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Kapitel 13
ОглавлениеEinen Tag später. 5. Dezember 2022.
Das Wetter passte hervorragend zur Schwärze des Tages. Wieder einmal war der Himmel, wie so oft um diese Jahreszeit, nichts als grau. Die Nebeldecke lichtete sich nicht. Heute wurde dem 52-jährigen Wolfgang Steinrigl, Finanzminister der Republik Österreich, die letzte Ehre erwiesen. Zu Hause in St. Mergen im Attergau. Seine hinterbliebene Ehefrau hatte verfügt, dass er im Heimatgrab bestattet wurde und nicht etwa am Wiener Zentralfriedhof. »Dort fühlt er sich zu Hause«, so die Witwe. Und schließlich hatte er auf dem Weg dorthin auch seine letzten Meter zurückgelegt.
Die ganze Regierungsriege war angereist, als um Punkt 10.30 Uhr mit Beginn der Abschiedsfeier Tristan und Isolde zu hören waren, die Klänge Richard Wagners. Das Lied brachte die Trauer vieler anwesender Gäste perfekt zum Ausdruck. Wer von der Regierungsriege wirklich ernsthafte Gefühle hegte, war freilich schwer abzuschätzen. Die Blicke aller waren ernst – vom Bundeskanzler bis zur Sozialministerin. Kriminalkommissar Michael Leyrhofer stand relativ weit hinten und beobachtete das Geschehen aus einiger Distanz.
Der Sarg wurde von Ortsansässigen auf den Vorplatz der kleinen Gemeinde getragen. Rund 400 Leute waren insgesamt gekommen – nicht nur aus Wien, auch aus Deutschland, Holland und Schweden waren manche Politiker extra für dieses Ereignis angereist. Da standen sie nun – nicht nur Freunde, sondern auch die Feinde und politischen Gegner sowie Konkurrenten des toten Finanzministers. Und ganz vorne waren Thomas und Sigrid, die sich fest umarmten, um diesen schweren Tag gemeinsam durchzustehen.
»Ich verneige mich vor einem großen Österreicher«, sagte der Bundespräsident zu den Trauergästen. Er gehörte derselben Partei an wie der verstorbene Politiker, der KFP. Die KFP vertrat nicht nur konservative Familienwerte, sondern hatte sich in Wahrheit vor allem dem Neoliberalismus verschrieben. De facto sorgte die Partei aber dafür, dass Österreichs Politik und Wirtschaft noch immer von klassischen Männerbünden dominiert wurden. Frauen hatten, wenn überhaupt, nur noch Außenseiterchancen in der Politik des Landes.
Das Bild der Regierungsriege beim Begräbnis bestand deshalb bis auf eine Ausnahme ausschließlich aus Männern mit schwarzen Sakkos, weißen Hemden und dem Anlass gerechten schwarzen Krawatten. Keine Diversität. Auch der Koalitionspartner verzichtete großteils auf Frauen in seiner Riege. Nur die Funktion des Sozialministers war von einer Frau besetzt. Dabei spaltete sich die »Disruptionspartei« ursprünglich aus der grünen Ecke ab, um sich dann neben Umweltthemen vermehrt auf das Fortkommen von kleinen Unternehmen mit innovativen Ideen zu fokussieren. In Wahrheit war Disruption aber nur eines dieser Modeworte der digitalen Wirtschaft und die Partei passte so gesehen perfekt zum neoliberalen Denken der KFP.
»Wolfgang Steinrigl hat dem Staat Österreich einen großen Dienst erwiesen. Seine Denkweise war ganz besonders. ›Kümmere dich nicht darum, was früher lief. In Zukunft wird es anders.‹ Diese Worte hat unser lieber Minister immer wieder und wieder betont und ist damit der österreichischen Kultur des Jammerns und Raunzens entgegengetreten mit neuen, frischen Ideen für das Land. Sein innovativer Geist wird uns fehlen. ›Mehr privat, weniger Staat‹ ist eine der erfolgreichsten Leitlinien, die dieses Land je gehabt hat. Wir sind stolz auf dich, Wolfgang!«
Hatte der Bundespräsident da etwa eine Träne im Auge? Nach der ergreifenden Rede, die auch live über Social-Media-Plattformen wie Facebook gestreamt worden war, kamen noch weitere Redner nach vorne. Auch Thomas Steinrigl trat ans Rednerpult. Als Bürgermeister war er es durchaus gewohnt, Reden zu halten, daher war er auch nur mäßig nervös, aber hier war die Aufmerksamkeit doch noch um einiges größer als sonst. Und im Gegenzug zu seinen Vorrednern, die kaum einen persönlichen Bezug zu seinem Bruder hatten, trauerte er wirklich. Seine Rede war daher kurz und persönlich. Trotz des Schmerzes bliebe vor allem eines in seinem Herzen übrig: Dankbarkeit. Diese Erkenntnis teilte er auch mit den anderen Trauergästen.
