Читать книгу Tödlicher Crash - Barbara Wimmer - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеDas Treiben in der Redaktion war hektisch wie immer, als Stefanie Laudon am nächsten Tag am frühen Nachmittag hereinplatzte. Bis zum Redaktionsschluss der Länderausgabe um 17.30 Uhr waren noch mehrere Stunden Zeit. Am Bildschirm im Newsroom blinkten die neuesten Zugriffszahlen, rechts davon war der Fernsehapparat ohne Ton aufgedreht. Die Bilder des zertrümmerten Flexus Alpha waren in Dauerrotation zu sehen. Am Screen poppte die Frage auf, die Stefanie Laudon bereits am Vorabend gestellt hatte: »War das selbstfahrende Auto für den Tod von Wolfgang Steinrigl verantwortlich?« Nach den Bildern des Todesfahrzeugs wurde ein Foto der 13-jährigen Melanie eingeblendet. Sie war der erste Mensch an der Unfallstelle. »Ich bin nach der Schule mit dem Rad ins Dorf gefahren. Es war ganz nebelig, aber ich merkte, dass hinter mir ein Auto war. Das Auto hat dann ganz plötzlich beschleunigt. Ich habe mir gedacht, dass der Mann mich überfahren wollte. Ich habe keine Ahnung, warum das Auto auf mich zugerast ist. Ich hatte große Angst davor, zu sterben. Doch dann ist es plötzlich doch noch nach links ausgewichen«, schilderte Melanie den Vorfall. Sie war die einzige Augenzeugin gewesen. Direkt dabei, als der Finanzminister gestorben war. Und selbst fast Opfer des selbstfahrenden Autos. Sie hatte auch den Aufprall mit angesehen. Dazu sagte sie jetzt im Fernsehen: »Es war schrecklich. Es war überall Blut, als ich nachgesehen habe, ob er noch lebte.«
Der Text klang fast ein wenig wie auswendig gelernt oder die 13-Jährige war einfach schüchtern und hatte vorab einstudiert, was sie sagen würde. Eine grauenhafte Vorstellung, dass ein Kind so etwas mit ansehen musste und kurz davor selbst noch eine massive Todesangst gehabt hatte. Die Bilder und Gefühle werden Melanie wohl ihr Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen, dachte Stefanie, bevor sie sich an ihre eigentliche Arbeit erinnerte. Darüber nachzudenken, wie es der kleinen Melanie ging, war schließlich nicht ihr Thema des Tages. In der Geschichte der Kleinen sowie im Privatleben von Wolfgang Steinrigl wühlten bereits die Kollegen herum. Stefanie kam es, anders als ihren Kollegen bei der Boulevard-Presse, auch nicht in den Sinn, die 13-Jährige an den Pranger zu stellen und wild darüber zu spekulieren, ob nicht das Mädchen mit ihrem Rad einfach zu weit in die Mitte der Fahrbahn geraten war und das Auto gar keine andere Wahl gehabt hatte, als ihr auszuweichen. Bei »Heute Mittag« waren derartige Gerüchte zu lesen.
Stefanies Aufgabe hingegen war es, die technischen Hintergründe zum selbstfahrenden Noofle-Fahrzeug zu recherchieren.
Noofle hatte natürlich, wie fast alle Autobauer, die etwas auf sich hielten, auch in der Vergangenheit schon teilautomatisierte Fahrzeuge auf die Straßen gebracht. Die hatten sich allerdings eher mittelmäßig verkauft und waren, technologisch betrachtet, bestenfalls Durchschnitt. Doch mit dem Flexus Alpha war es dem Konzern tatsächlich gelungen, das allererste Fahrzeug auf den Markt zu bringen, das gänzlich ohne menschliche Hilfe unterwegs war. Ein Auto, in dem der Passagier sogar hinten Platz nehmen konnte, wenn er wollte. Es war möglich, in Ruhe Nachrichten zu konsumieren, Präsentationen vorzubereiten oder das großflächig aufgerüstete Unterhaltungsprogramm inklusive Brillen, die einem eine veränderte Realität vorgaukelten, in Anspruch zu nehmen. Die meisten Menschen, die mit dem Flexus Alpha unterwegs waren, saßen aber trotzdem noch vorne. Und ein Lenkrad, das man im Zweifelsfall bedienen konnte, gab es auch noch. Sich beim Autofahren zurückzulehnen und das Ruder gänzlich abzugeben, das schafften die ersten Nutzer der neuen Technologie emotional dann doch noch nicht. Steinrigl hatte sich zwar bei einem Pressetermin mit seinem neuen Flexus Alpha mit beiden Händen winkend am Rücksitz ablichten lassen, aber am Unfalltag war er dann doch vorne im Auto gesessen, wie Stefanie messerscharf festgestellt hatte.
