Читать книгу June - Babette Hünerwadel - Страница 9

Kapitel 4

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Alles tut mir weh. Mein Kopf ist benommen, als wäre er in Watte gepackt, aber nicht auf angenehme Art und Weise. Es fühlt sich eher an, als würde die gesamte Pariser Metro durch meinen Schädel kurven, und das nicht gerade langsam. Das stechende Licht tut ihr Übriges, um in mir den Wunsch zu wecken, mich wieder unter meiner Decke zu verstecken.

Ich bemühe mich, meine Sinne trotz Watte und Lichtblitze zusammenzukriegen. Versuche mich zu orientieren. Wo bin ich...? Wohl nicht Zuhause ...

Ein Schatten beugt sich über mich und dröhnende Worte vermischen sich mit dem Lärm der Metro. „Na, wieder unter den Lebenden?"

Ich erstarre. Diese Stimme! Es war also kein schlechter Traum. June! June ist hier. Mit mir. Und sie liegt dichter neben mir, als mir lieb ist!

Was war gestern ...? Mein Erinnerungsvermögen zieht es scheinbar vor, auf Verdrängungstaktik zu setzen. War wohl etwas zu viel des Guten gestern Abend. Vorsichtig taste ich meinen Körper ab. Nackt! Bis auf die Boxer. June wird doch nicht ... sie wird doch nicht meine Situation ausgenutzt haben?

„June ... ähm ... gestern. Was haben wir ... du und ich haben doch nicht ..."

Schallendes Gelächter, das bemüht ist, meinen Kopf zu sprengen, dringt von Junes Seite zu mir herüber.

„Wo denkst du hin Levin?! Seit damals hat sich nichts verändert! Diesbezüglich wenigstens. Warum sollte ich ...?"

Autsch!

„Zudem ... ich steh nicht auf kotzende Typen!"

Nochmals. Autsch!

„Verdammt ... hab ich ...?"

„Oh ja... du hast! Das ist auch der Grund, warum du ohne Kleider neben mir liegst."

Langsam öffne ich meine Augen zu einem Spalt und versuche sie anzusehen. June liegt dicht neben mir, ihren Kopf in die Hand gestützt und lacht mir amüsiert ins Gesicht.

„Sag nicht, du erinnerst dich an nichts."

„Nur vage ...", lasse ich kleinlaut verlauten, was übertrieben ist, denn ich erinnere mich tatsächlich an nichts! Rein gar nichts! Filmriss! Zumindest an nichts, was nach der dritten Flasche Wein passiert ist.

„Und du hast mich alleine ins Hotel geschleift? Meine Kleider ausgezogen ..."

„... und gewaschen! Denkst du, ich lasse dich in der Gosse liegen, nachdem du dich abgefüllt hast, bloß weil wir in der Vergangenheit unsere Differenzen hatten?"

Mist! June hat mich vor meinem eigenen Desaster gerettet, weil ich mal wieder nicht wusste, wie viel ich vertrage. Das ist nicht wirklich das, was ich für diese Reise geplant hatte.

Der Versuch, mich aufzurichten, scheitert kläglich, als ein Messer versucht, sich durch mein Hirn zu bohren.

„Hier! Trink das." Mein Blick genügt ihr, um weitere Erklärungen zu liefern. „Aspirin. Was anderes hatten die hier nicht."

„Du bist schon Aspirin besorgen gegangen?"

Ohne zu antworten, steht June auf, reißt den Vorhang des kleinen Fensters auf und meint: „Na los! Ich hab keinen Bock hier den ganzen Tag rumzuhängen! Wir haben noch was vor."

Außer einem Stöhnen dringt kein Laut aus meiner Kehle.

Eineinhalb Stunden später sitzen wir in einem kleinen Bistro, das June zu meinem Erstaunen ausfindig gemacht hat, und ich versuche mich mit dem Anblick des Frühstücks anzufreunden. Die Dusche habe ich über mich ergehen lassen, mich in frische Kleider gezwängt und trotzdem fühle ich mich, als wäre ich ein umgedrehter Waschlappen.

Unsere getrennten Wege, die ich für den heutigen Tag so schön geplant hatte, werden wohl etwas warten müssen. Einerseits kann ich kaum die Energie aufbringen, mich aufrecht zu halten, und andererseits kann ich June schlecht in die Wüste schicken, nachdem sie mich diese Nacht ins Hotel geschleift, meine Kleider gewaschen und dafür gesorgt hat, dass ich im Bett und nicht in der Gosse zu liegen komme. Ich schulde ihr etwas!

Die Wüste muss also warten.