»Ein geliebter Mensch ist immer ein Geschenk. Und mein Bruder, der war neben meiner wunderbaren Frau und meinen zwei fantastischen Töchtern ein wichtiger Anker in meinem Leben. Er hat sich liebevoll um unsere Familie gekümmert und uns unterstützt – und zwar trotz seines dichten Zeitplans als Spitzenpolitiker. Wolfgang, ich weiß, deine politische Aufgabe war dir immer sehr wichtig und sie hat dich mit Stolz erfüllt. Du wolltest Österreich verändern und hast das mit deiner Politik auch geschafft. Meinen tiefsten Respekt dafür. Ich jedoch werde dich immer als den lieben, ehrlichen, verlässlichen Menschen in meinem Herzen behalten, der du abseits deiner wichtigen beruflichen Funktion warst. Wolfgang, danke, dass es dich gab. Der Schriftsteller Thornton Wilder hat einmal gesagt: ›Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten; als Brücke dazwischen ist unsere Liebe.‹ Lieber Wolfgang, dieser Spruch gilt auch für uns beide. Du wirst immer in meinem Herzen sein.«
Die Rede von Thomas Steinrigl war mit Abstand die bewegendste. Zahlreiche Trauergäste hatten jetzt wässrige Augen, auch die Witwe Beate Steinrigl war unter ihnen. Sie hatte sich den ganzen Tag bewusst im Hintergrund gehalten und auch keine Trauerrede vorgetragen. Steinrigls Gattin Sigrid hatte sogar richtige Tränen in den Augen, als ihr Mann nach seiner herzzerreißenden Ansprache wieder neben sie trat. Sie griff sofort seine Hand und drückte sie fest. Ihre Blicke trafen sich. Sie waren voller Mitgefühl füreinander. Was würde er nur ohne seine Sigrid machen? Das wurde ihm in dem Moment, in dem er einen geliebten Menschen verloren hatte, wieder einmal mehr als deutlich bewusst.
Die 44-jährige Witwe Wolfgangs stand direkt neben Schwager und Schwägerin. Sie sah, dass sich die beiden wirklich liebten und miteinander verbunden waren. Sie wusste außerdem, dass die Anteilnahme von Wolfgangs Bruder Thomas aus tiefstem Herzen kam. Das versetzte ihr einen gewaltigen Stich im Herzen. Denn ihr Wolfgang hatte sie selbst nie so geliebt, wie der Thomas seine Sigrid und wie Thomas seinen Bruder liebte. Im Gegenteil: Beate wusste, dass sich Wolfgang immer wieder mit anderen Frauen vergnügt hatte, und er hatte ihr auch, außer ganz am Anfang ihrer Verbindung, nie die Beachtung und den Respekt geschenkt, die sie eigentlich verdient gehabt hätte. Sie hatte das fremde Parfüm an seinem Hemdkragen gerochen und verschmierten Lippenstift auf seinen Ärmeln gefunden. Gesagt hatte sie aber nie etwas. Sie hatte alles runtergeschluckt. Sie wusste nicht, was Wolfgang von ihrer Ehe erwartet hatte, aber sie hatte ihn definitiv aus Liebe geheiratet. Liebe, die mit der Zeit aufgrund ihrer Einseitigkeit aber mehr und mehr verblasst war. Ob daran wohl die Kinderlosigkeit schuld war, die an seiner Unfruchtbarkeit lag?