Nachdem die Entscheidung im Straßenverkehr beim Flexus Alpha gänzlich in den Händen der Maschine lag, musste Stefanie für ihren Artikel eine alte Debatte ausgraben, die sie eigentlich schon lange Zeit als abgeschlossen betrachtet hatte. Da gab es schließlich eine jahrelange Vorgeschichte, die niemand besser im Gedächtnis hatte als die 33-jährige Journalistin von »24 Stunden«.
Selbstfahrende Autos müssen, seit sie in Österreich auf den Straßen zugelassen sind und eingesetzt werden dürfen, auch über Leben und Tod entscheiden. Doch nach welchen ethischen Prinzipien sollen autonome Autos dabei vorgehen? Genau über diese Frage hatte es bereits in der Vergangenheit heftige Diskussionen gegeben – nicht nur in Österreich. Das Thema betraf schließlich die gesamte Welt. Forscher hatten versucht, zu einem Ergebnis zu kommen, indem sie mehrere Tausend Menschen befragt hatten. Nur einigen konnte man sich einfach nicht. Es hatte dazu Krisengipfel ähnlich den Welt-Klimagipfeln gegeben, bei denen hochrangige Forscher auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz, Robotik, Computer Vision und Ethik mit Politikern, die entsprechende Gesetze zu verabschieden hatten, und Wirtschaftstreibenden, Autobauern und Industriellen zusammengetroffen waren. Doch rausgekommen war dabei meistens nichts. Am Ende waren die USA mit einer eigenen Regelung vorgeprescht, von der man eigentlich erwartet hatte, dass sich auch Europa daran orientieren werde.
Die Einigung sah so aus: Das Lenkrad im Auto, das sollte bleiben. Der Mensch darf sich damit immer über die Maschine stellen und selbstständig eine Entscheidung über das Fahrverhalten seines Fahrzeugs fällen und in die Geschehnisse eingreifen. Die Insassen dürfen zudem nie vom Autopiloten in Lebensgefahr gebracht werden. Falls dies doch passiert, haftet der Autohersteller.
Für den Fall Steinrigl bedeutete dies Folgendes: Selbst wenn der Flexus Alpha die 13-jährige Radfahrerin praktisch erst in letzter Sekunde entdeckt hatte, hätte das Auto seinen Insassen schützen müssen und nicht die Radfahrerin. Es hätte ihr nicht so ausweichen dürfen, dass damit das Leben des Politikers gefährdet gewesen wäre.
Diese Bestimmung mag zwar absolut nicht ethisch klingen, aber sie war der einzig gangbare Weg, um die Entwicklung der selbstfahrenden Autos am Ende voranzutreiben. Wer kaufte schon einen Wagen, der einen umbringen könnte? Die Entwicklung wäre komplett im Sand versackt und nicht weiter voran getrieben worden. Gestoppt von Gesetzen.
Für so manch einen Autobauer war diese Regelung sowieso nicht ideal. Sie hatten schon längst Fahrzeuge in petto gehabt, die gänzlich ohne Lenkrad auskamen. Auch Noofle hatte den Flexus Alpha schon ohne Lenkrad angekündigt gehabt, und es hatte aufgrund der neuen Gesetze Verzögerungen gegeben.
Auch in Europa war diese Regelung bereits in Gesetzesentwürfe eingeflossen – allerdings wie es in der EU üblich war, je nach Nationalstaat ein bisschen unterschiedlich. Außerdem waren manche Staaten langsamer und schneller unterwegs. Österreich zählte neben Finnland, Deutschland und Norwegen zu den ersten Ländern, die ein entsprechendes Gesetz umgesetzt hatten. Österreich hatte sogar bereits an einem Alleingang gearbeitet, der in Kraft getreten wäre, wenn die EU-Regelung gescheitert wäre. Diese hätte vorgesehen, dass der Fahrer im Fall des Falles immer die Letztverantwortung hat. »Wir müssen Vorreiter sein«, hatte es dazu aus dem Mund von Wolfgang Steinrigl noch vor wenigen Monaten getönt und der Technologieminister hatte die Regelung widerwillig abgenickt. Welch Ironie, dachte sich Stefanie Laudon. Ausgerechnet Wolfgang Steinrigl hatte sich vehement für die flächendeckende Zulassung selbstfahrender Autos in Österreich eingesetzt. Und jetzt starb er in einem.
