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1 Rahmenbedingungen

1.1 Annäherung an den Begriff „Gotik“

„Kunst der Gotik“ steht für jene Epoche, die gemeinhin mit jenem Kunst- und Kulturgeschehen bezeichnet wird, das gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst in Frankreich zu beobachten ist und sich dann, bis in das frühe 16. Jahrhundert, in verschiedenen europäischen Land­strichen ausweitete. Humanistische Gelehrte „vor allem der italienischen Renaissance“ prägten diese Bezeichnung, als sie die Baukunst nördlich der Alpen beschrieben. Das heißt, dass zur fraglichen Zeit der Wortgebrauch „Gotik“ noch gar nicht existierte. Etymologisch leitet sich der Begriff von dem germanischen Volk der Goten ab, die in spätantiker Zeit oft in Konflikt mit den Römern standen.

So findet sich der Terminus „Gotik“ erstmals in der italienischen Ausgabe Della pittura libri tre 1435 von Leon Battista Alberti (1404–1472), und etwas später, 1440, unterscheidet Lorenzo Valla (1406–1457) zwischen gotischen und römischen Buchstaben, wobei alles Gotische in seinen Ausführungen als barbarisch bezeichnet wird. Ebenso spricht Giorgio Vasari 1550 u. a. von maniera tedesca oder maniera de’ Goti und Questa maniera fu trovata dai Goti, womit er ebenso seine Geringschätzung gegenüber der Kunst des Nordens zeigt, denn diese sei „etwas, dem jegliche Harmonie abgeht und das man am ehesten als Durcheinander und Unordnung bezeichnen kann“.

Noch ganz in der Tradition von Giorgio Vasari steht Johann Georg Sulzer (1720–1779) in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“ (1778). Erst Johann Wolfgang von Goethe stellt sich gegen diese allgemeine negative Auffassung in seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ (1772). Die damit einsetzende positive Würdigung erreicht in Franz Kuglers „Handbuch der Kunstgeschichte“ 1842 einen ersten Höhepunkt.

Damals setzen auch die ersten bauhistorischen bzw. denkmalpflegerischen Auseinandersetzungen mit den gotischen Bauten ein. Der Kunsthistoriker und Restaurator Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) analysierte die Konstruktionsprinzipien der großen Kathedralbauten und hob den Fortschritt in Technik und Ingenieurwesen hervor. Seine umfangreichen und detaillierten Untersuchungen und Schnittzeichnungen, u. a. zur Kathedrale von Amiens, besitzen noch heute größte Aktualität. In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche Kirchen, Schulen, Fabriken und Eisenbahnbauten, die neugotische Formen verwendeten und die, im Verständnis der damaligen Zeit, hochtechnisierten gotischen Konstruktionsprinzipien umsetzten. Man vollendete damals den bereits im 13. Jahrhundert begonnenen Kölner Dom. Auch am Weiterbau des Mailänder Doms im 19. Jahrhundert lernten viele europäische Architekten, z.B. der Erbauer des neugotischen Wiener Rathauses, Friedrich von Schmidt.

[<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Neben der rationalistischen, bautechnischen Betrachtungsweise gotischer Baukunst setzte sich ein zweiter Standpunkt zur Analyse gotischer Objekte durch, der auf Bildsprache und -inhalt ausgerichtet war. Ein früher Vertreter dieses ikonografischen Denkmodells gotischer Kunst ist der französische Gelehrte Emile Mâle (1862–1954). Er betrachtete Kathedralen, als wären sie „Bücher aus Stein“, in denen man lesen könne, und versuchte dadurch die Bedeutung von deren Formenrepertoire zu erklären.

Wichtige Beiträge zur gotischen Kunst leisteten fortan im 20. Jahrhundert Georg Dehio, Hans Jantzen, Max Dvořàk, Hans Sedlmayr, Erwin Panofsky, Otto von Simson, Dieter ­Kimpel und Robert Suckale, wobei hier formanalytische sowie stilkritische und ikonografische bzw. ikonologische Aspekte im Vordergrund standen – also Betrachtungs- und Interpretations­modelle, die sich auf Form und Inhalt der Objekte konzentrierten. Dies änderte sich ab den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als unter dem Einfluss der französischen Schule der ­Annales auch funktionsgeschichtliche Aspekte der Bauten und Kunstgegenstände miteinbezogen wurden und damit eine Annäherung an die Lebenswirklichkeit aller Bereiche zur Grundlage des Forschungsinteresses gemacht wurde. Jacques LeGoff, Jean-Claude Schmidt und Michael Camille trugen hierzu wesentlich bei.

