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„ICH HABE SO VIEL LUST AUF LEBEN“

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Dr. h.c. PETRA ROTH

geboren 9. Mai 1944 in Bremen Beruf Oberbürgermeisterin a.D.

PETRA ROTH ist eine der erfolgreichsten Politikerinnen Deutschlands. Von 1995 bis 2012 war sie CDU-Oberbürgermeisterin in Frankfurt und dort hochgeschätzt. Bis 2011 amtierte sie mit Unterbrechungen als Präsidentin des Deutschen Städtetags. 2012 war sie auch als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch. Petra Roth wird am 9. Mai 1944 in Bremen geboren. Sie bildet sich in Freiburg an der Buchholz-Schule zur Arzthelferin aus. In zweiter Ehe heiratet sie in Frankfurt Erwin Roth und startet als Quereinsteigerin eine spektakuläre Karriere als Politikerin. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl führt sie in seinem legendären Telefonverzeichnis und ermutigt sie zur Kandidatur. Er fördert sie, weil er ihr Rückgrat und ihre Tatkraft achtet: „Die geht auch uff de Gass“… und ran an die Leute. Petra Roth reüssiert und macht aus einer grauen, schmutzigen Stadt mit schlechtem Ruf eine moderne, kulturorientierte Wirtschaftsmetropole mit hoher Lebensqualität. Petra Roth ist verwitwet, hat zwei Söhne und zwei Enkel und ist mit einem Schweizer liiert. Sie lebt in Frankfurt, sitzt in mehreren Aufsichtsräten, Stiftungen und Gremien.

Gerade wird in der Frankfurter Paulskirche feierlich der renommierte Ludwig-Börne-Preis für Essays und Reportagen verliehen. In diesem Jahr, 2007, geht er an den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder, der sich um die Aufarbeitung des deutsch-jüdischen Verhältnisses verdient gemacht hat. In die Laudatio des Jurors Helmut Markwort hinein dringen plötzlich Zwischenrufe. Markwort ignoriert den Störer, aber der gibt nicht auf. Unruhe entsteht. Ordner betreten den überfüllten Saal. In der ersten Reihe sitzt die Oberbürgermeisterin Petra Roth. Nach einer Weile erhebt sie sich, geht ruhig durch den Mittelgang und findet den Zwischenrufer. Sie setzt sich neben ihn, jemand muss ihr Platz machen, und spricht mit ihm. Es wird wieder still. Markwort kann seine Rede beenden. Der Skandal bleibt aus.

Eine Szene, die typisch ist für Petra Roth. Gespür für Situationen und Stimmungen, das sagt man ihr bewundernd nach. Sie erinnert sich genau: „Das war kritisch. Durchaus dramatisch. Frankfurt ist eine linksliberale Stadt, in der die Kontrolle von Polizei oder Sicherheitskräften nicht gern gesehen wird. Es ging darum, den Bürgern das subjektive Sicherheitsgefühl zu geben, aber das objektive Sicherheitsbedürfnis nicht in Erscheinung treten zu lassen. Das heißt, keine Uniform. Vorne sprach einer über die Freiheit des Geistes. Von hinten kamen Zwischenrufe mit wohl antisemitischem Zungenschlag. Ich kannte den Mann nicht. Aber ich kann Menschen führen. Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, wenn Unruhe entsteht, zu beobachten und rauszuführen. Ich dachte nur, um Gottes willen! Wenn jetzt zwei, drei Sicherheitskräfte … Und deshalb bin ich hingegangen zu dem Mann, und er hat mir erzählt, was ihn aufregte. Es ging um die Palästina-Israel- Frage. Das war hochpolitisch.“ Wieder mal hatte sie Zivilcourage bewiesen und spontan eine brisante Lage entspannt. „Gewalt. Sehen. Helfen.“ heißt eine Initiative, die sie gegründet hat, um die Menschen im Alltag zu mehr Mut und Engagement zu bewegen.

