen. In dieser Hinsicht empfand sie großes Mitleid für Minas Vater. Dennoch konnte sie nicht verstehen, wie man sein eigenes Kind zurücklassen konnte, egal wie sehr man unter dem Verlust seines geliebten Partners litt.
Sanft strich sie dem kleinen Mädchen durch die braunen Haare. „Was möchtest du einmal werden, wenn du groß bist?“, fragte sie.
Minas Augen begannen zu leuchten und sie lächelte. „Ich möchte gerne Heilerin werden!“ Dann verblasste ihr Lächeln. „Aber daraus wird wohl leider nichts. Großvater sagt, die Ausbildung können wir uns nicht leisten. Dafür müsste ich erst zur Schule gehen und Rechnen und Schreiben lernen, aber...“ Sie ließ den Kopf hängen und krallte die Finger in den Saum ihres Hemdes.
Aurelia biss sich auf die Lippen und stand auf. „Ich danke Euch, dass Ihr heute hierher gekommen seid. Ich werde mich um Euer Anliegen kümmern. Ihr dürft nun gehen“, sagte sie an Minas Großvater gewandt und entließ ihn mit einem Kopfnicken. Das Mädchen ergriff die Hand ihres Großvaters und folgte ihm hinaus. Beim Gehen wandte sie sich noch einmal um und sah Aurelia aus großen runden Augen an.
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, setzte sich Aurelia schwer auf den Thron und vergrub das Gesicht in den Händen. „Wie viele kommen noch?“
„Nicht mehr viele, Euer Majestät. Es dürften nur noch fünf Personen sein“, meinte Arvid und überflog eine Liste.
„Für heute Nachmittag berufe ich ein Treffen ein. Anwesend zu sein haben neben Euch, Constantin Korell, Sharon Quoos, Schatzmeister Ludbrock und Norwin Wehyers“, sagte sie durch ihre Hände hindurch.
Arvid Nader hob erstaunt eine dunkle Braue. Selbst Kyle wirkte überrascht.
„Was hast du vor?“, fragte er erstaunt.
„Ich werde mein Amt als Königin nutzen und einige Veränderungen bringen“, erwiderte sie. Dann nahm sie die Hände von ihrem Gesicht und straffte die Schultern. Noch war die Zeit zum Ausruhen nicht gekommen.
Schatzmeister Ludbrock saß tief über seine Bücher gebeugt und schob sich in regelmäßigen Abständen seine Lesegläser auf der Nase zurecht. Arvid Nader saß neben ihm und studierte einige Listen. Sharon und Constantin hatten es sich an einem der Fenster gemütlich gemacht, während Norwin in einem der Sessel lümmelte. Alle warteten darauf, dass Aurelia zu ihnen stoßen würde, nachdem sie sie so überraschend zusammen gerufen hatte. Endlich öffnete sich die Tür und Aurelia betrat, dicht gefolgt von Kyle, den Raum. Norwin zuckte erschrocken zusammen und setzte sich auf.
„Du hast uns rufen lassen“, sagte er und verschränkte die Hände ineinander.
„Ich habe einige dringende Angelegenheiten mit euch allen zu besprechen“, erwiderte sie und baute sich vor dem Schatzmeister auf. „Zunächst einmal benötige ich aber einige Kalkulationen.“
Der Schatzmeister sah sie abschätzig von unten herauf an und schob sich seine Lesegläser dichter an die Augen. „Wofür genau, Eure Majestät?“
„Ich möchte die allgemeine Lehre in unserem Land reformieren“, sagte sie.
Sharon sah Aurelia interessiert an. „Wie kommst du auf diese Idee? Nicht, dass ich sie nicht begrüßen würde.“
„Mir schwebte dies schon länger vor, nur war ich in der Zwischenzeit mit wichtigeren Dingen beschäftigt. So geriet es etwas in Vergessenheit“, erklärte sie und spielte damit auf ihre Nachforschungen in Thyrr an. In der dortigen Akademie für Zauberei hatte sie lange nach einem Weg gesucht, den Schattenkönig für immer zu vernichten.
„Es hat nicht zufällig etwas mit dem kleinen Mädchen von heute morgen zu tun?“, warf Arvid Nader ein.