Diese kurzen Ausführungen lassen schon erahnen, dass es sich um ein äußerst mühsames Unterfangen handeln würde, „Gotik“ zu definieren, wurde doch dieser kulturelle Zeitabschnitt bereits von vergangenen Forschergenerationen aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und interpretiert. Ein gewisses Rahmengerüst ist allerdings notwendig, um Kunstwerke einordnen zu können bzw. sich mit deren geschichtlicher Entwicklung und Errungenschaften auseinandersetzen zu können.

So hat man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Einordnungssysteme entwickelt, die sich auf die Betrachtung der Kunstwerke stützen, um (anonyme) Werke verorten und datieren zu können. Neben dem Terminus „Gotik“ etablierten sich besonders für die Kunstgattung der Architektur Unterkategorien wie „Früh-“, „Hoch-“ und „Spätgotik“, um eine zeitliche Differenzierung vornehmen zu können. Es gibt aber auch Begrifflichkeiten, die geografische Klassi­fizierungen in den Vordergrund stellen, wie etwa „Early English“ oder „Deutsche Sondergotik“ oder „Internationaler Stil“, und Termini, die Formen explizit beschreiben wollen: So steht „Zackenstil“ für die hartbrüchigen Faltenkonfigurationen in den Bildkünsten, die um 1300 auftreten. „Weicher Stil“ beschreibt schönlinige Oberflächen, die um 1400 in den Bildkünsten zu finden sind, „flamboyant“ steht für flammenartig ausgebildete Maßwerkformen, die ab 1370 auftreten, und „perpendicular“ bezeichnet die Geradlinigkeit von Schmuckelementen der spätgotischen, englischen Architektur. Daneben gibt es Bezeichnungen, die die Materialität der Bauten hervorheben, wie etwa der Terminus „Backsteingotik“. Bei all diesen Unterkategorien sollen jedoch nicht die übergreifenden Gemeinsamkeiten und Charakteristika der materiellen Ausdrucksformen aus den Augen verloren werden, die bereits in der Renaissance als vertikal, emporsteigend, illusionistisch und gebrechlich beschrieben wurden.

Es kann aber nicht allein bei der Analyse der Formen und einer Deutung verwendeter Symbole bleiben, es bedarf vielmehr auch eines mentalitätsgeschichtlichen Zugangs, der die massiven Veränderungen der Zeit und die Reaktionen der Menschen miteinbezieht. Denn es handelt sich bei der Epoche der Kunst des Spätmittelalters um ein gesamtheitliches Konzept, das sich über ganz Europa ausbreitet und den Alltag aller sozialen Schichten – vom Adel bis zu

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den Handwerkern, von den Tagelöhnern und den Reisenden bis zu den Mönchen und Nonnen – bestimmte. Dazu gehören Bau- und Gebetsleistungen ebenso wie die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die Kleidung jedes Einzelnen, wie der Schnabelschuh und ganz bestimmte Kopfbedeckungen, oder die bildlichen Darstellungen der Figuren, die in gotischer Tracht wiedergegeben und mit modischen Details ausgestattet wurden.

1.2 Struktur von Zeit und Ort

Die Struktur, die dieser Abhandlung zugrunde liegt, orientiert sich an der in der Forschungs­literatur allgemein gebräuchlichen chronologischen Einteilung der gotischen Kunst, bereichert und gegliedert durch die Lebensbedingungen der damaligen Menschen.

