Читать книгу Tod in Rothenburg - Barbara Edelmann - Страница 11
Montagmorgen, Rothenburg ob der Tauber
ОглавлениеGleißendes Sonnenlicht verwandelte die spitzen Dächer Rothenburgs nach und nach in ein funkelndes rotes Meer. Dodo und Kurti waren unterwegs zum Schrannenplatz, wo ihr Fahrzeug stand, und hielten kurz inne, um eine voll besetzte Pferdekutsche passieren zu lassen. Zwei Italiener in mittleren Jahren schossen im Vorbeifahren ein Foto von Dodo, die ihnen lächelnd zuwinkte.
»Ich sollte mir vielleicht noch schnell so eine mit Nugat gefüllte Rothenburger Spezialität holen«, sagte Dodo gedankenverloren. »Von einem Stück Kuchen wird man nicht satt.«
»Du meinst sicher einen Schneeballen«, antwortete Kurti entsetzt. »Allmecht, die werden doch in schwimmendem Fett rausgebacken!«
»Deswegen mag ich sie ja«, antwortete Dodo. »Du würdest sie natürlich lufttrocknen und mit Algen bestreuen.«
Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Aber gut, ich lasse es, wir haben es eilig.«
Mittlerweile hatten sich die Gassen mit Touristen gefüllt. Straßencafés luden zum Verweilen unter überdimensionalen Sonnenschirmen ein. Besucher aus allen Nationen fläzten in bequemen Stühlen auf Kopfsteinpflaster und frühstückten oder studierten ihre Stadtpläne. Einheimische führten Hunde aus und betrachteten das bunte Treiben mit der ihnen eigenen Gelassenheit. Schon um diese Uhrzeit war es sehr warm.
Kurz vor dem Schrannenplatz gerieten Dodo und Kurti in eine Busladung japanischer Touristen, die jede steinerne Hausbank und jeden Brunnen fotografierten, derer sie ansichtig wurden. Alle wischten hektisch auf ihren Handydisplays herum und schnatterten wild durcheinander. Ein junger Japaner schaute Dodo mit leuchtenden Augen hinterher und stolperte dabei über einen uralten Poller an einer Hauswand.
»Domo arrigato!«, schrie Dodo ihm nach, ehe sie mit Kurti zum Parkplatz lief.
»Du sprichst Japanisch?«, wunderte er sich.
»Natürlich nicht«, sagte sie unbekümmert. »Mann, ich würde heute nach Dienstschluss so gern baden gehen, aber das wird wohl nicht klappen.«
»Bei dem Kaloriengehalt der Käsesahne, die du soeben verdrückt hast, müsstest du ohnehin mindestens durch den Ärmelkanal schwimmen. Also kannst du es auch gleich lassen«, stellte Kurti fest.
»Bist du eigentlich auch Single?«, erkundigte sich Dodo säuerlich. »Schätze, ja. Dir bleibt garantiert nichts anderes übrig.«
Kurti nickte. »Momentan schon. Allerdings freiwillig. Und selbst?«
Dodo wich aus. »Was machen wir mit dem Kater?«, fragte sie. »Ich hatte gehofft, ich könnte ihn meiner Mutter andrehen, aber ihre beiden leben noch.«
»Wir?«, wiederholte Kurti erstaunt. »Das war allein deine Idee. Die Mutter von Sandra Kaiser nimmt ihn vielleicht, ansonsten: Glückwunsch zum neuen Hausgenossen. Am besten legst du dir noch eine zweite Katze zu, damit er sich nicht so einsam fühlt, wenn du zum Aufreißen gehst. Oder fährst. Laufen tust du ja nicht so gern.«
»Und wenn die Mutter ihn nicht will, muss er ins Tierheim? Kommt nicht in Frage. Heute bist übrigens du dran. Mein Thunfisch ist alle.«
»Kann man kaufen.« Kurti blieb unentschlossen vor dem Kofferraum stehen. »Die Praxis von Wilbold liegt ganz in der Nähe, zu schade, dass ich mein Rad nicht dabeihabe.«
»Träum weiter.« Dodo warf einen sehnsüchtigen Blick zum Gasthof »Schranne«, der aber um diese Uhrzeit noch geschlossen war. Sie öffnete die Tür und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. »Heute Nacht habe ich das Ding zu dir nach Hause gebracht, und da bleibt es auch.«
»Versuch wenigstens, die Kurven etwas weniger scharf zu nehmen als gestern.« Kurti ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. »Du hast dich übrigens gerade auf eine zerquetschte Erdbeere gesetzt, die auf dem Sitz lag.«
»Verflixt.« Dodo verzog das Gesicht. »Das war mein letztes Kleid mit Viskoseanteil. Wenn das so weitergeht, muss ich Jeans tragen, und ich habe echt keine Hosenfigur.«
»Könntest du aber bekommen. Ich helfe dir«, bot Kurti ihr an.