Die wohl meistfotografierte Bürgermeisterin empfängt in ihrem Haus, einem schlichten weißen Kubus, im Stadtteil Niedererlenbach. Sie trägt enganliegende schwarze Hosen, einen kurzen gelben Cardigan mit einem gelben Poloshirt darunter. Die kurzen blonden Locken wirken sportlich und dynamisch. Das Gesicht ist nicht frei von Falten, ihre Ausstrahlung und Präsenz lassen das jedoch vergessen. Ihr Haus ist klar gegliedert, lichtdurchflutet, der Blick geht auf eine kurzgeschorene, wellige Rasenfläche, durch seitliche Hecken geschützt vor zudringlichen Blicken. Bilder ihres verstorbenen Mannes – er war ein begabter Maler – hängen an den Wänden. Sie wurden nie ausgestellt, weil er nicht wollte, dass fremde Leute mit dem Sektglas in der Hand urteilen, „ohne seine Gefühle zu kennen, ohne zu wissen, wie und warum er so gemalt hatte“. Sie hat sich daran gehalten.

Was für eine Karriere hat diese Frau hingelegt und dabei reihenweise Amtsträger überrundet, die nur fassungslos hinter ihr herschauen konnten. Und sie ist frech. Mit ihrem Mann Erwin Roth im Rücken, der sie ermutigt, und den zwei skeptischen Söhnen, damals 19 und 22, die unken: „Oh, Mama, wenn du Oberbürgermeisterin wirst, hängst du alle sechs Jahre am Baum.“ Das war 1993, als sie das erste Mal als Listenführerin der CDU Anlauf auf das Amt nimmt und scheitert. Die Partei hatte sie als Verlegenheitslösung aufgestellt. Petra Roth steckt die Niederlage weg, sie hat längst Geschmack gefunden an der Politik: „Wenn ich mir eine Meinung gebildet habe und von einer Idee überzeugt bin, dann will ich anderen Menschen davon erzählen. Ich will ihr Bewusstsein verändern. Erstaunlicherweise überträgt sich meine Begeisterung.“

Der zweite Versuch klappt. „Ich will Ihren Platz“, teilt die politische Außenseiterin dem überraschten Amtsinhaber Andreas von Schoeler knapp mit. 1995 wird sie als erste Frau Stadtoberhaupt in Frankfurt. Nach fünf Tagen besucht sie Jürgen Dormann, Hoechst-Chef und einer der einflussreichsten Industrieführer seiner Zeit. Er sagt: „Ihre Aufgabe ist ungleich schwerer als meine. Ich treffe von zehn Entscheidungen, die am Tag anstehen, eine. Und wenn sie nicht gut war, wird sie kaschiert von anderen. Sie treffen jeden Tag zehn Entscheidungen, und jeder meint, sie beurteilen zu können, noch dazu in den unterschiedlichsten Feldern.“ Petra Roth war beeindruckt und weiß heute: „Als Oberbürgermeisterin trifft man alle Entscheidungen allein. Man kann sich nicht immer beraten, dazu fehlt die Zeit. Zügige Entscheidungen sind aber manchmal gefordert. Und die Auswirkungen trägt man allein. Ich musste Entscheidungen innerhalb von Minuten treffen und konnte immer nur hoffen, dass sie richtig sind. Denn zu Entscheidungen muss man, musste ich, stehen. Das war ein Grundsatz, den ich mir in den 70er, 80er Jahren gut gemerkt habe, als ich in der Fraktion des legendären Oberbürgermeisters Walter Wallmann saß: Man muss zu seinen Entscheidungen stehen.“ Sie bilanziert: „Ich habe immer gestanden.“ Das macht glaubwürdig.