Aurelia sah ihn finster an. „Selbst wenn es so wäre...“, sagte sie grollen und wandte sich an Sharon. „Wie wird die schulische Ausbildung in Arthenholm gehandhabt?“
„Nun, jedem Kind steht es offen eine Schule zu besuchen, sofern die Eltern das Schulgeld bezahlen.“ Sie legte einen Finger an ihr Kinn. „So weit ich weiß, ist die Höhe des Schulgeldes vom Lohn der Eltern abhängig. Es wird versucht, eine gewisse Gleichberechtigung herzustellen.“
Aurelia verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. „Das ist eine Möglichkeit... aber ich will einen anderen Weg gehen. Ich möchte, dass jedes Kind in Canthan zur Schule gehen kann. Egal, ob dessen Eltern reich oder arm sind. Alle sollen die gleichen Chancen haben.“
„Das ist ein edles Ansinnen, Euer Majestät. Aber wie soll das realisiert werden?“ Schatzmeister Ludbrock nestelte an seiner Feder und betrachtete Aurelia aus schmalen Augen.
„Dafür habe ich Euch, Schatzmeister. Ich wünsche eine Aufstellung der Kosten, wenn das Land die Schulbildung zum großen Teil bezahlt. Möglicherweise werden wir dafür die Steuern erhöhen müssen, aber ich hoffe, dass die Menschen es akzeptieren werden. Immerhin geht es um ihre Kinder.“
Schatzmeister Ludbrock schnaubte empört. „Das ist blanker Irrsinn. Ihr werdet nur die Staatskassen ruinieren. Zu welchem Zweck?“
„Zu dem Zweck, dass ein kleines Mädchen eine Chance auf eine bessere Zukunft haben wird“, fauchte Aurelia.
„Wissen ist Macht. Und es ist gefährlich diese Macht dem einfachen Volk zu überlassen,“ hielt der Schatzmeister dagegen.
„Wissen ermöglicht die Freiheit, sein Leben selbst bestimmen zu können! Welche Möglichkeiten bleiben einem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen denn? Einen Mann finden und ihm Kinder gebären, sobald sie ihre erste Blutung hatte?!“, brauste sie auf.
„Das wäre ihrem Stand angemessen“, sagte der Schatzmeister halblaut.
Knallend schlug Aurelia mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Ihre Augen begannen zu glühen, als sie ihn wutentbrannt anstarrte.
„Damit hat er sich soeben selbst einen Strick gedreht“, flüsterte Sharon an Constantin gewandt und er gluckste zustimmend.
„Genau wegen solch sturer, selbstverliebter, arroganter Schwachköpfe wie Euch steht das Land vor einem Bürgerkrieg!“, fuhr Aurelia ihn an. „Ihr werdet einen Weg finden, meine Idee zu verwirklichen oder ich suche mir einen neuen Schatzmeister!“ Ihr Stimme hallte lautstark durch den kleinen Raum. Der Schatzmeister versank förmlich in seinem Stuhl. Selbst Arvid Nader rutschte zur Seite und zog den Kopf ein.
„Jawohl, Eure Majestät“, fiepte er kleinlaut.
Zufrieden richtete sich Aurelia auf.
„Ich finde dies ist eine wirklich ausgezeichnete Idee“, sagte Norwin und nickte zustimmend. „Ich würde vielleicht sogar soweit gehen und alle Kinder dazu verpflichten für eine bestimmte Zeit zur Schule zu gehen.“
„Ausgezeichnet“, stimmte Aurelia zu und wandte sich an Arvid, doch der schrieb bereits fleißig mit.