Politische Konstellationen, umwelthistorische Bedingungen, demografische Entwicklungen sowie wirtschaftliche und wissenschaftliche Errungenschaften beeinflussten Denkweise, Betrachtung und Lebensmodelle der Menschen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und der Umwelt, mit Gott, dem Tod, die Positionierung der eigenen Bedeutung in Form von Repräsentation und Öffentlichkeit sowie die internationale Vernetzung (Handel, Kommunikation) hatten Auswirkungen auf das kulturelle Schaffen. Die Kunstwerke und die Architektur sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch wenn es nicht gelingen wird, sich in eine andere historische Epoche hineinzuversetzen, soll dennoch versucht werden, Bilder, Skulpturen und Architektur aus dem Blickwinkel der Personen zu betrachten, für die sie angefertigt bzw. von denen sie geschaffen wurden. Was war in den Köpfen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Das ist ein Zugang, den diese Publikation geben soll. Der andere Zugang ist aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und des Kunsthistorikers des 21. Jahrhundert zu verstehen und soll mit dem möglichen und nötigen Abstand eine stilistische Entwicklung zeigen, d. h. Zentren aufzeigen, in denen Spitzenleistungen künstlerischen Schaffens erbracht wurden, die weitreichende „Bedeutung“ hatten.

Zeitlich versetzt und in einer unterschiedlichen länderspezifischen Ausbreitung spricht man von einer frühgotischen, einer hochgotischen und einer spätgotischen Stilrichtung und avanciert zu Recht die Architektur zur Leitkategorie – dies aufgrund des Erhaltungszustandes (speziell für das 13. Jahrhundert) und aufgrund der Tatsache, dass die Bauhütte um und nach 1200 der zentrale Ort ist, an dem sich alle Handwerker und Künstler zusammenfinden, um an einem Gesamtkunstwerk – der Kathedrale – zu arbeiten. Architektur, Skulptur, Glas- und Wandmalerei sind hier ebenso erfasst wie Goldschmiede- und Textilkunst.

Am Beginn stehen die baulichen Aktivitäten Abt Sugers von Saint-Denis (ab 1140) in Frankreich. Aus historischer Perspektive betrachtet, stellt der damalige Umbau der Abteikirche und königlichen Grablege den Anfang für jene innovativen Bauprinzipien dar, die bezeichnend für die gotische Kunst wurden – den Spitzbogen und das damit kombinierte Kreuzrippengewölbe. Es darf aber nicht übersehen werden, dass zu Lebzeiten des bauwilligen Abtes der Fortschritt dieser Baukunst noch nicht absehbar war.

Von Frankreich breiteten sich diese neuen Ideen und Konzepte im 13. Jahrhundert nach Italien, auf die Iberische Halbinsel, nach England (Early English) und ins deutsche Sprachgebiet aus und wurden in den jeweiligen Ländern spezifisch umgesetzt. Technische Errungenschaften,

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wirtschaftliches Wachstum, Handel und Geldwirtschaft ließen Städte wachsen, prägten ein neues Selbstbewusstsein der damaligen (städtischen) Gesellschaft und etablierten damit neue Ausdrucksformen – sowohl in der architektonischen als auch in der bildlichen Umsetzung (Profanbauten in den Städten, Illusionsräume und Naturdarstellungen).

Große Einschnitte, besonders was die personellen und materiellen Ressourcen betraf, brachte das 14. Jahrhundert. Zahlreiche Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien änderten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, was sich auch auf das Kunstschaffen nachfolgender Generationen auswirkte, z.B. in einer elitären Hofkunst oder einer zunehmenden Verflechtung des Kunstschaffens in den Bildkünsten (internationaler Stil), in der Schaffung neuer Bildthemen und Frömmigkeitsformen oder im Wettstreit bei der Errichtung der Kirchtürme.

Im 15. Jahrhundert avancierte das „Zweidimensionale“ zur Leitkategorie. Hervorzuheben ist die Tafelmalerei, die fortan verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr. In Italien hatte sich damals um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Renaissance durchgesetzt; im Norden entstanden in den Nieder­landen neue Kunstzentren, deren Errungenschaften die Bildkünste in den Nachbarländern prägten. Und in weiten Teilen Mitteleuropas wurde weiterhin gotisch gebaut. Am Ende der Ausführungen steht dann die Zeit um und knapp nach 1500, also das Ende des Spätmittelalters, und es wird der künstlerische Einsatz der neuen Drucktechniken thematisiert.

Literatur zu Kapitel 1, Rahmenbedingungen

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Die Kunst der Gotik

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