Dodo gähnte herzhaft. »Du wirst noch sehr, sehr lange Single bleiben«, prophezeite sie. »Fahren wir zum Hautarzt. Das wird ein langer Tag.«
Die Praxis Dr. Wilbold lag am Rande des Gewerbegebietes von Rothenburg – ein großer, moderner Neubau mit dunkel verglasten Fensterflächen. Ein älterer Mann im Blaumann, der gerade die Rasenflächen wässerte, winkte Dodo im Vorbeigehen zu und pfiff ihr hinterher.
Sie durchquerten einen gefliesten Vorraum und betraten die Praxisräume durch eine gläserne Doppeltür, auf der in goldenen Lettern Wilbolds Name prangte. Sofort umfing sie angenehme Kühle. Im Hintergrund dudelte leise ein Radio, und bis auf mehrere eilig umherhuschende junge Frauen, die im Flüsterton aufgeregt tuschelten, war kein Mensch zu sehen.
»Wahnsinn, diese Helligkeit.« Dodo beschattete ihre Augen mit der Hand, um sie vor dem gleißenden Sonnenlicht zu schützen, das durch riesige Dachfenster fiel. »Ist das Absicht?«
»Hör mal.« Kurti deutete auf eine gepolsterte Tür, durch die gedämpft aufgeregte Stimmen klangen. Es war nichts zu verstehen.
Am Empfangstresen wurden sie von einer bildschönen dunkelhaarigen Frau mit strahlendem Lächeln begrüßt.
»Guten Tag, ich bin Melanie. Haben Sie einen Termin?«, fragte sie. Ihr weit aufgeknüpfter weißer Kittel gab den Blick auf ein makelloses Dekolleté frei. »Waren Sie schon einmal bei uns?«
»Was wollen Sie denn damit sagen?«, erkundigte sich Dodo gereizt.
»Gar nichts«, beeilte sich die junge Frau zu versichern. »Aber man muss ja nicht immer warten, bis …« Abrupt verstummte sie, als sie den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers bemerkte.
Kurti lachte schallend. »Hallo Melanie, einen wunderschönen guten Morgen. Ich bin Kurt Voggel vom Kriminaldauerdienst in Ansbach, das ist Frau Haug, meine charmante Kollegin.« Er zückte seinen Dienstausweis. »Wir ermitteln wegen eines Kapitaldeliktes. Kennen Sie Sandra Kaiser?«
»Warum?« In Melanies makellosem Gesicht zuckte kein Muskel. Ausdruckslos sah sie die beiden an. »Hatte sie einen Unfall?« Graziös erhob sie sich und enthüllte dabei ein Paar bemerkenswert lange, schlanke Beine in hochhackigen goldenen Sandaletten.
»Bedauerlicherweise ist Frau Kaiser gestern verstorben, und wir stellen in diesem Fall Nachforschungen an«, erklärte ihr Kurti.
»Verstorben? Fall?«, wiederholte Melanie, plötzlich bleich geworden.
»Was ist hier eigentlich gerade los?« Dodo beobachtete zwei weitere hübsche junge Frauen im Kittel, die an ihnen vorbeihuschten und dabei aufgeregt miteinander tuschelten.