Wolfgang hatte nie etwas von Adoption hören wollen oder von einer Samenspende eines anderen Mannes. Jetzt – mit 44 Jahren – war es auch für sie biologisch fast zu spät. Dabei hätte Beate eigentlich immer gern ein Kind gehabt. Oder am besten zwei. Für Wolfgang war Beate wohl stets nur die »Vorzeigefrau« gewesen, die er zu gesellschaftlichen Anlässen mitnahm, wenn es von ihm erwartet wurde. Zu Veranstaltungen, wo er als Minister als Gastredner eingeladen war. Oder zu den zahlreichen Bällen, die in den Wintermonaten stattfanden. Das Tanzen hatte die beiden noch am ehesten ein wenig miteinander verbunden. Aber diese tiefe Liebe von Thomas und Sigrid, die hatten Wolfgang und sie nie füreinander empfunden. Deshalb fiel es der Witwe auch schwer, die richtigen Worte zu finden, ohne zynisch zu werden, und sie hatte sich bewusst dagegen entschieden, selbst ein paar Worte zu sprechen. Ihre mangelnden Gefühle hätten wohl selbst wenig aufmerksame Gäste bemerkt. Es war wesentlich klüger, das Image des glücklichen Paares auch nach dem Tod ihres Mannes aufrechtzuerhalten.
Am Ende der Wortspenden war noch einmal der Pfarrer dran. Er schloss die Trauerfeier mit folgendem Gedanken: »Lasst mich ziehen, haltet mich nicht. Gott hat meine Reise bisher gnädig gesegnet, ich kann nun getrost zu ihm zurückkehren.« (Mose – Genesis, 24,56) Der Pfarrer blickte dabei vor allem zu Beate. Und zu Thomas. Beide hielten aber gerade die Köpfe gesenkt.
Beate war froh, dass das Begräbnis sich dem Ende zuneigte. Sie hielt es nicht länger aus, wollte mit ihrem Gefühlschaos, das sie in sich trug, allein sein. Sie wusste nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Wie ihr Mann jetzt genau ums Leben gekommen war, das interessierte sie nicht. Nicht mehr da war er. Und das war schmerzhaft. In ihr drin schlummerten doch noch gedämpfte Gefühle für ihn, und all die schönen Stunden, die sie trotz allem miteinander verbracht hatten, zogen an ihr vorbei wie eine Wolkendecke. Der Moment, an dem er sie zum ersten Mal in den Arm genommen hatte. Als sie gemeinsam Boule spielen waren und ihre Kugel unmittelbar neben seiner im Sand gelandet war. Oder der Moment, als sie bei einer Umdrehung beim Tanzen fast aus seinen Armen geglitten war und er sie im letzten Moment noch auffangen konnte. Nicht alles mit Wolfgang war schlecht gewesen, auch wenn er in für sie entscheidenden Momenten nie für sie da war.
Beate war von all dem Rummel genervt. Die Medien sollten sie endlich in Ruhe lassen. Auch jetzt gingen ihr die Fotografen auf den Geist, obwohl prinzipiell nur einige wenige Ausgewählte zugelassen worden waren. Mit einem Mal wurde ihr auch schlagartig bewusst, dass für sie ab sofort auch alle gesellschaftlichen Ereignisse, die für dieses Frühjahr noch vor ihnen beiden gelegen wären, passé waren. Schade war es vor allem um die tolle Ballsaison. Alleine konnte sie sich als trauernde Witwe schlecht am Opernball zeigen. Das würde man ihr als pietätlos auslegen. Und jetzt noch schnell ein Kind mit einem Unbekannten machen, das ging als Ministerwitwe auch nicht. Sie hatte ihr eigenes Leben immer hintenangestellt, um für ihren Mann da zu sein, wenn er sie brauchte. Was hatte ihr das jetzt gebracht? An dieser Frage verzweifelte die Witwe in dem Augenblick mehr als am Tod ihres Mannes. Die Träne in ihrem rechten Auge wirkte somit zumindest echt – wenn sie auch aus anderen Gründen, als für die meisten Außenstehenden ersichtlich war, floss. Die letzten Gäste streuten Erde in das offene Grab. Ein paar Kinder ließen Blumen auf den Sarg fallen. Bald war es überstanden. Sigrid und Thomas umarmten sich fest. Sie trauerten gemeinsam. Natürlich kamen sie zu Beate und Thomas sagte: »Wir sind jederzeit für dich da. Wenn wir was tun können, lass es uns wissen.« Aber Beate hatte zu den beiden nie ein inniges Verhältnis aufbauen können und würde ihr Angebot daher nicht in Anspruch nehmen wollen.