„Wie sieht es mit der magischen Bildung aus?“, warf Constantin ein. „Sharon erzählte mir, dass es in Arthenholm überall Schulen für magisch begabte Menschen gibt.“
Norwins Augen begannen zu leuchten, als er Constantin reden hörte. „Solche Schulen gab es vor langer Zeit auch in Canthan. Doch nachdem König Heinrich starb und Roderich König wurde, wurden sie aufgegeben.“ Er seufzte. „Zwar haben manche Zauberer sich auf eigene Faust Schüler gesucht und diese ausgebildet, doch ist dies nicht mit einer Ausbildung wie in der Akademie in Thyrr zu vergleichen. Selbst der Orden stellt nur den kümmerliche Rest einer blühenden Vergangenheit dar.“
Aurelia betrachtete Norwin und Constantin, während sie überlegte. „Constantin... du und ich wissen, wie wenig Nachwuchs der Orden hat. Was würdest du davon halten, wenn wir dem Orden als neue Hauptaufgabe die Ausbildung von jungen Zauberern übertragen?“
„Ich denke, dass Meister Albion nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte. Doch ich kann dies nicht alleine entscheiden, auch wenn ich das neue Oberhaupt des Ordens bin. Ich muss erst eine Abstimmung darüber abhalten.“ Constantin fuhr sich durch seine kurzen, blonden Haare. „Dafür müssten wir außerdem den Sitz des Ordens verlegen.“
„Ich weiß. Am besten wäre ein Standort im zentralen Bereich Canthans. Aber das sind Dinge, für die wir sicherlich schnell eine Lösung finden werden“, gab sich Aurelia zuversichtlich.
„Da stimme ich dir zu. Ich werde so schnell es geht die anderen Ordensmitglieder darüber informieren und dir dann unsere Entscheidung mitteilen.“ Er sah sie an und hob fragend eine Augenbraue. „Aber du hast uns nicht hierher kommen lassen, um mit uns über deine Pläne für Canthan zu diskutieren, oder?“
Aurelia schüttelte den Kopf. „Nein. Es sind zum wiederholten Male Berichte über Ausschreitungen durch Rebellengruppen eingegangen. Dieses Mal haben sie ein Dorf niedergebrannt.“
Sharon zog scharf die Luft ein und auch Constantin ballte die Fäuste.
„Wir müssen dringend etwas dagegen unternehmen. Ich fürchte bloß, dass, wenn wir uns der Armee bedienen, es zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg kommen wird“, erläuterte sie ihre Bedenken.
„Ich stimme dir zu. Doch wir können auch nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Bevölkerung durch einige wenige Rebellen terrorisiert wird“, warf Norwin ein.
Aurelia seufzte schwer und warf Kyle einen hilfesuchenden Blick zu. Dieser hob lediglich die Schultern. „Du kennst meine Meinung“, sagte er schlicht.
„Ich weiß. Scheinbar führt kein Weg daran vorbei.“ Sie drückte den Rücken durch. „Also gut. Wir werden Truppen in das betreffende Gebiet entsenden. Sie sollen den Menschen beim Aufbau des zerstörten Dorfes helfen und die benachbarten Dörfer vor weiteren Übergriffen durch Aufständische schützen. Wir werden nicht in jedem Dorf des Landes Soldaten stationieren können, jedoch hoffen ich, das dies als deutliche Warnung verstanden wird. “
Kyle nickte knapp. „Ich werde deine Befehle an die Offiziere weiter geben.“
„Dennoch wäre es gut zu erfahren, wer hinter den anhaltenden Aufständen steckt“, merkte sie an. „Die Rebellenführer Jorg und Thoumas mögen zwar abgestritten haben, dass sie etwas mit dem Anschlag während meiner Krönungsfeier zu tun hatten, überzeugt bin ich davon allerdings nicht.“ Unweigerlich musste sie an ihre erste Begegnung mit den Rebellenführern zurückdenken. Sie erinnerte sich noch gut an die mörderischen Blicke, die man ihr entgegen gebracht hatte. „Es würde mich nicht überraschen, wenn sie ihre Finger im Spiel haben.“
„Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns alle einig“, grollte Constantin und warf Sharon einen düsteren Seitenblick zu.
Diese hob abwehrend die Hände. „Ich entschuldige mich gerne noch einmal dafür, dass ich damals die Rebellenbewegung unterstützt habe. Aber mit dem Anschlag hatte ich wirklich nichts zu tun.“
Constantin seufzte. „Das wissen wir. So etwas würde auch nicht zu dir passen.“
Sharon sah ihn schräg an.
„Du nimmst kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht deine Meinung kund zu tun“, präzisierte er.
„Tz!“ Beleidigt verzog sie den Mund und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie auch immer. Ich habe jedenfalls seitdem keinen Kontakt mehr zu den Rebellen. Lillith hat sie ordentlich verschreckt.“ Sie sah sich suchend im Raum um. „Wo steckt sie überhaupt?“
„Sie und Raik haben sich eine kleine Auszeit genommen. In wenigen Tagen sollten sie wieder zurück sein“, beantwortete Kyle ihre Frage.
