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Sonntagabend, Rothenburg ob der Tauber

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»Diese Germans sind auf liebenswerte Weise verrückt, und sie bauen hübsche Schlösser, aber die dicken Dinger aus Bayern esse ich nie wieder. Erinnerst du dich? Sie nennen sie ›Weißwürste‹.« Mary Walker, eine attraktive Frau Anfang fünfzig aus Lincoln, Nebraska, blickte ihren Mann George durch eine riesige getönte Brille vorwurfsvoll an. Ihre braun gefärbte Mähne ergoss sich in wallenden Locken über ein stramm sitzendes giftgrünes Viskoseshirt mit Blütendruck.

Das gemütliche Restaurant in der Galgengasse in Rothenburg ob der Tauber, in dem die beiden köstliche, mit Spinat und Ricotta gefüllte Ravioli mit Gorgonzolasoße und Nüssen genossen hatten, leerte sich allmählich. Schon vor über einer halben Stunde hatte sich die Nacht wie ein geheimnisvoller Schleier über die hübsche Stadt gelegt, sie verlieh den stillen Gassen ein bezauberndes Flair. Wer bereit war, einige am Straßenrand geparkte Autos zu übersehen, konnte sich mit ein wenig Phantasie vorstellen, sich auf einer Zeitreise ins Mittelalter zu befinden. Ziellos waren Mary und George einige Stunden zuvor durch die Gassen geschlendert und hatten sich dann, hin- und hergerissen angesichts der beachtlichen Anzahl englischsprachiger Speisekarten, die vor sämtlichen Lokalen aushingen, für das »Roma« entschieden, denn Mary hatte nach dem zweifelhaften Weißwurst-Experiment in München Appetit auf italienisches Essen.

»Wirklich kuschelig hier.« Sie sah sich kurz im Lokal um. »Viel Holz. Genauso hatte ich mir Deutschland vorgestellt. Und das Essen war großartig, nicht wahr? George? Warum sagst du nichts?«

Ihr Gatte, ein drahtiger Mann mit Bürstenhaarschnitt und der Miene eines depressiven Spaniels, zuckte zusammen, denn er war gedanklich etwas abgedriftet. Und anschließend mit offenen Augen eingeschlafen ab dem Moment, als seine Frau zum tausendsten Male damit begann, sich über den bisherigen Verlauf ihrer Reise auszulassen. Seine Zeit bei der US-Army hatte George gelehrt, jede Gelegenheit für ein kurzes Nickerchen zu nutzen – eine Fertigkeit, die ihm in seiner Ehe schon öfter zugutegekommen war.

Vor ihnen auf dem Tisch stand eine beinahe leere Flasche Bocksbeutel, die letzte von vieren, denn George – allem Neuen gegenüber aufgeschlossen – informierte sich vor jeder Reise wissbegierig über Land, Leute und Trinkgewohnheiten. Der Wein war seiner Meinung nach phantastisch, denn er hatte ihm geholfen, Marys quengelige Stimme beinahe vollständig auszublenden.

Nun warf er aufgeschreckt einen Rundblick durch die Gaststube und blinzelte dann enttäuscht, als ihm einfiel, dass er sich gerade weit entfernt von seinem Zuhause, seinem Barbecue-Grill und seinem Fernseher befand.

Mary redete noch immer. »Dieses Getränk hier schlägt mir auf den Magen, fürchte ich. Mir ist ein wenig flau.« Wie um ihre Aussage zu bestätigen, hob sie ihr Glas, in dem der Rest des Weißweins das Licht der Deckenlampen widerspiegelte. »Die nehmen hier ja scheinbar kein Blatt vor den Mund.« Stirnrunzelnd las sie die Aufschrift auf der Weinflasche. »›Bocksbeutel‹ – crazy Germans! Gott sei Dank konnte ich dich heute Mittag davon abbringen, diese angeblich einmaligen ›Sauren Zipfel‹ zu bestellen. Hör endlich auf, vor einer Reise im Internet nach regionalen Spezialitäten zu suchen. Was in einem Steak drin ist, weiß ich, aber diese weißen Würste in München …« Missbilligend schüttelte sie den Kopf.

