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Das Influencerprinzip bei W. L. Gore & Associates, Inc. – kein Phänomen der Neuzeit

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Jetzt könnte der eine oder andere sagen: Warten wir mal ab, ob sich dieses neue Führungsverhalten nachhaltig bewährt oder ob es nur ein vorübergehender Hype ist – es wäre ja nicht die erste »neumodische Arbeitskultur« mit kurzer Lebensdauer.

Ja, das könnte man einwenden – wenn es da nicht Firmen wie W. L. Gore & Associates, Inc. gäbe. Das weltbekannte Unternehmen stammt aus einer ganz anderen Branche als Veeva. Gore stellt wasserfeste, aber atmungsaktive Funktionskleidung her – und das nicht erst seit vorgestern, sondern schon seit fast 70 Jahren.

Umso verblüffender, wie groß die Ähnlichkeiten mit dem Arbeitsstil bei Veeva sind. Auch bei Gore gibt es nur Führung auf Augenhöhe, denn die Mitarbeiter führen sich selbst. Statusgehabe? Fehlanzeige – und das seit dem Gründungsjahr 1958. Bei Gore gilt seit jeher die Grundregel: »No ranks, no titles«14 – keine Hierarchien, keine Titel, noch nicht mal auf der Visitenkarte. Jeder ist gleichermaßen – ja, was denn eigentlich? Mitarbeiter? Streng genommen auch das nicht. In seinem Selbstverständnis hat Gore weder Chefs noch Mitarbeiter. Alle, wirklich alle sind »Associates«, also Partner und Miteigentümer des Unternehmens. Das ist der Grund, warum sich jeder Einzelne mitverantwortlich fühlt für den Erfolg der Firma. Kein Wunder, denn bereits jeder Neuankömmling erhält einen Teil seines Gehalts nicht in bar, sondern in Firmenanteilen ausgezahlt – 11 Prozent des Gehalts, um genau zu sein.

Selbst die Präsidentin und CEO des Unternehmens, Terri Kelly, bildet hier keine Ausnahme. Sie ist eine von 10 000 Associates. Den üblichen Titel trägt sie nur, weil es die US-Gesetze bei Kapitalgesellschaften so verlangen. Tatsächlich ist sie den ganzen Tag damit beschäftigt, Follower zu sammeln. Sie gehört zu den Führungskräften, deren Selbstverständnis auf der Frage beruht, wie viele Follower sie innerhalb ihres Unternehmens haben – das magische Wort »Influencer« ist auch ihnen Gesetz. Und das aus freien Stücken!

Diese Überzeugung geht bereits auf die Gründungsgeschichte von Gore zurück. Denn Gründer Bill Gore war ganz am Anfang seiner beruflichen Laufbahn bei DuPont angestellt und hatte schon dort ganz viele Ideen, wie man neuartige Funktionskleidung herstellen könnte. Doch alles, was seinen Vorgesetzten dazu einfiel, war, ihn zu reglementieren und ihm vor Augen zu führen, dass er nur ein einfacher Mitarbeiter sei und sich um seine herkömmliche Arbeit kümmern solle – nicht um Neuentwicklungen. Bill Gore war darüber so wütend, dass er kündigte und sein eigenes Unternehmen gründete – W. L. Gore & Associates, Inc. Hier, schwor er sich, werden Chefs keine Ideen killen.

Und was wurde daraus? Heute gehört sein Unternehmen zu den Weltmarktführern. Erreicht hat es diese Position durch konsequente Verantwortungsübertragung auf die Mitarbeiter. In kleinen Teams werden bei Gore schon seit Firmengründung die besten Ideen geboren. Hier herrscht ein Minimum an Kontrolle und ein Höchstmaß an Selbstverantwortung. Alle verpflichten sich regelmäßig zu sogenannten Commitments und erhalten den Auftrag, sich für ihr Vorhaben innerhalb der Firma Follower zu suchen. So entstehen freiwillige Netzwerke und ein hohes Maß an Engagement.