„Mir ist so eben ein Gedanke gekommen“, brachte Constantin das Gespräch zurück zum Thema. „Ich plane in den nächsten Tagen zum Orden aufzubrechen, schließlich gibt es dort einiges für mich zu regeln. Wie wäre es, wenn ich auf der Reise dorthin die Ohren spitze und mich in den Dörfern umhöre? Mit etwas Glück kann ich etwas über die Strippenzieher in Erfahrung bringen.“
„Findest du dies nicht etwas waghalsig?“ Aurelia sah ihn zweifelnd an.
„Keine Sorge, ich werde ihn begleiten und auf ihn aufpassen“, sagte Sharon grinsend.
Alle sahen sie überrascht an.
„Du begleitest mich?“ Constantin wirkte völlig überrumpelt. In seinem Gesicht spiegelte sich alles andere als Freude über diese Offenbarung.
„Natürlich. Ich will schon seit einiger Zeit den berühmten Orden der weißen Zauberer besuchen. Wann bietet sich einem sonst die Gelegenheit, die Ausbildungsstätte der mächtigen Kampfzauberer in Augenschein nehmen zu können?“, stellte sie ihn vor vollendete Tatsachen.
„Ich halte das für keine gute Idee“, mischte sich Norwin ein und bedachte Sharon mit einem strengen Blick. „Was Constantin plant, ist gefährlich. Wir können es uns nicht leisten, dass eine hochrangige Persönlichkeit aus unserem Nachbarland dabei zu Schaden kommt.“
Sharon reckte das Kinn vor und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich befinde mich hier auf diplomatischer Mission. Mein Ziel ist es, Canthan beim Wiederaufbau zu helfen. Wie diese Hilfe letzten Endes aussieht, ist mir selbst überlassen.“
„Wir sind dir für deine Hilfe sehr dankbar“, sagte Aurelia rasch und schenkte ihr ein besänftigendes Lächeln. „Aber es wäre wirklich besser, wenn du hier bleiben würdest. Deine Hilfe ist uns hier mehr von Nutzen. Außerdem kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Levin dies gutheißen würde.“
„Mein Bruder ist nicht hier“, schnappte Sharon. „Und über die Neugestaltung der Regierung haben wir bereits zu genüge diskutiert.“
„Es steht aber immer noch die Bildung eines Rates aus“, hob Aurelia an.
„Die Mitglieder des Rates stehen so gut wie fest“, entgegnete Sharon ungerührt. „Neben Norwin als dein Berater, werden der oberste Befehlshaber der Armee und drei Stellvertreter aus der Bevölkerung ein Teil davon sein. Bleibt nur abzuwarten, wer die Adelshäuser vertreten wird und wen... nun... sagen wir mal, wen die nicht so vermögende Bevölkerung auserwählt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Kein Grund sich deswegen den Kopf zu zerbrechen. Da ihr allerdings die Gründung von Zaubererschulen erwägt, würde ich euch empfehlen zusätzlich jemanden in den Rat zu berufen, der die magisch begabte Bevölkerung vertritt. Constantin zum Beispiel.“ Sie reckte die Arme über den Kopf. „Für mich ist der Plan ziemlich klar. Somit denke ich, habe ich mir auch eine kleine Auszeit verdient.“
„Sharon - ich bitte dich“, versuchte Aurelia einen erneuten Einwand.
„Aurelia. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich habe ebenfalls in der Schlacht gegen den Schattenkönig gekämpft, falls du es vergessen haben solltest“, sagte sie schroff.
Kyle beugte sich dicht zu Aurelia heran. „Lass es gut sein. Du wirst sie nicht umstimmen“, flüsterte er.
„Aber sie handelt auf eigene Faust. Ich mag mir nicht ausmalen, was geschieht, falls ihr etwas zu stößt“, gab sie leise zurück. „Sie ist so ein Dickkopf!“
Kyle lachte an ihrem Ohr. „Ganz genau wie du.“
Ihr Ellbogen traf ihn in die Seite und er stieß einen leisen Schmerzenslaut aus.
„Na schön. Ich kann dich eh nicht aufhalten“, gab Aurelia endlich auf. „Damit wäre das Treffen auch beendet.“
Sharon seufzte erleichtert, streckte die Arme von sich und schritt an Aurelia vorbei zur Tür. „Dann sehen wir uns später zum Essen“, sagte sie über die Schulter hinweg und verschwand.