»So schlecht kann es dir nicht geschmeckt haben«, antwortete George schwerfällig, der mit dem Sprechen allmählich so seine Schwierigkeiten bekam. Das kommt davon, wenn man die Klopfzahl einer Flasche anständigen Frankenweines unterschätzt. »Immerhin hast du noch einmal nachbestellt.«

»Weil ich solche Miniportionen nicht gewöhnt bin.« Mary zupfte an ihrem geblümten Oberteil, das nach dem opulenten Essen merklich spannte. »Willst du damit sagen, ich wäre zu dick? Ich habe deinen Blick sehr wohl bemerkt, als ich den Kellner nach Tiramisu gefragt habe.« Herausfordernd starrte sie ihren Ehemann an.

George versuchte, sich mittels seiner mit Frankenwein getränkten Synapsen krampfhaft zu erinnern, warum er seiner Gattin zur Silberhochzeit ausgerechnet eine romantische Deutschland-Rundreise geschenkt hatte anstatt eines Gutscheins für ihr Nagelstudio oder einen Spinningkurs. Es fiel ihm keiner ein. Für diesen verdammten Haufen Geld hätte er sich einen anständigen neuen Grill leisten können, um damit beim Barbecue seine Bowlingfreunde zu beeindrucken. Stattdessen musste er sich von seiner Angetrauten seit Tagen nur Beschwerden anhören. So viel mit offenen Augen schlafen, wie es nötig gewesen wäre, um Marys Klagen vollständig auszublenden, konnte kein Mensch. Da blieb einem nur der Alkohol, egal ob in kugeligen oder zylindrischen Flaschen. George war inzwischen so weit, dass er auch Brennspiritus getrunken hätte. Und er würde niemals wieder irgendwohin verreisen, das hatte er sich fest vorgenommen.

Fragen zu Marys Gewicht beantwortete er grundsätzlich nicht, denn das ähnelte dem Versuch, mit verbundenen Augen ein Minenfeld zu durchqueren. Stattdessen ging er strategisch geschickt zum Gegenangriff über. »Du löcherst mich seit fünfundzwanzig Jahren, dass du endlich in die alte Heimat deines Urgroßvaters reisen willst. Aber seit wir in Deutschland angekommen sind, lässt du an nichts ein gutes Haar.« Leider klang seine Offensive etwas verwaschen, denn jemand schien seinen Mund mit Wattebällchen gefüllt zu haben. Aber Mary verstand ihn schon. »Sogar Schloss Neuschwanstein war dir zu unordentlich und zu vergoldet. Zu vergoldet!«

Mary rückte energisch ihre Brille zurecht. Für ihre zweiundfünfzig Jahre war sie wirklich recht attraktiv, fand George. »Darling«, sagte sie, »ich weiß, du hast es gut gemeint mit deinem Geschenk, aber mittlerweile denke ich, wir hätten nach Disneyland fahren sollen. Hier ist alles so …«, sie überlegte einen Moment, »… realistisch. Und alt.«

Darauf hätte George eine gute Antwort parat gehabt, konnte sich aber trotz seines Blutalkoholspiegels von geschätzten eins Komma sechs Promille gerade noch bremsen. Immerhin war seine werte Gemahlin bei ihrer heutigen Ankunft in Rothenburg ob der Tauber endlich einmal delighted, also entzückt gewesen. Schon der erste im Schnellverfahren absolvierte Rundgang über die begehbare Stadtmauer hatte ihr ein »incredible!« nach dem anderen entlockt. Das pittoreske Meer aus Fachwerkfassaden und gotischen Türmen hatte sie zu mindestens zweihundert verwackelten Handyfotos inspiriert, mit denen sie per WhatsApp ihre hoffentlich neidischen Freundinnen im örtlichen Frauenverein von Lincoln im Minutentakt beglückte.