Vielleicht kennst du das aus eigener Erfahrung: Wenn wir Mitarbeitern Eigenverantwortung übertragen und ihnen genügend Freiräume zur Verfügung stellen, entstehen Projektideen wie von selbst. Dadurch, dass die Verantwortung so hoch ist und sich jeder Einzelne als mitverantwortlich für das Ergebnis betrachtet, ist auch jeder hoch motiviert und wirkt ansteckend auf die Kollegen, die er für das Projekt gewinnen möchte.

Bei Veeva und Gore gewinnt man Kollegen und Mitarbeiter also durch die eigene Vision und durch Leidenschaft – na, da klingelt doch etwas, lieber Influencer in spe?!

Besonders erstaunt mich bei diesen Pionier-Unternehmen die Organisation der Zusammenarbeit. Teams, die größer sind als etwa acht Leute, gibt es nicht. Bei dem zugrunde liegenden Prinzip der »Amöbe« handelt sich um eine Art Gitternetz, das die Mitarbeiter oder auch Partner selbst schaffen. Zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und die Menschen für eigene Projekte zu begeistern ist die Basis von allem. Wird ein Team größer, dann teilt es sich – daher der Vergleich mit der Amöbe. Der Grund liegt auf der Hand: Nur in kleinen und überschaubaren Teams ist eine schnelle, direkte und reibungslose Kommunikation möglich. »Die Arbeit auf Augenhöhe mit allen und die große Selbstverantwortung, das lieben die Leute bei Gore.«15

Was ist also aus Mitarbeitersicht so außergewöhnlich bei Gore? Beim Recruiting wird zuerst einmal darauf geschaut, ob die Person von ihrer Einstellung her ins Unternehmen passt. Genauso hat es meine Tochter bei Veeva erlebt. Denn obwohl sie »International Business« studiert hat – ein relativ generalistisch aufgestelltes Studium – und sich im Masterstudium auf Nachhaltigkeit konzentrierte, bekam sie den Job – und das, obwohl bei Veeva naheliegenderweise Mitarbeiter mit IT-Vorkenntnissen oder einschlägigen Abschlüssen bevorzugt werden. Eigentlich. Doch Unternehmen, denen es auf eine Follower-Kultur, Begeisterung und Persönlichkeit ankommt, achten eher auf Talente als auf den Lebenslauf.

So ist es auch bei Gore: Auch dort spielt die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und zur Entdeckung eigener Talente die größte Rolle. Kein Führender versteht sich hier als »Kontrolleur«, sondern eher als Berater und Moderator seines Teams. Das individuelle Wissen wird für das große Ganze eingesetzt und dient der Zusammenarbeit. Dazu passend setzt sich das Gehalt aus der Bewertung aus Kollegensicht, aber auch aus dem möglichen Marktwert am Arbeitsmarkt zusammen. Doch um das Gehalt allein geht es hier sowieso niemandem: Personalmangel hatte Gore noch nie, obwohl die Verdienstmöglichkeiten (mit Ausnahme der 11 Prozent in Anteilen) eher durchschnittlich sind. Da Gore nicht börsennotiert ist, wird der Unternehmenswert vierteljährlich von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ermittelt. Auch bei Veeva erhalten die Mitarbeiter übrigens eine Unternehmensbeteiligung in Form von Aktien als zusätzlichen Einkommensbestandteil.


Freigeist wird in beiden Unternehmen belohnt: Haben Associates bei Gore augenscheinlich verrückte Projektideen, wird dies gefördert und zahlt sich in der Regel aus. Beispielsweise überzog ein Ingenieur die Bowden-Züge seines Mountainbikes mit PTFE, einem Werkstoff mit besonderen Eigenschaften unter starker Beanspruchung. Dann kam ihm die Idee, dass man das auch mit Gitarrensaiten machen könnte. Heute ist Gore mit seinen »Elixir«-Gitarrensaiten Marktführer – in einem Segment, das ursprünglich nicht zum Kerngeschäft gehörte.