Arvid Nader und Schatzmeister Ludbrock räumten ebenfalls ihre Sachen zusammen und verließen gemeinsam den Raum. Norwin wechselte einige kurze Worte mit Kyle, ehe auch er sich auf seine Gemächer zurückzog.
Constantin trat an Aurelia heran und musterte sie kurz. „Hast du einen Moment für mich?“, fragte er leise.
Aurelia wandte sich an Kyle.
„Ich warte draußen“, sagte er und ließ die beiden allein.
„Also...“ Aurelia drehte sich zu Constantin um. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit dir zu deiner Position als Oberhaupt des Ordens zu gratulieren.“ Sie versuchte ein freudiges Lächeln, aber der Schmerz über Meisters Albions Tod war noch zu stark.
„Danke“, sagte Constantin heiser. „Ich konnte immer nur erahnen, wie es für dich gewesen sein musste, als man dir plötzlich so viel Verantwortung auferlegt hat. Jetzt kann ich es nachempfinden.“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Es ist kein einfaches Los.“
Sie griff nach seinen Händen und drückte sie. „Trotzdem freue ich mich darüber, dass du den Orden im Sinne unseres Meisters weiterführen wirst. Er wäre stolz auf dich.“
„Er wäre genauso stolz auf dich, wenn er dich heute hätte sehen können“, gab Constantin zurück.
Für einen Moment schwiegen sie.
„Ich bin froh, dass du in Kyle jemanden gefunden hast, dem du dein Leben anvertrauen kannst.“ Aurelia sah ihn überrascht an. „Schau nicht so. Ich kann mir euch zwei ohne einander gar nicht mehr vorstellen.“
Ihr Gesicht begann zu erröten und sie musste seinem Blick ausweichen. „Danke sehr“, sagte sie verlegen.
„Bisher dachte ich, ich wäre die Person, die dich am besten kennt. Aber diesen Posten muss ich jetzt wohl endgültig abtreten. Trotzdem....“ Er drückte ihre Hände und sie sah ihn wieder an. „Ich werde immer für dich da sein. Als dein bester Freund.“
Seine braunen Augen strahlten sie an und erinnerten sie an ihre gemeinsamen Kindertage.
„Freunde für immer“, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. „Wann wirst du aufbrechen?“
Constantin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Da ich noch einige Vorbereitungen treffen muss, schätze ich, in drei bis vier Tagen.“
„Ich hoffe, du bist rechtzeitig zur Hochzeit wieder zurück.“ Aurelia machte ein ernstes Gesicht und stach ihm mit einem Finger in die Brust.
„Keine Sorge“, lachte er. „Als ob ich mir das Essen entgehen lassen würde.“
Daraufhin mussten sie beide herzlich lachen.
„Im Ernst“, sagte sie dann. „Sei bitte vorsichtig... und halte ein wachsames Auge auf Sharon. Ich möchte nicht, dass ihr etwas zustößt und es dadurch zu Spannungen zwischen unseren Ländern kommt.“
„Ich denke, sie wird ein wachsames Auge auf mich halten.“ Constantin verdrehte theatralisch die Augen. „Seit der Schlacht verfolgt sie mich regelrecht.“
„Du bist scheinbar ihr Held“, kicherte Aurelia.
„Sehr witzig“, grollte er. „Falls es dich beruhigt: Ich plane erst zum Orden zu reiten. Mit etwas Glück kann ich sie dort zurück lassen und mich auf eigene Faust in den Dörfern umhören.“
„Ist gut“, sagte sie und nickte. Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn. „Ich werde dich vermissen. Pass auf dich auf und komm schnell wieder zurück.“
„Das werde ich“, versprach er.
Sie umarmten sich noch einen Moment lang, dann lösten sie sich voneinander und verließen den Raum. Constantin verabschiedete sich und schritt den Gang hinunter. Aurelia blieb bei Kyle, fasste seine Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen.
„Geht es dir gut?“, fragte er und sah sie besorgt an. Schweigend nickte sie und lehnte sich an seine Schulter. „Ich liebe dich“, sagte sie leise.
Kyle strich ihr zärtlich über das Haar und hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Ich liebe dich auch.“