»Lass uns ins Hotel gehen, Honey«, lenkte Mary jetzt ein. »Es ist schon spät. Morgen möchte ich unbedingt in diesen Laden, in dem das ganze Jahr über Weihnachten ist, und etwas Geschnitztes kaufen oder was aus Porzellan. Danach darfst du mir eine Handtasche schenken, aus diesem bezaubernden kleinen Shop in der Nähe der Touristikinformation.« Das klang sehr entschlossen. »Warum antwortest du nicht? George? Ich wusste es! Diese letzte Flasche Wein war zu viel.« Missbilligend runzelte sie die Stirn. »Du weißt doch, dass diese Deutschen so starkes Bier brauen, denen ist bestimmt auch beim Wein nicht zu trauen.«

Erstaunlicherweise zeigte Mary, die beim Weintrinken tapfer mitgehalten hatte, selbst keinerlei Anzeichen von Beschwipstheit. Auch in dieser Hinsicht war sie ihrem Gatten haushoch überlegen.

Ergeben senkte George sein müdes Haupt. Wie viele kluge Ehemänner hielt er es für vernünftiger, seiner Frau nicht zu widersprechen. Die Reise würde noch länger dauern, außerdem hatte er schon vor fünfundzwanzig Jahren und vierzig von Marys dezentral verteilten Kilos früher bedingungslos kapituliert.

»Darf es noch etwas sein?«

Schwerfällig hob er den Kopf und musterte irritiert die beiden lächelnden Kellner mit den weißen Schürzen. Sie sahen aus wie eineiige Zwillinge. »Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragten sie nun gleichzeitig.

»Danke, es war hervorragend«, beeilte Mary sich zu versichern. »Wir möchten bezahlen. Darling!« Das klang auffordernd.

Irritiert streckte George den zwei Kellnern wortlos seine Visakarte entgegen und schloss kurz die Augen, ehe er hastig noch einen letzten Schluck aus seinem beinahe leeren Weinglas trank.

»Schluss damit«, befahl Mary energisch. »Du hast dich wieder übernommen, genau wie in München.«

Eingeschüchtert ließ George das Glas sinken, Widerspruch war zwecklos. Seine Frau hatte sich bedauerlicherweise auch verdoppelt, wie er entsetzt feststellen musste. Und jede der beiden Marys sah sehr entschlossen aus. Die Kellner kamen flugs zurück und überreichten ihm mit einem jovialen Lächeln die Kreditkarte. Unsicher nahm George einen der beiden Kugelschreiber, die ihm entgegengestreckt wurden, und unterschrieb den Abrechnungsbeleg so leserlich, wie er nur konnte.

Seine Ehefrauen erhoben sich und sahen ihn streng an. »Wir schauen auf dem Rückweg noch einmal an der Stadtmauer vorbei«, bestimmten sie. »Die ist nur ein paar Meter entfernt, und die frische Luft wird dir guttun. Außerdem muss ich bei diesem herrlichen Vollmond noch ein, zwei Fotos schießen. Linda wird sich grün und blau ärgern.«

Die beiden servilen Kellner waren lautlos verschwunden. Mit wackeligen Knien erhob sich George und folgte der doppelten Gattin nach draußen, wo ihn die laue Juninacht mit samtigen Armen umfing. Über den Fachwerkfassaden leuchtete ein bleicher Mond und verlieh der Galgengasse etwas Surreales.

»Oh, das ist besser als Disneyworld.« Mary breitete begeistert ihre Arme aus und deutete nach links. »Sieh mal, George, da vorne ist sie schon, die Stadtmauer. Gruselig, oder? Ich habe im Reiseführer gelesen, dass auf dieser Straße die Verurteilten aus der Stadt hinaus zu ihrer Hinrichtung gefahren wurden. Stell dir das bloß vor!«

George, der sich dank der letzten fünfundzwanzig Ehejahre sehr gut vorstellen konnte, wie sich die bedauernswerten Delinquenten vor fünfhundert Jahren auf ihrem letzten Weg gefühlt haben mochten, fühlte sich urplötzlich schwindelig und geriet ins Straucheln. Hastig sah er sich nach einem Halt um und entdeckte im letzten Moment zwei Regenrinnen an einer Hausfassade. Er entschied sich blitzschnell für die linke und klammerte sich erleichtert daran fest.

