Читать книгу June - Babette Hünerwadel - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеDie Reisetasche in meiner Hand, verlasse ich den TGV im Bahnhof von Paris. Das Fußvolk im Gare de Lyon schiebt und wälzt sich geschäftig, einem Ameisenhaufen gleich, durch das Gebäude. Wohl oder übel wälze ich mich mit, was bleibt mir anderes übrig? Ich war schon lange nicht mehr in Paris und an sich liebe ich diese Stadt, auch wenn das Französische mir noch immer öfter ein Bein stellt und ich über die Worte stolpere.
Die Verkäuferin am Imbissstand, die mir nach meiner holprigen Formulierung das gewünschte Bier in die Hand drückt, vermutet wohl nicht, dass Sprechen mein Job ist. Das ist es aber, nur definitiv nicht Französisch.
Zurzeit macht mich dieser Ameisenhaufen ganz wirr. Die Luft flimmert wie ein alter Fernseher nach Sendeschluss. War das immer so hier oder haben sie heute speziell die gesamte Pariser Bevölkerung an den Gare de Lyon beordert?
Die Sitzbank, die im hinteren Bereich der Bahnhofshalle steht, ist mein Lichtblick. Erschöpft lasse ich mich fallen, öffne eine Bierdose und nehme einen großen Schluck.
Manch einer wäre froh, wenn ihm Ferientage an den Kopf geworfen würden, doch in meinem Fall stehe ich dem Geschenk mit gemischten Gefühlen gegenüber. Mein Chef hat mich quasi gebeten, mich in den nächsten zwei Wochen nicht blicken zu lassen. Und das ist noch die schöne Version der Geschichte.
Nicht, dass ich in meinem Job nicht gut wäre. Sie wissen genau, dass ich einer der Besten bin. Aber die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben hat sich schmerzlich verschoben und irgendwann konnte man mein Privatleben nicht einmal mehr mit einer Lupe erkennen.
Na ja ... gegen ein paar freie Tage ist tatsächlich nichts einzuwenden. Ich muss nur ein- oder zweimal richtig ausschlafen, dann bin ich wieder auf dem Damm.
Die zwanzig Minuten, bis mein Zug fährt, sind schon bald Geschichte. Verpufft! Ich nehme die letzten paar Schlucke meines Biers und blicke mich nochmals in der alten Bahnhofshalle um. Ich habe eine Schwäche für die Architektur von Bahnhöfen. Allerdings hätte ich vielleicht in der Nacht reisen sollen, dann wäre ich auch vom menschlichen Ameisenhaufen verschont geblieben.
Ächzend landet meine Tasche wieder auf meinem Rücken und ich mache mich auf, den Bahnsteig ausfindig zu machen.
Im Zug lasse ich mich seufzend in einem freien 6er Abteil auf den Sitz am Fenster fallen. Nichts ist so beruhigend wie eine Zugfahrt durch die Weiten eines Landes. Der Schlaf überrollt mich schon bald wie die Räder des Zuges die Gleise.
Viel Zeit ist noch nicht vergangen, höchstens einige Minuten, als leises Fluchen und unruhiges Rumfummeln meinen so wohlverdienten Schlaf stören. Vorsichtig öffne ich mein linkes Auge, um nach dem Störenfried Ausschau zu halten. Nur nicht zu viel öffnen. Richtig wach zu werden, möchte ich auf jeden Fall vermeiden.
Zwischen meinen Wimpern kann ich eine ziemlich chaotisch wirkende Frau erkennen, die sich nervös an all ihren Gepäckstücken zu schaffen macht und leise Flüche über ihre Lippen stößt. So viel ich erkennen kann, sieht sie nicht mal so schlecht aus. Blonde, wilde Locken und eine heiße Figur. Sobald mein Verstand mit etwas Schlaf wieder auf Vordermann gebracht ist, werde ich sie mir mal genauer ansehen.
Die Geräusche meiner unruhigen Nachbarin vermischen sich mit dem Rattern des Zuges, verpacken mich in Watte und lassen mich in meine Traumwelt abdriften.
Ein kontinuierliches Klopfen durchdringt die Watte, in die ich mich so schön eingekuschelt habe. Langsam kehrt mein Bewusstsein zurück ins Zugabteil. Meine Augen bevorzugen es, noch ein wenig geschlossen zu bleiben, aber das Klopfen nervt gewaltig! Wohl oder übel muss mein linkes Auge wieder dran glauben und sich vom angenehmen Halbdunkel verabschieden.