Das Beispiel Gore zeigt: Wertschätzend und heterarchisch zu führen, also nicht durch Hierarchie, sondern als Gruppe von gleichberechtigten Teilnehmern oder auch Managern innerhalb einer Unternehmenseinheit, ist keine originäre Erfindung des digitalen Zeitalters. Das gibt es bereits seit Jahrzehnten. Und die Unternehmen, die so arbeiten, sind damit schon länger äußerst erfolgreich. Es scheint also etwas für sich zu haben, nicht kraft der eigenen Position zu führen, sondern über den persönlichen positiven Einfluss auf Augenhöhe, den man auf die Menschen in seinem Umfeld ausübt. Solche Führende können vor allem eines: Menschen überzeugen und mitnehmen auf eine Mission, für die sich alle gemeinsam entscheiden und begeistern.

Fazit: Mitarbeiter wollen keine Bosse mehr

Ich denke, eines ist an diesem Punkt überdeutlich geworden: Mitarbeiter wollen gern arbeiten, begrüßen die Flexibilität der heutigen Arbeitswelt, benötigen aber auch die passenden Chefs dazu. Diese Vorgesetzten sind keine Bosse im klassischen Sinne mehr. Es sind Menschen, die es schaffen, auf Augenhöhe zu agieren, und die nicht auf Status aus sind. Vielmehr ist ihnen bewusst, dass die wichtigste Währung im digitalen Zeitalter der Mitarbeiter ist. Und den gilt es nicht nur einmalig zu gewinnen, sondern auch dauerhaft an sich und das Unternehmen zu binden.

In den letzten drei Dekaden hat sich unsere Arbeitswelt verändert. Job ist nicht mehr nur Job, sondern Arbeit wird zur erweiterten Identität. Meist erkennen wir das als Arbeitende selbst nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang. Umso mehr brauchen wir Menschen, die uns in wohlwollendem Kontext fördern und unsere Talente begrüßen. Diesen Menschen vertrauen wir nicht nur, sondern sie stellen etwas ganz Besonderes für uns dar – wir akzeptieren sie als unsere Influencer.

Menschen wollen wissen, was sie in der Organisation leisten können, und wollen vor allem konstruktives Feedback erhalten. Sie wollen nicht auf das eine Jahresgespräch kurz vor dem Urlaub warten, sondern in ständiger Kommunikation mit der Führungskraft sein. Der Sinn seiner Arbeit muss dem Einzelnen klar sein und im Vordergrund stehen. Jeder einzelne Mitarbeiter will gesehen, respektiert und seinen Talenten entsprechend gefördert werden. Er möchte individuell geführt werden und anerkannt sein.

Und wieder grüßt das Marktforschungsinstitut Gallup an dieser Stelle ganz deutlich mit seiner letzten Umfrage in 201816. Motivierende Führung und der Grad der Bindung der Mitarbeiter an ein Unternehmen hängen eng zusammen. Erschreckenderweise fühlen sich nur noch 15 Prozent hierzulande emotional an ihr Unternehmen gebunden. Das führt gleichzeitig dazu, dass diese Mitarbeiter sich weder als Markenbotschafter verstehen noch den Arbeitgeber weiterempfehlen. Insofern ist die Aussage von Marco Nink, Regional Lead Research & Analytics EMEA bei Gallup, nur verständlich: »Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie diejenigen sind, die durch ihr Verhalten einen erheblichen Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Denn emotionale Bindung wird im unmittelbaren Arbeitsumfeld erzeugt.«17

Die Konsequenz für uns als Führungskräfte kann nur sein, dass wir in Zeiten von selbstorganisierten Teams weiterhin stark gefragt sind – aber nur, wenn wir gute Beziehungen zu den Mitarbeitern pflegen und uns jedem persönlich widmen. Wir forschen nach ihren Stärken, suchen nach individuellen Talenten, entwickeln den Einzelnen weiter und zeigen persönliche Perspektiven auf. Der Mitarbeiter profitiert von mir als Influencer, indem ich Nutzen stifte – für ihn und für uns als Team. Diese Haltung zieht weite Kreise: Sind deine Mitarbeiter zufrieden, hast du auch zufriedene Kunden.