Das Argument für eine derart schnelle gesetzliche Regelung lautete, dass man damit die österreichische Wirtschaft weiter ankurbeln könne. »Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut«, war ein Leitspruch der Regierungspartei. Im Falle der selbstfahrenden Autos spielte Österreich aber tatsächlich eine wichtige Rolle am internationalen Markt. Sowohl der österreichische Leiterplatten-Hersteller AT&S, Infineon, als auch das österreichische Technologie-Unternnehmen TTTech mit Sitz in Wien lieferten nämlich wertvolle Bauteile für die selbstfahrenden Autos. Die Akzeptanz der autonomen Autos bei der Bevölkerung war daher von Anfang an sehr gut und die Technologie wurde als positiv und alternativlos wahrgenommen. All dies fasste Stefanie in einem Hintergrund-Beitrag, für den in der Printzeitung stolze zwei Seiten vorgesehen waren, zusammen. Sie musste nur wenige Fakten noch einmal überprüfen, das meiste davon hatte die Journalistin noch im Kopf, weil sie oft genug darüber berichtet hatte. Sie galt als Expertin auf diesem Gebiet.
Natürlich hatte es auch in Österreich die ethischen Diskussionen rund um die Rolle des Menschen am Steuer gegeben. Stefanie konnte sich noch zu gut an die Frage aller Fragen erinnern: »Ist der Mensch überhaupt in der Lage, sich im Verkehrsgeschehen zurechtzufinden, wenn er davor gerade etwas ganz anderes gemacht hatte wie telefonieren oder Videos ansehen?« Systeme zur Fahrerbeobachtung ergaben, dass die durchschnittliche Reaktionszeit in so einem Fall bei 15 Sekunden lag – zu lang, um Unfälle zu verhindern. Und damit wäre eine derartige Regelung, dass der Fahrer am Ende immer die Verantwortung habe, eigentlich fahrlässig gewesen. Gott sei Dank hat man sich hier dank den Vorgaben der EU noch anders entschieden, dachte die Journalistin. Stefanie hatte das oft genug kritisiert, doch die Wirtschaftslobby mit ihrem »Österreich muss Vorreiter sein« war stärker als eine einzelne Journalistin. Die anderen Medien hatten diesen Aspekt in ihrer Berichterstattung großteils vernachlässigt, weil von Seiten des Wirtschaftsministeriums regelmäßig Gelder aus Inseraten flossen. Und das war in diesen für Medienhäuser seit Jahren wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wichtiger.
Zahlreiche internationale Wissenschaftler hatten in der Debatte argumentiert, dass man regelkonforme Verkehrsteilnehmer immer bevorzugen müsse. Andere hatten dafür plädiert, dass jegliche Gewichtung von Menschenleben strengstens verboten gehört – außer es betraf den Insassen. Stefanie dachte an die 13-jährige Radfahrerin und das Auto. War dieses ausgewichen, obwohl die Sensoren eigentlich anzeigen hätten müssen, dass es glatt und die Fahrbahn nass war? Hätte der Flexus Alpha nicht wissen müssen, dass er damit die Sicherheit seines Insassen gefährdete? Oder hatte das Auto lediglich den Radius falsch bemessen und beim Ausweichen einen Fehler gemacht? Das alles würde darauf hindeuten, dass sie selbst am Ende absolut gar nichts mit dem Tod Steinrigls zu tun gehabt hätte. So ein Algorithmus ließe sich sicherlich auch nicht ändern, wenn man in das Steuersystem eingedrungen war. Oder? Stefanie beschäftigte noch immer sehr, dass sie nur wenige Tage vor dem Tod des Ministers dessen Flexus Alpha aus der Ferne hätte steuern können.
Zehn Minuten vor dem Print-Redaktionsschluss war sie mit ihrer Analyse fertig: »Autonomes Auto: Rad wichtiger als Insasse?« Sie lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück, ließ die Arme fallen und atmete tief durch. Dann schrieb sie Paul eine verschlüsselte Nachricht: »Ich glaube, ich weiß, warum Steinrigls Auto verunglückt ist.«
Paul antwortete zügig: »*Gespannt bin*.«
Stefanie hatte aber jetzt keine Energie mehr, um ihm noch einmal zu antworten. Sie war fertig für heute. Heim und ab in die Badewanne. Gerade wenn es draußen kalt und nebelig war, half ihr am ehesten ein Entspannungsbad beim Abschalten und Loslassen vom Alltagsstress. Ausgepackt hatte sie ihren Koffer aus Barcelona auch noch nicht. Aber das würde sie auf morgen verschieben. Jetzt hatte sie sich ihren Feierabend verdient!