Читать книгу Lust auf Leben - Barbara Brauda - Страница 9
„WENN ES KUNST IST, WIRD MUSIK IM TANZ VISUELL. SONST WÄRE ES SPORT“
ОглавлениеProf. BIRGIT KEIL
geboren 22. September 1944 in Kowarschen Beruf Ballerina, Tanzpädagogin und Ballettdirektorin
BIRGIT KEIL wird am 22. September 1944 in Kowarschen, in der Nähe von Karlsbad, im Sudetenland geboren. Mit ihrer Familie wird sie nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben. Sie wächst in Bad Kissingen und Stuttgart auf. Hier beginnt sie ihre Karriere als Tänzerin und wird unter dem legendären Choreographen John Cranko zu einem Superstar. Unter seiner Direktion wird sie durch Tourneen mit dem Stuttgarter Ballett bekannt und feiert durch Sologastauftritte u. a. an der Opéra Paris, der Mailänder Scala, dem American Ballet Theatre an der Metropolitan Opera, New York, dem Royal Ballet in Covent Garden, London, und an der Wiener Staatsoper als die deutsche Ballerina von Weltformat Triumphe. Birgit Keils Partner sind Legenden wie Rudolf Nurejew, Richard Cragun, Paolo Bortoluzzi und Fernando Bujones. Sie tanzt alle Hauptrollen des klassischen und modernen Repertoires. Ihre Interpretation inspiriert Choreographen wie Cranko, MacMillan, Wright, Tetley, Kylián, Neumeier, Spoerli, Scholz, Feld, van Manen und Haydée zu Kreationen für sie. 1980 erhält sie den Titel „Kammertänzerin“. Im Herbst 1995 beendet Birgit Keil ihre aktive Bühnenlaufbahn mit einer glanzvollen Abschiedsgala im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater Stuttgart. Seit 1997 ist sie Leiterin an der Akademie des Tanzes Mannheim, wo sie auch als Professorin lehrt. 2003/2004 übernimmt sie zusätzlich die Ballettdirektion des Staatstheaters Karlsruhe. Das unter Birgit Keil neu formierte Karlsruher Ballett findet durch das vielfältige Repertoire internationale Beachtung. Seit 1968 verbindet sie mit Vladimir Klos eine berufliche und private Partnerschaft.
Zwischen 5.30 und 6.30 Uhr morgens klingelt normalerweise der Wecker für Birgit Keil, vor zwei Uhr nachts kommt sie selten ins Bett, denn „es gibt immer viel zu tun, Langeweile kenne ich nicht.“ Ihr Alltag, das ist die Ballettdirektion in Karlsruhe – Planung, Proben, Gespräche, abends die Vorstellungen. Dann das Deputat und die Leitung in Mannheim – die Arbeit als Pädagogin mit den Studierenden, viel Büroarbeit, Organisation, Aufführungen. In Stuttgart die private Tanzstiftung Birgit Keil – Stipendiaten, Präsentationen, Akquirierung und Pflege von Spendern und Sponsoren. Und und und. Ein Arbeitstier. „Ich scheine, Gott sei Dank, nicht viel Schlaf zu brauchen.“
Sie hat eine Figur wie ein 16-jähriges Mädchen, bewegt sich graziös. Immer ein Strahlen im Gesicht, immer freundlich zu jedermann, lächelnd. Schauspieler, Sänger, Tänzer, Bühnentechniker in der Karlsruher Theaterkantine schauen dieses zarte Reh mit den riesigen dunklen Augen verstohlen an, scheu, spüren ihre Aura. Ein Reh? Nein, eher eine Magnolie aus Stahl.
Tanzen, immer nur tanzen, das war ihr Leben. Und ist es bis heute.