Im Hintergrund gehalten hatte sich während der ganzen Zeremonie auch der Bankberater der Steinrigls, der ebenfalls zur Beisetzung eingeladen worden war. Ihn einzuladen hatte sich gehört, schließlich hatte er auch jahrelang die Finanzen von Wolfgang verwaltet, bevor dieser zum Minister ernannt wurde und sein Hauptkonto zu dessen Bedauern zu einer anderen Bank verlegen musste. Ein kleines Sparbuch hatte Wolfgang Steinrigl noch immer auf der lokalen Bank liegen gehabt. Dass der Bankberater zum Begräbnis kam, war in Ordnung. Aber dass er die Frechheit besaß, Thomas während der Zeremonie zuzunicken, regte diesen innerlich gewaltig auf. Nicht einmal am Grab seines verstorbenen Bruders hatte man seine Ruhe vor dem Finanzhai! Thomas musste an den Kredit denken, der wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schwebte. Die finanzielle Situation der Familie belastete ihn einfach sehr. Warum nur hatte er neben den Melk- und Fütterungsrobotern auch noch das 10.000 Euro teure System gekauft, mit dem er seine Kühe überwachen und genauestens beobachten konnte! »Die Tiere erkranken dadurch weniger häufig und liefern noch bessere Erträge«, versprach der Hersteller des Systems. Funktionieren sollte dies dadurch, dass möglichst viele Daten von der Kuh erhoben wurden, um Rückschlüsse auf ihren Gesundheitszustand zu ziehen, um rechtzeitig eingreifen zu können. Bewegungsmesser, Brunstbeobachtung und Wiederkauaktivitätssensoren waren im Paket enthalten. Aber das war alles so ein Humbug! Bis jetzt war dies nur rausgeschmissenes Geld, das ihm jetzt so sehr fehlte. Das zahlte sich vielleicht für eine größere Herde aus, aber nicht für seine 80 Tiere. Jedenfalls hatte er daraus noch keinen messbaren Profit schlagen können. Für 10.000 Euro erwartete man sich hilfreiche Ergebnisse. Aber das System war einerseits sehr ausfallanfällig, andererseits hatten sie alleine aufgrund der Daten noch keinen Liter Milch mehr aus den Kühen rausholen können als zuvor. Außerdem hatte der Hersteller verschwiegen, dass die geeignete Software zur Analyse und Auswertung dieser Daten extra gekauft werden musste. Das waren Dinge, die hätte ihm einmal wer sagen müssen – und zwar vor dem Kauf der Sensoren! Selbst hatte der Landwirt und Bürgermeister einfach nicht die Zeit dafür, sich intensiver mit den Messergebnissen zu beschäftigen – außerdem konnte das kein Mensch so gut analysieren wie die Software. Und um die Befindlichkeiten seiner Tiere zu kennen, brauchte man die Sensoren nicht. Krank waren seine Tiere sowieso selten und wenn, dann wusste er auch ohne Überwachung, wie er zu reagieren hatte. Sein Bruder hätte ihm sicher die jetzt fehlende Geldsumme nach dieser Geschichte, ohne mit der Wimper zu zucken, vorgestreckt.
Sonja und Barbara, die 16-jährigen Zwillingsmädchen der beiden, warfen gerade ihre Blumen ins offene Grab, als Sigrid sanft die Hand ihres Mannes drückte und ihn damit aus den düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart holte. Thomas sah seine Frau an und sagte: »Auf geht’s zum Leichenschmaus. Wolfgang hätte gewollt, dass wir uns auf das gute Essen freuen!«
Weder Sigrid noch Thomas hatten bemerkt, dass sie ein unbekannter Herr, der ganz offenbar niemanden kannte und so gar nicht zur Trauergesellschaft dazugehörte, aus der Ferne beobachtet hatte. Kommissar Michael Leyrhofer runzelte die Stirn. Irgendwas war da bei dem Bruder des Ministers, außer der Trauer. Er hatte dessen finsteren Blick beobachtet, und er sah die Sorgenfalten auf der Stirn von Sigrid. Der Kommissar hatte immer schon ein feines Gespür für Menschen gehabt. Gleich nach dem Leichenschmaus, dachte er sich, würde er den beiden auf ihrem Hof einen Besuch abstatten. Davor, das verbot ihm sein Respekt vor dem Toten, würde er ihnen noch Zeit für ihre Gäste geben und sich stattdessen ein wenig im Dorf umhören. In kleinen Gemeinden wusste schließlich jeder über jeden Bescheid. Vielleicht lag hier ja bereits ein Motiv für den vermeintlichen Mord vergraben.