»George?« Mary, der aufgefallen war, dass ihr niemand antwortete, sah sich suchend um und entdeckte ihren Gatten, wie er, schief wie ein Schiff im Sturm, mit verbissener Miene an der Regenrinne hing, ohne auch nur einen einzigen Blick auf den herrlichen Vollmond zu werfen.

»Du bekommst für den Rest unseres Aufenthaltes nur noch Diet-Coke.« Entschlossen packte sie ihren sich sträubenden Ehemann am Ellbogen, doch der weigerte sich störrisch, die Regenrinne loszulassen. »Komm jetzt endlich«, befahl sie. »Ich habe doch gesagt, dass ich noch Fotos von mir vor diesem gruseligen Tor machen muss.«

Auch darauf hätte George eine Antwort parat gehabt, verkniff sie sich aber aus einleuchtenden Gründen.

»Gut, dass ich meinen Selfiestick dabeihabe.« Mary betrachtete ihn mitleidlos. »Du bist ja heute zu nichts mehr zu gebrauchen.« Hektisch kramte sie in ihrer voluminösen Tasche nach ihrem Mobiltelefon.

»Wehe, du fotografierst mich«, drohte George seiner Frau. Die drei Flaschen Bocksbeutel hatten ihn offenbar nicht nur schwindelig, sondern auch mutig gemacht. »Dann rede ich nie mehr ein Wort mit dir.«

»Ich zittere jetzt schon vor Angst.« Unbeeindruckt zog Mary ihren Gatten am Arm mit sich und ließ ihn erst vor dem Treppenaufgang zur Stadtmauer wieder los. George blickte sich verzweifelt um und entdeckte erleichtert die nächsten beiden Regenrinnen, die ihm helfen würden, in der Vertikalen zu bleiben. Sollte seine Frau doch machen, was sie wollte.

Mary baute sich vor dem Treppenaufgang auf und zog ihren Selfiestick bis zur vollen Länge auseinander, nachdem sie ihr iPhone daran befestigt hatte. Dann warf sie sich breit grinsend in Positur. Auf dem Display ihres Handys war hinter mindestens drei Vierteln ihres breit lächelnden Gesichts wunderbar deutlich die Stadtmauer zu erkennen. Doch ihr begeisterter Gesichtsausdruck verwandelte sich in erschrockenes Erstaunen, als plötzlich eine gepresste Stimme hinter ihrem Rücken »Du Miststück!« keuchte.

George hätte sich so eine Insubordination nie angemaßt, das musste jemand anderer gewesen sein. Im Display erkannte Mary zwei dunkle Gestalten, die oben auf der Mauer miteinander kämpften. Eine Schrecksekunde lang überlegte sie, ob das Gerangel vielleicht eine Sondervorstellung für Touristen war, da ließ sie ein spitzer Schrei wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzucken. Das klang jetzt echt. Und sehr beängstigend.

Hastig drehte sie sich um und sah gerade noch, wie eine Frau die Treppe herab auf sie zufiel. Unmittelbar vor Marys perfekt manikürten Zehennägeln in den bequemen Sandalen blieb sie liegen. Der Kopf der Frau war sonderbar verdreht, ihre Augen starrten blicklos in den sternenglitzernden Nachthimmel, und aus ihrem Bauch ragte ein merkwürdiges, dünnes Stück Holz.

Schockstarr und ausnahmsweise einmal sprachlos ließ Mary den Selfiestick sinken. George hingegen war schlagartig beinahe nüchtern geworden. Er ließ die Regenrinne los, hastete mit schlingernden Schritten zu seiner erstarrten Frau und löste das Mobiltelefon aus seiner Halterung, um mit zitternden Fingern die Nummer der German police zu googeln.

»Oh my God«, hörte er seine Frau keuchen. »George, she’s dead.«

Tod in Rothenburg

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