Disziplin bestimmt ihr Leben. Disziplin bestimmt das Leben der Tänzer. Aber nur selten führt die Schwerstarbeit in die schwindelerregenden Höhen der Kunst des Balletts und des Ruhms wie bei Birgit Keil. Sie hat Sternstunden erlebt, wie zum Beispiel beim Gastspiel von „Romeo und Julia“ mit Vladimir Klos als Romeo an ihrer Seite auf der Bühne der New Yorker Met. Ein magischer Abend. Als nach der letzten Szene – dem Tod des Liebespaares –, der Vorhang fiel, war es totenstill. Keine Hand rührte sich. Zu bewegt war das Publikum. Als sich der Vorhang wieder öffnete, brach ein Orkan los, tosender Beifall, der kein Ende nehmen wollte. „Ein solcher Moment ist unvergesslich.“ Birgit Keil ist die Königin des Tanzes. „Eine Ballerina von Weltformat“, schrieb die „New York Times“ über die „Elegantissima“. „Ich habe lange Beine und lange Arme wie ein Affe“, sagt sie und lacht. Ihre Anatomie ist ein seltenes Geschenk. Lange Unterschenkel, schmale Fesseln und ihr Spann! Der gestreckte Fuß auf Spitze zeigt eine besonders schöne Linie. Die feingliedrigen Finger wie Lilien, farblos lackierte Nägel, zarte Handgelenke – man staunte über ihre Anmut und makellose Technik, ihre Ausdruckskraft – das Außergewöhnliche an ihr neben Höchstleistungen, die Voraussetzung sind. „Wenn es große Kunst ist, wird Musik im Tanz visuell, und die Bewegungen werden mit Emotionen und Inhalt angereichert. Sonst wäre es Sport.“
„TALENT OHNE GEIST, OHNE SEELE, OHNE LEIDENSCHAFT, OHNE BESESSENHEIT IST NICHTS WERT – TALENT ALLEIN FÜHRT ZU NICHTS.“
35 Jahre lang war das Stuttgarter Ballett ihr Zuhause, zählte sie zur Weltelite. Auch das außergewöhnlich, wo manche Karrieren schon mit 30 zu Ende gehen und Sehnen, Gelenke, Knochen längst kaputt sind. Birgit Keils Füße sind auch heute noch gesund und schön, trotz des Spitzentanzes über Jahrzehnte.
Tanz – das war ihre Leidenschaft. Seit ihrer Kindheit. Nach der Vertreibung aus der Heimat verbrachte die Familie ein paar Jahre in einem Lager in Bad Kissingen und zog dann nach Stuttgart. Die Mutter liebte Ballett und Musik und förderte ihre kleine Tochter. Sie ging früh in eine private Ballettschule und dann in die Ballettschule von Anneliese Mörike im Staatstheater Stuttgart. „Ihre Tochter wird mir noch viel Freude bereiten“, sagte die Lehrerin nach dem ersten Training zur Mutter. Und keiner hatte eine Vorstellung davon, zu welchen Höhenflügen diese einzigartige Karriere führen würde.
Ein erster großer Tag. Der neue Ballettdirektor im Stuttgarter Staatstheater, Nicholas Beriozoff, genannt Papa, suchte für seine erste Produktion mit dem Ballettensemble, „Dornröschen“, neun Ballettschülerinnen aus. Dann die erste Probe. Der Ballettsaal war voll mit den Ensemblemitgliedern. „Papa teilte uns Schülerinnen ein, die eine Hälfte nach rechts, die andere nach links. Eifrig eilte ich auf die Seite, um mich einzuordnen, als ich ihn rufen hörte: ‚Birgit, du nicht!‘ Ich war fassungslos. Ich glaubte, womöglich nicht ausgesucht worden zu sein, und hätte mich am liebsten vor Scham in Luft aufgelöst. Ein furchtbarer Moment. Dann hörte ich seine Stimme – ‚Birgit‘. Er hatte mich für mein erstes Solo im Blumenwalzer in ‚Dornröschen‘ vorgesehen. Und das mit elf Jahren!“ Ihr Alltag bestand aus Schule, danach ins Theater, in der Ballettschule trainieren, Proben und Aufführungen mit dem Ensemble, Vorstellungen des Schauspiels und der Oper besuchen und, falls noch Zeit blieb, so oft wie möglich ins Kino gehen – und bei allem lernen und so viele Eindrücke aufsaugen wie möglich. Für Birgit Keil hätte es nichts Wichtigeres geben können. Wir schreiben das Jahr 1961. Gerade 16 Jahre alt geworden, beendete sie die Schule und die Ausbildung zur professionellen Tänzerin. Zur gleichen Zeit wurde sie von John Cranko, dem legendären Choreographen und Charismatiker, entdeckt, der gerade als Nachfolger von Beriozoff die Ballettdirektion übernahm. Der Funke sprang über. „Die Fügung wollte es, dass ich im richtigen Moment am richtigen Ort mit dem richtigen Menschen zusammentraf.“ Cranko gab ihr einen Vollvertrag, und bereits in der ersten Spielzeit kreierte er für sie mit Ray Barra, dem Ersten Solisten, als Partner die Hauptrolle in „Scènes de ballets“. „Cranko hat in mir die deutsche Ballerina gesehen. Es scheint, dass ich die geworden bin.“