»Der Chef findet wieder mal sein Mobiltelefon nicht«, erklärte ihr Melanie mürrisch. »Er verlegt es regelmäßig, und dann müssen wir es alle suchen. Neulich haben wir es im Kühlschrank gefunden. Was ist mit Sandra?«
»Genau das möchten wir herausfinden«, antwortete Kurti. »Und Ihnen ein paar Fragen stellen. Wie gut kannten Sie Frau Kaiser?«
»Nicht sonderlich. Tut man bei Kollegen doch nie.« Melanie zupfte einen imaginären Fussel von ihrem blütenweißen Kittel.
»Sie können uns gar nichts über ihr Privatleben erzählen?«, vergewisserte sich Kurti.
»Weniger als nichts.« Das Gesicht der Arzthelferin blieb ausdruckslos. »Es tut mir leid, aber ich habe viel zu tun.« Sie wirkte mit einem Mal sehr nervös. »Sandra hat noch nicht lange hier gearbeitet. Sie war nett. Wirklich.« Das klang wie eine Beschwörung.
»Bitte melden Sie uns bei Dr. Wilbold an«, bat Dodo. »Es ist dringend.«
»Einen Moment bitte.« Melanie warf ihr einen eisigen Blick zu und verschwand mit klappernden Absätzen.
»Jetzt verstehe ich Hübners Satz von wegen Diplomatie.« Kurti klopfte Dodo beruhigend auf die Schulter. »Wir besorgen dir schnellstmöglich ein Aspirin und zur Not einen Schneeballen. Einen riesigen. Aber ich muss sagen, dieser Doktor hat bezüglich seiner Angestellten einen sagenhaften Geschmack.«
»Kannst dich ruhig einschleimen bei der hiesigen Damenwelt.« Dodo massierte sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. »Für diese Sorte Mädels ist jede andere Frau eine Kriegserklärung auf zwei Beinen. Bei der da kommt man mit Freundlichkeit nicht weit. Und sie hat mit Sicherheit etwas zu verbergen.«
»In diesem Kittel?« Kurti grinste. »Aber ich muss dir recht geben.«
»Bitte hier hinein.« Melanie stand urplötzlich wieder vor ihnen und wies auf eine geöffnete Tür am Anfang des lichtdurchfluteten Ganges. »Der Herr Doktor wird gleich bei Ihnen sein. Nehmen Sie Platz.«
»Wie hat sie das eben gemacht?«, wisperte Dodo. »Ich habe sie nicht kommen hören, und das in solchen Schuhen.«
Kurti berührte sachte einen antiken Stuhl mit aufwendig geschnitzter Lehne. »Das Geschäft läuft gut, schätze ich. Der ist garantiert echt.«
»Guten Morgen.« Die Tür öffnete sich, und ein untersetzter Mann Ende sechzig trat ein. Er maß höchstens eins fünfundsechzig und verströmte eine Aura abgeklärter Kompetenz. Das faltige Gesicht unter dem schütteren grauen Haarkranz war gerötet, genau wie seine Augen und die von roten Äderchen überzogene Nase. Ächzend nahm er hinter dem Schreibtisch Platz und musterte seine beiden Besucher mit ausdruckslosem Blick.
»Schönen guten Morgen. Sie sind wundervoll eingerichtet.« Kurti machte eine umfassende Handbewegung. »Scheinbar mögen Sie Antiquitäten? Da könnte man neidisch werden.«
»Ich bin leidenschaftlicher Sammler«, gestand Wilbold. »Nun denn.« Er rückte seinen Sessel zurecht und betrachtete prüfend Dodos Gesicht. »Sie haben sich also zu diesem Schritt entschlossen? Wir führen diese Behandlung seit Jahren durch, sie ist sehr effizient. In drei Tagen erkennen Sie Ihre Haut nicht wieder.«
Kurti lachte, als er Dodos entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ihre Empfangsdame hat uns falsch verstanden, Herr Doktor.«
»Wie bitte? Melanie hat mich informiert, Sie wären hier wegen eines eiligen Fadenliftings«, sagte Wilbold irritiert und ließ seine Augen nicht von Dodo, die angestrengt lächelte. »Wenn ich Sie aber so ansehe, würde ich lediglich zu einer Schälkur raten. Tut auch nicht lange weh. Aber wegen Ihrer Kinnlinie müssten Sie demnächst etwas unternehmen, die ist ein wenig schwammig. Ich kann Ihnen hierfür jemanden empfehlen.«
»Was Ihre gehörgeschädigte Angestellte vergessen hat, Ihnen mitzuteilen: Wir sind Kurt Voggel und Dorothea Haug vom Kriminaldauerdienst in Ansbach.« Dodo legte mit unbewegter Miene ihren Ausweis auf den Tisch.
