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ОглавлениеA m Fitz Roy
Während irgendwo in Europa sich der Nikolaus seinen Weg durch einen rußigen schwarzen Kamin bahnte, versuchten auf der anderen Seite der Erdhalbkugel ihrerseits Pavel und seine Seilschaft einen Kamin der ganz anderen Art zu meistern. Er war glatt, weiß und gefährlich, und an seinem Ende befand sich ein dicker Überhang aus Schnee oder Eis, dies war von unten nicht genau zu erkennen.
Sie befanden sich auf der Nordroute des Fitz Roy in Patagonien und waren eigentlich schon nach den ersten zehn Stunden am Berg völlig ausgepowert. Pavel hatte sich die Gipfelerklimmung nonstop in nur 24 Stunden in den Kopf gesetzt. Er war nicht der schlechteste, aber vielleicht auch nicht der allerversierteste Bergsteiger, doch hatte er sein Leben in El Chalten verbracht. Genauer gesagt hinterm Tresen in der Cerveceria und er kannte aus den Erzählungen JEDES Detail am Berg.
Sein Vater hatte ihn schon früh mit dem Berg bekannt gemacht, jedoch hatten sie die extrem schwierige Gipfelbegehung nie gewagt.
Doch ein Traum verdichtet sich manchmal so lange, bis er einem Schneeball gleich ins Rollen kommt und zu einer nicht mehr zu stoppenden Lawine wird. Nach und nach wurde es für Pavel zur Gewissheit, dass er nicht umsonst in diesem Nest geboren wurde und dass der rauchende Berg, wie man ihn aufgrund seiner eigentümlichen Wolkenbildung nannte, Rauchzeichen für ihn aussandte. Diese riefen ihm unmissverständlich „Komm doch, worauf wartest du noch?“ zu.
Und hier war er, hieb seine Steigeisen und den Pickel in das Eis, das jedoch viel zu oft viel zu dünn war –gerade so dünn, um den darunter liegenden Fels zu verbergen. Und das war es, was ihnen hier die Kraft raubte: Ansetzen, abrutschen, neu ansetzen, abrutschen, neu ansetzen, endlich Halt finden, weiter ansetzen, abrutschen... Vor dem Überhang befand sich einer der wenigen Haken auf der Strecke, gottseidank, dachte Pavel, das schwierigste Stück ist bald geschafft.
Ein eisiger Wind wehte der Gruppe entgegen, der ihnen den pulverisierten Schneestaub in die Nase trieb, so dass das Atmen zur Kunst wurde. Sie versuchten das Eisplateau zu überblicken, an dessen Ende sich schemenhaft der Einstieg zum nächsten kletterbaren 80° steilen Felsriss abzeichnete. Pause am Fels, gab Pavel, der vorausging, mit Handzeichen zu verstehen, und Klaus und Dario nickten.
Müsste drüben theoretisch windstill sein, dachte er.
Praktisch wurde es sofort windstill, nicht nur windstill, sondern völlig still.
Von oben warf sich das Licht mutig durch den Eingang der Gletscherspalte, blau und majestätisch, fast erschien es Pavel, als sei der blaue Himmel ganz nah.
Nach unten zu dunkel, um die Tiefe zu bestimmen, die Seiten nicht erreichbar.
Die anderen würden oben per Satellitentelefon einen Hubschrauber anfordern.
Mist.
Das war sie.
Seine Begehung.
Kein Gipfelfoto, diesmal nicht.
Vielleicht nie.
Neben dem Gefühl des Scheiterns setzte Pavel nach Stunden die Kälte zunehmend zu, der Gurt schnitt sich bestialisch schmerzend in seine Seite und seine Schultern konnten den Druck des Rucksackes nicht mehr ertragen. Und gerade als er mit letzter Kraft den Rucksack nach vorne zu sich ziehen wollte, um ein wenig Proviant herauszuangeln, verwandelte sich das von oben hereinfallende Licht in ein erst schummriges, dann immer heller werdendes weißes Strahlen. Er nahm die Hand, die eben schon den Rucksack greifen wollte, zurück und hielt sie sich erschrocken vor die Augen, so gleißend hell wurde es um ihn herum.
„Fürchte dich nicht!“ vernahm er plötzlich eine wohltuende Stimme, die inmitten der eisigen Kälte warm erschien wie ein Feuer. Er blinzelte durch die Finger und erblickte vor sich in diesem seltsamen Licht, das ihm immer angenehmer wurde und ihn gar einzuhüllen schien, einen golden schimmernden Engel, der seine Hand sanft ergriff.
„Fürchte dich nicht, komm!“
Pavel fühlte sich mit einem Mal leicht, wie in Watte gebettet, umgeben von einem wunderbaren Glitzern, schöner und sanfter als alles, was bisher gesehen hatte. Und so begab er sich in die Obhut des Engels, der mit ihm gen Himmel flog. Er staunte nicht schlecht, denn er konnte sich jetzt selbst sehen, wie er da so hilflos in seinem Seil hing und fing an zu kichern, als hätte man ihn versehentlich mit Lachgas wiederbelebt. Auch über sein Lachen musste er lachen, denn dieses klang wie zig kleine Glöckchen.
Pavel fragte sich, ob seine Freunde, die er jetzt auch sah –(sie standen starr auf dem Eisfeld) wohl sein Lachen gehört hatten, denn sie schienen sich nach oben zu ihm umzudrehen, wo er, Pavel, zu ihnen hinuntersah und winkte.
Auch dem nahenden Hubschrauber winkte er zu, und der Engel winkte mit. Den Piloten kannte er nicht, kam denn der Hubschrauber nicht aus El Chalten? Es spielte keine Rolle, es hatte alles seine Richtigkeit, das wusste er.
Denn alles schwang im Takt der himmlischen Musik, die man zu seinen, Pavels Ehren spielte. Die hier immer gespielt wurde.
Doch dann fiel sein Blick auf etwas, das er nie mehr hatte sehen sollen.
Sein Traum, sein Ziel –der Gipfel des Cerros.
Und es durchfuhr in jäh ein solches Gefühl von Ungerechtigkeit, dass er unwillkürlich an der Hand seines Engels zog, so fest, dass dieser mit ihm in die Tiefe gerissen wurde.
Sie krachten beide mit einem höllischen Aufschlag auf das Eisfeld. Der Engel kicherte, gluckste ein „typisch Bergsteiger“ hervor und verschwand.
Als Pavel die Augen wieder öffnete, blickte er in die dunklen Augen eines weniger durchscheinenden, aber nicht minder angenehmen Engels mit streng zu einem Zopf geflochtenem Haar. Dieser Engel fühlte gerade seinen Puls und lächelte ihn freundlich an.
„Willkommen zurück“, sagte sie leise.
Pavel versuchte zurück zu lächeln, dann drehte er den Kopf und erblickte durch das milchige Fenster in der Ferne den Fitz Roy, dessen Gipfel in der untergehenden Sonne glühte.
***