„ICH KANN NOCH EINEN SCHLAG MEHR, NOCH EINE SCHAUFEL DRAUFLEGEN.“

Petra Roth hat eine glückliche Kindheit. Sie wird Arzthelferin und zieht mit 20 Jahren in die Main-Metropole Frankfurt. Nach einer kurzen verunglückten Ehe heiratet sie 1970 Erwin Roth, den Leiter der Hörfunktechnik beim Hessischen Rundfunk, ihre „große Liebe“. Er ist 23 Jahre älter als sie und stirbt 1994. Ein schmerzhafter Einschnitt. „Mein Mann“, so Petra Roth, „war ein Mensch, der mich völlig verstanden hat, ohne darüber zu sprechen. Er fehlt mir sehr. Das weiß ich in der vollen Bedeutung heute noch mehr als damals. Ich bin bestimmt nicht einfach, aber er konnte damit umgehen. Als ich mit der Politik anfing, haben die Kollegen meines Mannes im Hessischen Rundfunk gesagt: ‚... dass du deiner Frau das erlaubst!‘ Da hat er gesagt:, Jetzt ist aber Schluss, die Petra soll machen, was sie möchte!‘ Er stand voll und ganz hinter der Politik, die ich gemacht habe. Seine Sorge war nur, ich könnte verletzt werden. ,Du bist zu empfindlich für die Politik‘ meinte er. Aber ich bin durchgekommen. Es ist gutgegangen. Er hat mir auch klargemacht, was in mir steckt, was ich kann. Und wenn sie im Tennisclub ironisch ‚Herr Bürgermeister‘ zu ihm sagten, konterte er gelassen, ‚Nein, nein, diesen Titel habe ich nicht.‘ Er sagte auch schon ganz früh: ,Petra muss man an einer ganz langen Leine führen, aber sie will geführt werden.‘ Das vermisse ich jetzt.“ Schon in den allerersten Anfängen der Karriere ermuntert sie Erwin Roth. Sie hat das Plakat eines CDU-Mannes gesehen, der zu einer Versammlung lädt. ‚Du, da gehe ich mal hin und hör mir das an‘, sagt sie zu ihrem Mann, ich bin doch so neugierig, ich war und bin noch heute konstruktiv neugierig.

Petra Roth auf ihrer ersten CDU-Veranstaltung in Frankfurt: eiskalter Winter, nette Kneipe, Bullerofen. Um halb acht sitzt sie in der ersten Reihe. Kein Mensch da. Acht Uhr Beginn. Dann kommt ein Herr zu ihr und fragt vorsichtig, was sie denn hier wolle. Er kenne sie ja gar nicht. Zuhören. Das ist ja schön. Die CDU hat gerade viele Mitglieder verloren. „Und dann bin ich, mein Mann lachte, am nächsten Montagabend zum Stammtisch gegangen. Da hat man Leute kennengelernt und zugehört und wurde schnell in irgendwelche Ämter gehievt. Wo kann man das lernen, habe ich gefragt, und bin dann konsequent zur Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung, zu den Bildungsinstitutionen der Gewerkschaften und Kirchen gegangen und habe dort richtig Politik in Seminaren mit Abschlüssen gelernt. Kinderbetreuung gab es inklusive, also konnte ich meine beiden Jungs mitnehmen. Heute kann ich das zurückgeben, wenn ich zum Beispiel für die Konrad-Adenauer-Stiftung als Referentin in deutschen und ausländischen Metropolen über Ziele und Inhalte der Politik rede.“

Mit 32 und zwei kleinen Kindern wird sie Stadtverordnete, und dann gibt es Einladungen zu Podiumsdiskussionen. Da müsse man nicht hin. Da habe ich mich gemeldet und gefragt, ist das verboten? „Ich fand nämlich, man muss eine Meinung oder auch eine Gegenmeinung öffentlich machen! Das war die Gelegenheit dazu. Als mir von den Feministinnen männlicher Politikstil vorgeworfen wurde, habe ich gesagt, ich erlebe doch auch nur Männer in den entscheidenden Funktionen. Das müssen wir ändern. Ich wusste, wie wichtig weibliche Emanzipation für eine stärkere Aufstellung von Frauen in zukünftigen Mandaten ist. Sehen Sie, ich bin hier, ich bin eine Frau. Ich war überall die erste Frau.“

Für Petra Roth geht es politisch weiter nach oben. „Ich habe mich immer getragen gefühlt und mich nie geängstigt. Ich habe zu Menschen Vertrauen, ich gehe auf alle zu.“ Nach ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin mokiert sich die Presse über ihre ersten Maßnahmen und spottet: Petra Roth räumt auf. Sie lässt die Straßenränder säubern und Graffitis entfernen. Ist das wirklich lächerlich? „Man muss im Kleinen anfangen, um Großes zu erreichen“, ist ihre feste Überzeugung. Und es hat funktioniert. „Was du alles wegschaffen kannst, sagte schon meine Mutter. Und es stimmt, ich habe immer das Gefühl gehabt, ich kann noch einen Schlag mehr, noch eine Schaufel drauflegen. Ich habe so viele Ideen, und ich habe so viel Lust auf Leben. Es fällt mir auch nichts schwer. Ich denke nie, das musst du noch machen, sondern, was machen wir danach.“