»Verstehe. Also kein Eingriff.« Wilbold rutschte ächzend auf seinem Stuhl hin und her, wobei ihm sein Bauch im Weg war. Dann beugte er sich über den Schreibtisch und studierte den Ausweis gründlich. »Und was kann ich für Sie tun, Frau Haug?«
»Wir sind wegen Sandra Kaiser hier«, sagte Dodo. »Ehe wir weiterreden, Herr Doktor, möchte ich eines klarstellen: Wir wissen bereits, dass Sie mit Frau Kaiser eine Affäre unterhielten.«
Wilbold war mit einem Schlag blass geworden. »Sie wissen …«
»Leider müssen wir davon ausgehen, dass Frau Kaiser Opfer eines Verbrechens wurde. Gestern Nacht.« Dodo ließ ihn nicht aus den Augen.
Wilbold schien zutiefst verunsichert. »Opfer eines Verbrechens«, wiederholte er tonlos.
»Sehr richtig. Frau Kaiser verstarb aufgrund eines Sturzes von der Stadtmauer, direkt am Galgentor«, erklärte Kurti bedauernd. »Auf ihrem Handy fanden wir eine Nachricht von Ihnen, in der Sie sie bitten, sich um zweiundzwanzig Uhr dort mit Ihnen zu treffen.«
»Wie kommen Sie auf eine solche Ungeheuerlichkeit?« Wilbold funkelte die beiden Ermittler mit geröteten Augen an. Er wirkte verkatert.
»Diese Nachricht stammte nicht von Ihnen?«, vergewisserte sich Dodo.
Wilbold schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, warum Sie mich mit derartigen Absurditäten belästigen, und möchte Sie bitten, sofort zu gehen. Melanie wird Sie hinausbegleiten.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Dodo kalt. »Bitte verraten Sie uns, wo Sie sich gestern zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht aufgehalten haben.«
»Zu Hause natürlich«, fauchte Wilbold gereizt. »Ich habe im Kreise der Familie meinen Geburtstag gefeiert.«
»Herzlichen …«, begann Kurti, aber Dodo versetzte ihm einen warnenden Tritt, und er verstummte. »Frau Kaiser war nicht eingeladen?«, erkundigte sie sich scheinheilig und erntete einen giftigen Blick. »Wusste Ihre Familie überhaupt von der Affäre?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an. Stellen Sie sich auf eine gesalzene Dienstaufsichtsbeschwerde ein, Frau Haug.«
»Das steht Ihnen frei.« Dodo zuckte mit keiner Wimper. »Da müssen Sie aber eine Nummer ziehen.«
»Ich bitte Sie«, versuchte Kurti, den aufgebrachten Arzt zu beschwichtigen. »Je schneller Sie unsere Fragen beantworten, umso schneller sind wir wieder draußen und Sie können in Ruhe trauern.«
»Oder Kollagenspritzen zählen«, schlug Dodo vor. »Nichts für ungut.«
»Was erlauben Sie sich!«, brauste Wilbold auf.
»Herr Doktor, machen wir’s kurz«, bat Kurti, um eine Eskalation zu vermeiden. »Wir haben Ihren WhatsApp-Chat mit Frau Kaiser vorliegen, und die Nachricht stammt einwandfrei von Ihrer Nummer. Dürfen wir Ihr Mobiltelefon überprüfen?«
»Ich finde es momentan nicht«, gestand Wilbold gereizt. »Seit gestern.«
»Wie praktisch.« Dodo seufzte. »Haben Sie es schon orten lassen?« Auf diese Frage erntete sie einen verständnislosen Blick.