Langsam blinzle ich und sehe eine Hand, die fortwährend nervös auf den Tisch klopft, während die andere ein Buch hält.
„Arrête ce bruit!" Ich gebe mir keine Mühe, es weder nett noch richtig klingen zu lassen.
Augenblicklich hört die Klopferei auf, dafür wird das Buch auf das Tischchen zwischen uns geknallt.
„Lern erstmal richtig Französisch! Und wenn du schon etwas möchtest, könntest du gerne etwas freundlicher sein!" Obwohl die Stimme einen keifenden Ton erwischt hat, schwingt da etwas mit, das mich aufhorchen lässt.
Nun öffne ich meine Augen ganz und erstarre. Das ist doch nicht ... kann doch nicht sein ...! Und trotzdem, die Stimme und das, was meine Augen erblicken, lassen keine Zweifel zu!
JUNE!
Das ist vollkommen unmöglich! Von allen Personen, mit denen ich eine Zugreise unternehmen möchte, käme June wohl an allerletzter Stelle! Und das seit damals, als wir 15 waren. Was zugegebenermaßen schon eine ganze Weile her ist. Trotzdem hat sich an meiner Abneigung nichts verändert. Im Gegenteil.
„June! Verdammt, was tust du hier?"
Auch ihr Groschen scheint nun seinen Weg gefunden zu haben. Man hört ihn deutlich klackern, als er auf den Grund ihres Hirns fällt.
„Levin? Du hier? Was zum Teufel ..." Ihre Stimme klingt so feindselig, wie ich sie in Erinnerung habe.
Ich versuche meine Vernunft zusammenzukratzen und hole tief Luft. „Weißt du was? Lass mich einfach in Ruhe und ich lasse dich in Ruhe. Sobald wir ankommen, wo auch immer wir ankommen wollen, können wir vergessen, dass wir uns hier über den Weg gelaufen sind!"
Für einen Moment schleicht sich ein leicht verletzter Ausdruck auf Junes Gesicht, welcher aber durch ein trotziges Schulterzucken und Beinahe-Nicken verdrängt wird. „Wie du meinst!"
Mein Blick wandert verstohlen zu der Person, die mir so viele schlaflose Nächte beschert hat. Zu meinem Leidwesen muss ich zugeben, dass sie noch immer hammermäßig aussieht. Verdammt!
Trotzdem ist es ja eigentlich kindisch. Wir sind doch mittlerweile zwei erwachsene, vernünftige Personen.
Ein Bier. Ich brauch jetzt ein Bier, um den Schrecken runterzuspülen! Zum Glück habe ich am Bahnhof vorgesorgt und mir einige besorgt. Ich packe meine Tasche und ziehe eins hervor. Und noch eins.
„Willst du eins?"
„Hast du keinen Weißwein??"
Ich bin sprachlos, oder beinahe wenigstens. Typisch June!
„Dein Ernst? Nimm‘s oder lass es bleiben!!"
June streckt wortlos ihre Hand aus und krallt sich mein Bier. Schweigend trinken wir unser Bier und versuchen uns nicht anzusehen.
Bis Junes Stimme das Schweigen bricht. Sofern es möglich ist, die Situation noch unangenehmer zu machen, gelingt ihr dies durch genau diese Worte.
„Levin ... ich brauch deine Hilfe. Ich hab meine Geldbörse verloren, mit allem Drum und Dran. Geld, Kreditkarten und Ausweise."
Mein Blick heftet sich fragend an sie. „Und das ist mein Problem, weil ...?"
Junes Augen verdrehen sich. So kenn ich sie! Zickig, wie sie schon immer war.
„Komm schon... wo soll ich denn hin ohne Geld und Ausweise? Ohne Ausweis kann ich mir ja nicht mal ein Hotelzimmer nehmen, selbst wenn ich Geld hätte! Du kennst mich lange genug, um zu wissen, dass ich dich niemals um Hilfe bitten würde, wenn ich nicht in dieser beschissenen Situation wäre."
Und schon zum zweiten Mal an diesem Tag bereue ich meine Entscheidung, nicht den Nachtzug genommen zu haben.