„Auf der Suche nach dem besonderen Detail zwischen Haarspitzen und Fußsohlen entschied sich Petra Roth für den elegant geschwungenen Nasenrücken.“ Konrad Rufus Müller

Zweimal, 2001 und 2007, wird die starke Frau mit steigenden Prozentzahlen wiedergewählt. Dann darf sie wegen der Altersgrenze nicht mehr antreten. Mitte 2012, ein Jahr vor Ablauf der Amtszeit, macht sie Schluss, um ihrem Nachfolger genug Zeit für den Wahlkampf zu verschaffen. Wiedergewählt worden zu sein, das war für Petra Roth immer das Ziel ihrer Karriere. „Die Petra“ ist längst auch durch ihr Engagement für Kunst und Kultur beliebt. Der 2006 verstorbene Dichter und Satiriker Robert Gernhardt widmete ihr in schönstem Frankfurterisch seine „unsortierten Gedanken eines Frankfurter Bürgers“ und sprach vielen aus der Seele:

„Präschtisch, wie se widder aussieht,

Escht gut, wie se präsediert,

Trefflisch, wie se Frankfurt steuert,

Riesisch, wie se es erneuert,

Astrein, wie se’s kommendiert!“

Ihr Verständnis und ihr Einsatz für die schönen Künste in Museen, für die Bühnen und die Oper verschaffen ihr Achtung und Zuneigung. Der weltberühmte Choreograph William Forsythe, Chef der Forsythe Company, formulierte sein Bedauern über das Ende einer Ära in einem schlichten Satz: „I will miss Petra.“ Der Kulturcampus Frankfurt gilt überregional als Modellprojekt der Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert: Im Wohnquartier werden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, im Kulturquartier begegnen sich Musiker, Tänzer und Schauspieler aus vielen Institutionen. Das neue Quartier wird zu hundert Prozent nachhaltig und energieeffizient erstellt.

Und nun? Ist da eine Lücke? „Es ist ja nicht vorbei“, Petra Roth wiegelt ab. „Das Mandat war eine politische Aktivität auf Zeit. Das wusste ich. Es war wunderschön. Und jetzt gebe ich mein Netzwerk weiter an andere Institutionen. Und auch da gibt es Zustimmung, die mich freut. Ich bin mittendrin!“ In der Stiftung Schloss Ettersburg, die sich mit der Gestaltung des demographischen Wandels beschäftigt und Strategien für eine schrumpfende Bevölkerung entwickelt, oder als Consultant der Tel Aviv University, wo es um die Förderung der akademischen und kulturellen Beziehungen der Partnerstädte Tel Aviv und Frankfurt geht.

„Ich wünsche mir demütig, dass mir die Kräfte und die geistige Fitness bleiben, mich weiter einzubringen.“ Allerdings ohne körperliches Training: „Die Ärzte sagen, wer so viel mit dem Kopf zu bewältigen hat, betreibt Gehirnjogging.“ War der 60. Geburtstag ein wichtiges Datum? „Ich habe mit 60 nicht an das Alter gedacht. Es gab ein Riesenfest mit tausend Leuten im Römer. Vielleicht sollte ich mich mal mit meinem 70. befassen, mir Gedanken darüber machen, dass ich 70 Jahre gelebt habe, aber es stellt sich noch kein Gefühl des ‚Altseins‘ ein. Wenn liebe Freunde, die so fünf, sechs Jahre älter sind als ich, sagen, na, jetzt gehst du doch mal wieder auf den Tennisplatz oder fängst an, Golf zu spielen, frage ich mich, wie ich das in meinem neuen Terminkalender unterbringen soll.“

Setzt sich in ihren neuen schwarzen Sportwagen, lässt das Cabriodach herunter und braust winkend davon zur Aufsichtsratssitzung eines großen Unternehmens. Und heute Abend kommt für vier Tage ihr Freund aus der Schweiz.

Lust auf Leben

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