»Herr Doktor«, Dodo holte ihr Handy aus der Tasche und präsentierte ein Foto, »was ist das?«
Wilbold schaute verständnislos auf das Display. Sein Blick wurde leer. »Ein antikes Kerbholz, wie es im Mittelalter gebräuchlich war. Was soll die Frage?«
»Sie sind eben zusammengezuckt«, sagte Dodo aufmerksam. »Also erkennen Sie es?«
»Und Sie sind tolldreist. Mit Ihrem Kasernenhofton kommen Sie bei mir nicht weit, junge Dame.«
»Junge Dame? Das ist lieb von Ihnen.« Dodo lächelte geschmeichelt.
»Würden Sie uns verraten, warum Frau Kaiser nicht eingeladen war?«, versuchte es Kurti nun diplomatisch.
Wilbold schluckte. »Das wollte ich ihr nicht antun. Sie ist … war so sensibel. Und meine Familie ist das Äquivalent eines Haifischbeckens. Ich wollte sie nicht der Meute zum Fraß vorwerfen. Sandra hatte ein kindliches Gemüt, sie war naiv und herzensgut. Gestern hatte ich eigentlich vor, meiner Familie die Neuigkeit zu eröffnen.«
»Was für eine Neuigkeit?«, wollte Dodo wissen.
»Ach, nichts.« Wilbold ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. »Es gab da ein kleines Durcheinander, und als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten …« Abrupt verstummte er.
»Klingt spannend.« Dodo ließ ihn nicht aus den Augen. »Wo ist denn nun Ihr Mobiltelefon?«
»Zum letzten Mal – ich habe Sandra gestern nicht geschrieben!«, schrie Wilbold aufgebracht.
»Papa!« Die Tür zum Behandlungszimmer öffnete sich, herein trat eine schlanke Frau Mitte vierzig. Ihr langes, hellblond gefärbtes Haar war am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten geschlungen. Sie trug ein weites, wallendes Kleid, das bis zum Boden reichte, und wäre vor lauter Hektik beinahe über den Saum gestolpert. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich möchte meinem Vater nur etwas bringen.«
»Das sind keine Patienten«, klärte Wilbold seine Tochter bissig auf. »Die sind von der Kripo. Sandra ist tot.«
»Sandra ist tot.« Die Frau wurde blass.
»Meine Tochter Julia«, stellte Wilbold vor. Die Frau stützte sich am Schreibtisch ab und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Oh mein Gott, Papa. Papa!« Zwei dicke Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln. Unbeholfen trat sie hinter den Schreibtisch und versuchte, ihren Vater zu umarmen, doch der streckte abwehrend die Arme aus und entriss seiner Tochter das Mobiltelefon, das sie in der rechten Hand hielt.
»Wo war es denn diesmal wieder?«
»In Melanies Schublade.« Julias Gesichtsfarbe hatte sich mittlerweile von »blass« zu »grünlich« geändert. »Du musst in Zukunft wirklich besser aufpassen. Papa, du lieber Himmel, das ist so schrecklich!« Erneut unternahm sie einen Versuch, ihren Vater zu umarmen, und dieses Mal ließ er es sich gefallen. »Ich kann es gar nicht glauben.«
»Sie waren gestern sicher ebenfalls auf der Geburtstagsfeier Ihres Vaters?«, wollte Dodo wissen.
»Ja«, bestätigte Julia. »Eigentlich war es ein schönes Fest. Nicht wahr, Papa?«
Wilbold antwortete nicht, er tippte fieberhaft auf seinem Mobiltelefon herum. Dann knallte er es auf die Tischplatte und kramte in der Schreibtischschublade.
»Deine Lesebrille hast du auf der Stirn, Papa«, erinnerte ihn seine Tochter.
»Eigentlich …?«, fragte Kurti und sah Julia an.