„Oft hörte ich, dass ich talentiert sei. Aber was dies bedeutet, wurde mir erst klar, als ich anfing, selbst zu unterrichten. Und es war gut, dass es mir nicht bewusst war. So habe ich während meiner Karriere ständig an mir gefeilt und konnte mich immer weiterentwickeln. Tanz war meine Leidenschaft. Im Tanz konnte ich mich verwirklichen, er war die Sprache, in der ich mich ausdrücken konnte. Tanz war meine Welt. Allein körperliche Voraussetzungen wie Koordination, Musikalität und brillante Technik, also das, was Talent ausmacht, sind noch nicht alles. Talent braucht Geist, Seele, Leidenschaft, Besessenheit.“ 1962, in ihrer zweiten Spielzeit, schickte Cranko sie „zur Horizonterweiterung“ nach London an die Royal Ballet School. „All die großartigen Tänzer des Royal Ballet auf der Bühne erleben zu dürfen! Und ich bin stundenlang durch London gelaufen, habe die Stadt zu Fuß erkundet.“ Zurück in Stuttgart legte sie den Grundstein für ihre internationale Karriere. Mit Hingabe und Fleiß. Als die deutsche Ballerina tanzte sie alle Hauptrollen des klassischen und modernen Repertoires. Ihre makellose Interpretation von „Schwanensee“ zusammen mit ihrem Partner Vladimir Klos steht bis heute auf YouTube. Immer wieder hat sie bedeutende Choreographen zu Werken inspiriert, die für sie geschaffen wurden.
„Welch eine Geste: Birgit Keil leiht mir ihre malträtierten Füße für ein Bild in rembrandtschem Licht.“ (Konrad Rufus Müller)
Dann ein Autounfall. Verletzungen im Sprunggelenk, Fersenbeinbruch, Sehnen und Bänder sind gerissen. Eine Katastrophe! Die Kollegen fürchteten, das kriegte sie nicht mehr hin. „Als Cranko zu mir sagte: ‚Das ist das Beste, was dir passieren konnte‘, brach ich in Tränen aus. Da warf er eine Olive nach mir und sagte: ‚Ich werde dich stechen mit Nadeln‘ – er war überzeugt, dass ich aus dieser Krise künstlerisch gereift und gestärkt hervorgehen würde.“ Die erzwungene Pause dauerte ein fürchterlich langes Jahr, und trotzdem glaubte Cranko an ihre Rückkehr. Und sie kämpfte sich wieder an die Spitze. Seit dieser Zeit nannte er sie meinen „Phönix aus der Asche“.
Dann kam Vladimir. Der Mann an ihrer Seite: Vladimir Klos, Tscheche. 1968 verließ er während der russischen Okkupation seine Heimatstadt Prag und gelangte über Wien nach München, wo er Cranko vortanzte. Im überfüllten Lift des Münchner Staatstheaters fiel sie ihm auf, schon damals faszinierten ihn die großen Augen von Birgit Keil. Vladimir Klos wurde von Cranko für das Stuttgarter Ballett engagiert, und von da an begann der gemeinsame Weg, künstlerisch und privat unzertrennlich. „Es war 1973, und der Rückflug nach einem für das Stuttgarter Ballett sehr erfolgreichen USA-Gastspiel stand bevor. Wir hatten uns bereits in der Hotelhalle in Philadelphia versammelt, als John zu mir kam und zu meiner Verblüffung sagte: ‚Mach die Augen zu‘ und mir etwas in die Hand drückte. Ein Geschenk, es waren zarte Ohrringe aus Kolibrifedern, die er im Museum für mich gekauft hatte. Als wir uns dann auf dem Rückflug nach Deutschland befanden, saß John zwei Reihen vor Vladimir und mir. Er forderte mich auf, mich neben ihn zu setzen. Wir hatten ein Gespräch, das sich um den Leitfaden drehte, den mir John mit auf meinen Weg gegeben hatte. Nämlich, dass ich durch Krisen wachse. Ganz aktuell bezog es sich darauf, dass ich an der Seite von Richard Cragun auf dieser Tournee in New York als Odette/Odile in Crankos ‚Schwanensee‘ einen Bombenerfolg hatte. Am nächsten Tag ein totaler Verriss über mich von einer Kritikerin in der ‚New York Times.‘ Da ging mein Publikum auf die Barrikaden, und die Proteste landeten waschkörbeweise in der Redaktion. Das war tröstlich für mich, aber auch, dass Clive Barnes, der Kritikerpapst der ‚New York Times‘, meinen nächsten ‚Schwanensee‘ sah. Er schrieb: ‚Eine deutsche Ballerina von Weltformat – die erste seit Fanny Elßler. Deutschland hat lange auf eine Keil warten müssen.‘
John wollte mich lehren, dass man im Augenblick der Enttäuschung oder der Krise nicht aufgeben darf, denn man weiß nie, wozu es letztendlich gut ist. Dies war unser letztes, unvergessliches Gespräch. Wenig später starb er an Bord der Maschine.