„Was haben wir denn vor?" Der Anblick der frischen Brötchen erweckt in mir den Drang, umgehend die Toilette aufzusuchen. Ich nehme einen Schluck des starken Kaffees und versuche alles Essbare auszublenden.

„Der Naturpark. Hier in der Gegend gibt es einen Naturpark. Als Kind hat mich mein Großvater ein paarmal mit hierher genommen. Schon aus nostalgischen Gründen will ich da wieder hin."

Das Strahlen, das sich über Junes Gesicht ausbreitet, könnte das ganze Kaff für eine Woche erleuchten. Und verdammt, ihr Strahlen ist ansteckend! Trotz Übelkeit und dröhnendem Schädel kann ich nicht verhindern, dass meine Mundwinkel nach oben wandern.

„Und wann soll's losgehen?"

„Gleich nach dem Frühstück. Wir werden etwas Proviant einkaufen, deine Tasche packen und loszotteln." Junes Stimme lässt keinen Zweifel oder Widerspruch zu. „Übrigens hab ich unsere Wirtin nach dem Zug gefragt. Es handelt sich um einen Streik und vor Morgennachmittag wird er wohl nicht beendet sein."

Typisch June! Alles schon geplant und beschlossen! Gewisse Verhaltensmuster ändern sich wohl nie. Würde mir mein dröhnender Schädel und mein rebellierender Magen nicht im Wege stehen, hätte ich wahrscheinlich aufbegehrt, und das nur schon aus Prinzip. Aber heute habe ich bloß ein müdes Nicken übrig.

Dass der Streik nicht nur die Züge betrifft, sondern das gesamte öffentliche Verkehrsnetz Frankreichs, erfahren wir an der brachliegenden Bushaltestelle. Wohl oder übel entscheiden wir uns deshalb für Plan B oder wenn man es insgesamt betrachtet, sind wir sehr wahrscheinlich schon bei Plan E oder F dieser Reise angelangt. Welche Bezeichnung der Plan nun auch immer trägt, er sieht einen längeren Fußmarsch vor.

Die Tasche mit dem Proviant und einer Picknickdecke auf meinem Rücken, eine Flasche Wasser gegen den Rotweinkater in meiner Hand, gebe ich mich geschlagen und trotte neben June her.

Meine Lebensgeister, die durch den Trott am Weiterschlaf gehindert werden, erwachen nach einiger Zeit aus dem Koma. Die frische Luft scheint meinem Kopf gut zu tun und auch mein Magen beruhigt sich allmählich wieder etwas.

Wir gehen über Felder und Wiesen. Okay ... das stimmt nicht ganz, auch wenn es gut klingt. Wir gehen vielmehr auf den Feldwegen, aber über Wiesen gehen wir tatsächlich. Wildwiesen, auf denen spätsommerliche Blumen wachsen.

June scheint ein klares Ziel vor Augen zu haben. Was und wo, davon habe ich keinen Dunst. Ich begnüge mich damit, ihre Begleiterscheinung zu sein. Der Weg zieht sich über zwei Stunden hin.

Wir erreichen einen Wald, der den Eindruck eines Märchenwalds vermittelt. Alte Kiefern wachsen knorrig auf rauem, felsigen Grund.

Kreuz und quer durchstreifen wir den Wald und ich beginne mich zu fragen, wie wir den Weg wieder zurückfinden sollen. Meine Energie reicht jedoch knapp, um die Strecke zurückzulegen, aber nicht, um mich mit June anzulegen.

Wir erreichen eine kleine Anhöhe. Sonnenlicht dringt durch das Geäst, moosige Felsen liegen verstreut auf dem Waldboden.

June lässt sich auf die Knie fallen und verharrt in dieser Position. Etwas an ihrer Haltung verhindert, dass ich sie anspreche, als hätte ich Angst, sie bei etwas zu unterbrechen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Nach geraumer Zeit dreht sie sich zu mir um. Ihr Blick ist gelöst und friedlich. Lange habe ich sie nicht mehr so gesehen. Glücklich.

„Das ist der Ort, an den mich mein Großvater immer mitgenommen hat."

Müde setze ich mich auf einen Felsen und betrachte sie. Ich sehe das elfjährige Mädchen, das ich einmal gekannt habe. Hinter dem Stuhl ihres Großvaters stehend, drückt sie ihn an sich. Ich höre ihr Lachen, das sich mit dem ihres Großvaters vermischt. Die sonnengebleichten, wild gelockten Haare wachsen allen Himmelsrichtungen entgegen. Ihr Großvater war alles für sie.

Ich vermisse sie.


June

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