»Na ja, Dani hatte sich hereingeschlichen und Stunk gemacht«, erzählte Julia mit einem ängstlichen Seitenblick auf ihren Vater. »Sie war zum Fürchten, ich hatte richtig Angst vor ihr. Jetzt ist sie endgültig durchgedreht. Eigentlich sollte man sie einweisen.«
»Kein Wort mehr, Julia«, befahl Wilbold barsch.
»Darf ich?« Dodo schnappte sich das Mobiltelefon des Doktors vom Schreibtisch. »Wir dürfen doch sicher einen Blick darauf werfen. Dann können Sie uns beweisen, dass Sie Frau Kaiser tatsächlich nicht angeschrieben haben.«
Wilbold beugte sich trotz seines beträchtlichen Bauchs blitzschnell über den Schreibtisch und riss ihr das Handy aus der Hand.
»Woher leiten Sie eigentlich das Recht zur Verletzung meiner Privatsphäre ab?«, rief er wütend. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Natürlich, Herr Doktor«, versicherte ihm Kurti. »Ein Zeuge. Bis jetzt noch.«
»Junger Mann«, sagte Wilbold kalt, »ich bin Mitglied des Stadtrates und habe beträchtlichen Einfluss in der Stadt. An Ihrer Stelle würde ich nicht so große Töne spucken.«
»Papa, gib es ihnen doch«, meinte Julia beschwichtigend. »Ich kann jederzeit bezeugen, dass wir alle zusammen gestern Geburtstag gefeiert haben. Du hast nichts zu verbergen.« Sie nickte ihm aufmunternd zu.
Unwillig entsperrte er das Smartphone mit seinem Fingerabdruck, tippte ein wenig auf dem Display herum – und wurde kalkweiß.
»Tut mir leid, ich bin zu neugierig.« Dodo schnappte sich blitzschnell das Mobiltelefon und ignorierte sein wütendes Schnauben. »›Weißt du noch, unser erstes Date am Galgentor?‹«, las sie halblaut. »›Bitte komm heute Punkt zweiundzwanzig Uhr. Ich habe eine Überraschung für dich und muss etwas Wichtiges mit dir besprechen. Dein Bär.‹ Der ›Bär‹ sind Sie?«
Wilbold schwieg. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.
»Das Telefon müssen wir leider beschlagnahmen.« Dodo erhob sich. »Zwar haben Sie ein Alibi für den Tatzeitpunkt, aber das ist ein wichtiges Indiz. Ich bitte um Ihr Verständnis, Herr Doktor. Selbstverständlich bekommen Sie dafür einen Beleg.«
»Wie Sie meinen. Den Rest regelt mein Anwalt. Lassen Sie sich hier einfach nicht mehr sehen.« Wilbold fixierte einen unsichtbaren Punkt an der Wand und würdigte sie keines Blickes mehr. »Aber an Ihrer Stelle würde ich zweimal darüber nachdenken, mit wem ich mich anlege.«
»Zweimal nachdenken? Oje, dann habe ich mein Kontingent für heute schon aufgebraucht«, entgegnete Dodo ungerührt. »Wir verabschieden uns jetzt. Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, wir sind noch nicht fertig.«
Auch Kurti hatte sich erhoben und lächelte Julia an, die prompt errötete und verlegen zu Boden sah.
Als sie das Zimmer verließen, versuchte Julia gerade wieder unbeholfen, ihren wie versteinert wirkenden Vater zu trösten. Dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
»Am liebsten hätte ich ihn an Ort und Stelle mitgenommen«, flüsterte Dodo grimmig.
»Nur weil er meinte, deine Kinnlinie sei sanierungsbedürftig?« Kurti grinste. »Schönheit ist eben sein Geschäft.«
Verstohlen wies er auf das kleine Grüppchen junger Frauen, die bei Melanie am Empfangstresen standen und ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Eine war hübscher als die andere.
»Vielleicht haben uns die jungen Damen ja etwas zu sagen?«, überlegte er halblaut.