In nur 12 Jahren hat er das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt, und jetzt waren viele der Meinung, dass das Ensemble auseinanderbricht. Das Gegenteil war der Fall, seine Werke sind bis heute auf den großen Bühnen der Welt zu sehen.
Und dann kam der Tag, an dem ich mich entschloss, meine aktive Karriere zu beenden, um mich künftig auf ganz andere Weise dem Tanz und seinem Nachwuchs zu widmen. Nichts schien mir sinnvoller. Jetzt ergaben sich – wunderbar in der richtigen Reihenfolge – zuerst die Gründung der Tanzstiftung Birgit Keil in Stuttgart zur Förderung des tänzerischen und choreographischen Nachwuchses.“ Das war 1995. Danach folgte sie dem Ruf des damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel nach Mannheim, zunächst als Professorin und wenig später als Leiterin der Akademie des Tanzes an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. 2003 schließlich übernahm sie zusätzlich die Ballettdirektion am Staatstheater Karlsruhe. Auch das Fügung? Ja, denn durch die Namen der legendären Künstler Birgit Keil und Vladimir Klos, gepaart mit den finanziellen Möglichkeiten der Stiftung, konnten internationale Talente an die Akademie des Tanzes geholt, durch Stipendien gefördert und auf höchstem technischem und künstlerischem Niveau ausgebildet werden, sodass sie in bedeutenden Ballettcompagnien Engagements fanden. Die Kooperation mit dem Staatstheater Karlsruhe ermöglicht nicht nur den Studierenden Bühnenerfahrung, sondern auch dem Staatsballett, Ballette mit großer Besetzung auf die Bühne zu bringen. Allein mit 30 festengagierten Tänzern könnte man die Klassiker nicht aufführen. „Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe – Förderung, Ausbildung, professionelle Karriere – mein magisches Dreieck.“
Ob es eine Bedeutung hatte, 60 zu werden? „Nein. Warum auch? Ich setze mich für den Tanz ein, solange meine Begeisterung und Energie vorhanden ist. Das ist vom Alter unabhängig.
Ich glaube an das, was ich tue. Und ich tue es mit Leidenschaft. Leidenschaft ist nicht von Arbeitszeiten abhängig. Den Entschluss, mit dem aktiven Tanz aufzuhören, habe ich nie bereut. Es war eine glückliche Weichenstellung. Ich empfinde es als Gnade, dass mich meine heutigen Aufgaben nicht weniger erfüllen als mein eigener Tanz.
Heute geht es darum, für andere da zu sein, für andere den Weg zu bereiten. Das ist für Vladimir und mich die größte Freude. Es kann passieren, dass wir in einer Vorstellung unseres Ensembles sitzen, wie kürzlich in ‚Giselle‘, als wir beide durch die Leistung unserer Tänzer so gerührt waren und mit den Tränen kämpften, weil wir uns natürlich daran erinnern, wie wir die Entwicklung dieser jungen Menschen erlebt haben, wie wir ihren Traum erfüllen konnten, sie nach Europa zu holen, wie wir sie gefördert und ausgebildet haben und sie obendrein noch in ihrer künstlerischen Karriere weiterführen dürfen. Vladimir und ich, wir gehören einfach zusammen. Wir haben uns so viel zu sagen und langweilen uns nie. Wir sind unzertrennlich. Dieses ungebrochene Vertrauen, das Füreinanderdasein, das ist das Besondere.
Ich werde häufig gefragt, vermisst du die Bühne nicht? Nein. Ich vermisse nichts. Im Gegenteil. Ich bekomme täglich mehr, als ich mir jemals erhofft hätte.“
„JOHN CRANKO HAT IN MIR SEINE DEUTSCHE BALLERINA GESEHEN. ES SCHEINT, DIE BIN ICH GEWORDEN.“