Eine dafür grundlegende Erkenntnis zu betonen ist mir besonders wichtig: Die meisten Menschen sind von Natur aus bereit, die Welt zu bewegen, Dinge voranzutreiben und sich »anstecken« zu lassen. Es geht nicht darum, dass bestimmte Incentives dringend gebraucht werden, um alle Probleme zu lösen. Der Obstkorb, der Betriebskindergarten, die flexible Arbeitszeit sind Signale, die zeigen, dass der Mitarbeiter wertgeschätzt wird. Bedeutet es anfangs einen Mehraufwand, eine solche Kultur der Wertschätzung einzuführen? Vielleicht. Na und? Ein Influencer stellt sich selbst einem Erprobungs- und Entwicklungsprozess, um andere zu animieren, es ihm gleichzutun. Von nichts kommt nichts – auch nicht in der digitalen Welt.

In diesem Kapitel habe ich dich in meine Überlegungen zum Influencerprinzip eingeführt. In den folgenden Kapiteln erfährst du, wie einfach es sein kann, die klassische Hierarchie zu verlassen und den Weg »vom Boss zum Influencer« zu gehen. Stell dir vor, dass auch du diesen Spirit, den Gore und Veeva implementiert haben, schaffen kannst. Jeder generiert durch seine Haltung und sein Verhalten seine eigenen Follower. Gemeinsam hechelt ihr dann nicht mehr sinnentleerten Zielvereinbarungen hinterher, sondern schafft ganz andere Ergebnisse als bisher. Ihr freut euch auf den digitalen Wandel und auf alles, was er mit sich bringt. Ihr habt keine Angst vor digitaler Transformation, sondern geht spielerisch neue Wege. Führung soll allen Spaß machen; sie soll Lust bereiten, Probleme anzugehen.

Der Vorteil der neuen Führung ist gerade der, dass sie in mancher Hinsicht klarer wird: Der Influencer Leader arbeitet nicht mehr kleinteilig, sondern global. Er gibt Impulse, lässt andere machen, konzentriert sich aufs Wesentliche. Er oder sie muss nicht zu allem seinen oder ihren Senf dazugeben, sondern liefert Inspiration dort, wo sie erforderlich ist – dort, wo sie substanzielle Beiträge leistet. Dein Leben als Influencer-Führungskraft wird nicht plötzlich ein Kinderspiel, aber sie wird einfacher.

Und dabei untergräbt das neue Führungsprinzip nicht etwa deine Autorität, sondern macht dich machtvoller denn je, weil du Follower generierst. Dein Team hat ja Spaß daran, mit dir zu arbeiten, es will teilhaben an deiner Sinngebung! Erst dadurch wirst du wirklich gebraucht – und ganz bestimmt nicht überflüssig.

Bevor wir uns auf den Weg zum Influencertum machen, kannst du mit den folgenden Fragen den Kapitelinhalt noch einmal reflektieren. Außerdem kannst du mit ihrer Hilfe herausfinden, inwiefern du möglicherweise schon nach dem Prinzip des Influencer Leaderships® führst.

Reflexionsfragen

1.Hast du einen Instagram Account?

2.Wen würdest du als Influencer betrachten – zeit- und plattform unabhängig?

3.Welche tatsächlichen Influencer im hier beschriebenen Sinne kennst du und welche findest du interessant?

4.Was gefällt dir an ihnen?

5.Hast du dich schon mal für etwas interessiert, weil es auf Social Media stark propagiert wurde?

6.Welches Muster, das dein Interesse lenkt, fiel dir dabei auf?

7.Wenn du im Internet unterwegs bist, welche Unternehmen interessieren dich?

8.Folgst du deinem eigenen Unternehmen auf irgendeiner Plattform?

9.Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

10.Wie hast du bisher geführt – hierarchisch oder heterarchisch?

11.Wie übst du Einfluss auf andere Menschen aus? Wie agierst du dabei im Detail? (Durch Anweisungen? Mit Überzeugungskraft? Über Gemeinsamkeiten?)

12.Warum, glaubst du, folgen dir Menschen?

13.Stell dir vor, du agierst ab morgen als Influencer – was würdest du anders machen als bisher?

Die Führungskraft als Influencer

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