»Na, dann versuch dein Glück«, riet ihm Dodo. »Deine Kinnlinie ist ja noch in Ordnung, im Gegensatz zu meiner. Genauso gut könnte ich mich jetzt mit Speck einreiben und dann vor ein Hyänenrudel werfen. Laut Hübner bist ja du der Diplomatische von uns beiden.«
»Guten Morgen, meine Damen.« Kurti trat zu der Gruppe und schaute freundlich in die Runde. »Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Es gibt ziemlich wenig, was Sie bei mir nicht dürfen.« Eine atemberaubend attraktive Rothaarige lächelte ihm zu. »Wie wäre es mit Donnerstagabend?«
Er lachte. »Das Angebot ist verlockend, aber leider bin ich dienstlich hier. Ihre Kollegin Melanie hat Ihnen das doch bestimmt schon verraten.« Die Rothaarige wirkte enttäuscht. Sie war allerhöchstens Mitte zwanzig und opferte, ihrem Lächeln nach zu urteilen, vermutlich einen beträchtlichen Teil ihres Gehalts für Bleaching-Streifen. »Schade.« Enttäuscht zog sie eine Schnute, die ihr ganz entzückend stand. »Es ist wegen Sandra, nicht wahr? Wir wissen leider gar nichts über sie. Nur, dass sie eine wunderbare Person war. Intelligent, hilfsbereit, nett eben.« Alle nickten einträchtig, nur eine ätherische Blondine mit riesigen Kulleraugen kniff die Lippen zu einem Strich zusammen.
»Sind Sie mit der Aussage Ihrer Kollegin nicht einverstanden?«, wandte sich Kurti an die niedliche Blonde.
»Im Gegenteil«, stotterte das Mädchen. »Wir mochten sie alle gern und werden sie vermissen.« Im Hintergrund hüstelte jemand. Es klang allerdings nach einem unterdrückten Lachen. »Aber am Freitag …«
»Kam sie zu spät zur Arbeit«, wurde die Blonde abrupt von Melanie unterbrochen. »Das interessiert die Herrschaften doch nicht. Was wollen Sie eigentlich hier?«
»Was wir hier tun? Du lieber Himmel.« Dodo stellte sich zwischen Melanie und Kurti und holte Luft. »Wir führen eine offizielle Befragung durch. Und wir legen dabei Wert auf möglichst der Wahrheit entsprechende Aussagen. Für den Fall, dass es Ihnen entgangen sein sollte: Wir sind von der Polizei und dürfen das, auch wenn es Ihnen nicht in den Kram passt. Alles klar jetzt?«
Melanie schnappte vor Erstaunen nach Luft.
»Oh, jetzt habe ich Sie mit Tatsachen verwirrt. Tut mir leid.« Dodo grinste. »Wir ermitteln in einem Kapitaldelikt, liebe Melanie mit den schlechten Ohren. Und wenn ich den Eindruck habe, Sie verschweigen etwas Relevantes, dann muss ich Sie schriftlich vorladen lassen, zu einer ordentlichen Vernehmung, von mir persönlich durchgeführt. Wann wäre es Ihnen recht? Dass Ihre rothaarige Kollegin am Donnerstag Zeit hat, wissen wir ja bereits.«
Melanie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Dodo giftig an.
»Meine Damen«, bat Kurti, »bitte denken Sie nach. Alles könnte wichtig sein. Meine Kollegin hat Kopfschmerzen, je schneller Sie mit uns sprechen, umso schneller gehen wir wieder. Wenn das kein Argument ist, weiß ich auch nicht.«
Schweigen. Die kleine Blondine sah aus, als würde sie jeden Moment platzen vor Mitteilungsdrang. Kurti zwinkerte ihr unauffällig zu.
»Nun gut. Ich komme wieder.« Dodo wandte sich gelassen zum Gehen. »Um der nackten Wahrheit willen mit Abschminkpads und Vorladungen für alle. Lass uns verschwinden, Kollege.« Kurti folgte ihr zum Ausgang.
Ehe sich die gläserne Schiebetür schloss, hörte Dodo jemand böse lachen und drehte sich um. Es war Melanie.
Dann ging das Getuschel los.