Читать книгу Ab in die Rakete - Beate Dolling - Страница 11
KAPITEL 4, in dem Häppchen in einem Apfelsaftsee
schwimmen und Luis einen Auftrag annimmt
Оглавление»Ferien im Haus Erlengrund?«, fragt der Mann erstaunt, der nicht James Bond, sondern Karl Radauke heißt. Luis soll ihn aber Karl nennen, denn unter Gentlemen spräche man sich immer mit Vornamen an. Er könne ihn auch ruhig duzen.
»Na ja, eigentlich … nicht richtig Ferien«, stammelt Luis und versucht, Karls Segelohren nicht zu sehr anzustarren. »Ich bin nur ein paar Tage da, weil meine Mutter …«
»Darf ich mal vorbei?« Eine Frau stößt energisch mit dem Rollator gegen Karls Krücke, die er so locker in der Hand hält wie einen Spazierstock. Es ist die Frau mit dem Blumenhaarreif, die vorhin beim Menschärgere-dich-nicht den Mitspielerinnen Anweisungen gegeben hat.
»Aber bitte schön, Frau Osterhas«, sagt Karl und tritt zur Seite. »Warum so eilig? Die Stullen laufen doch nicht weg.«
»Das sind Schnittchen, Herr Rabauke«, erwidert die Frau.
»Radauke, Frau Schneewittchen«, kontert Karl und grinst.
»Von wegen Schneewittchen«, zischt Frau Osterhas zurück, schiebt mit erhobenem Kopf an ihm vorbei und parkt ihren Rollator in der zweiten Reihe. Karl zwinkert Luis zu.
»Komm doch mit an meinen Tisch«, lädt Karl ihn ein. »Ich sitz da hinten eh allein. Mein Tischnachbar ist letzte Woche verstorben.«
»Oh«, sagt Luis und geht mit ihm zu seinem Tisch. Er setzt sich ihm gegenüber. Vor dem Fenster, mit der Sonne im Rücken, glühen die Ohren von Herrn Radauke so orange wie die Scheiben eines Hokkaidokürbises.
Alle Senioren sitzen nun an ihren Plätzen. Eine junge Küchenhilfe mit Haube und weißer Schürze teilt an den Tischen Tee aus. Die Kanne tropft, aber sie bemüht sich nicht, den Tee langsamer auszuschenken, sie lässt es einfach tropfen.
Karl trinkt ein Bier. Luis Apfelsaft. Leider ist der nicht schön kalt und riecht auch irgendwie muffig. Zu essen gibt es belegte Brote, zu denen Karl Stullen sagt und das Schneewittchen Schnittchen. Die Frau könnte wirklich die Uroma von Schneewittchen sein, mit ihren pechschwarz gefärbten Haaren und dem Haarreif.
Die Brote sind in mundgerechte Häppchen geschnitten und mit Gewürzgurke, Petersilie oder Radieschen garniert. Luis nimmt sich eins mit Leberwurst.
»Hau rein, vor morgen früh gibts nichts mehr«, sagt Karl. Er zwinkert Luis zu. »Aber nun möchte ich ja gern mal wissen, warum deine Mutter dich in ein Seniorenheim gibt. So alt siehst du doch noch gar nicht aus«, sagt er. Luis erklärt ihm seine Situation.
Karl kriegt große Augen, als er hört, dass Luis’ Mama Kapitänin ist. »Das wollte ich früher auch werden, Kapitän oder Pilot, hat aber beides nicht geklappt.«
»Und was sind Sie … äh … bist du geworden?«
»Ich war Schriftsetzer. Weißt du, was das ist?«
»Nö.«
»Früher musste man ja noch Buchstabe um Buchstabe mit der Hand in einem Bleisetzkasten zurechtrücken, um Zeitungen oder Bücher zu drucken. Genau das habe ich getan. War eine schöne Arbeit. Jeden Tag neue Geschichten. Für meine Traumberufe wäre ich eh zu schlecht in Mathe gewesen. Wie sieht es da bei dir aus?«
»Och, in Mathe bin ich ganz gut. Muss ich auch sein. Ich will nämlich Astronaut werden«, sagt Luis und nimmt sich noch ein Leberwursthäppchen mit Gurke. So was gibt es bei ihm zu Hause nicht. »Dafür muss ich vorher Pilot werden.«
»Flugzeugpilot?«, fragt Karl. »Warum denn?«
»Na ja, man muss erst Erfahrungen in der Luft sammeln, bevor man weiter ins All darf. Außerdem braucht man einen Beruf, um überhaupt Astronaut werden zu können. Aber ich will zwei haben, wie Alexander Gerst. Kennst du den?«
»Nee. Wer ist das denn?«
»Ein total cooler Astronaut. Der hat mal auf der ISS gearbeitet. Da möchte ich auch hin.«
»Wohin?«
»Auf die ISS – das ist eine internationale Forschungsstation im All. Die umkreist mit 28.000 Stundenkilometern die Erde. Stell dir mal vor, für eine Umrundung braucht die gerade mal 90 Minuten!«
»Ach du meine Güte, dann ist das gar kein Stern, der da immer an meinem Balkon vorbeiflitzt?«
Luis lacht. »Nee, Sterne flitzen nicht. Auf jeden Fall hat Alexander Gerst auch noch zwei Berufe außer Astronaut. Soll ich sagen?«
»Unbedingt«, sagt Karl.
»Geophysiker und Vulkanologe.«
»Donnerlittchen! Und was möchtest du außer Flugzeugpilot und Astronaut noch werden?«
»Arzt«, sagt Luis ohne zu zögern.
»Hals-Nasen-Ohren-Arzt?«, fragt Karl.
»Nee, Orthopäde.«
»Knochenarzt ist prima«, sagt Karl und beißt knackend in eine Gurke. Er betrachtet Luis eingehend. »Wirklich sehr beeindruckend, deine Zukunftspläne. Da soll noch einer sagen, die Jugend wisse nicht, was sie wolle.«
»Als Orthopäde werde ich dann eine Weile als Sportarzt arbeiten und eine Fußballmannschaft betreuen.«
»Gute Idee. Welche denn? Bayern München?«
»Nee. Dortmund.«
Karl strahlt und hält seine Hand über den Tisch. Luis schaut ihn verwundert an. Eine riesige Pranke.
»Ich dachte, wir klatschen uns jetzt ab«, sagt Karl und hält ihm die Hand immer noch hin. »Das macht ihr jungen Leute doch heutzutage. Das habe ich im Fernsehen gesehen.«
»Ach so«, sagt Luis und zeigt Karl, wie ein »High Five« geht. Dabei stößt er mit dem Ellenbogen gegen sein Glas, die Häppchen auf dem Teller schwimmen nun in einem Apfelsaftsee und der Saft tropft von der Tischdecke auf den Boden.
Das Schneewittchen schielt über ihre Brille. »Der Herr Radauke mal wieder. So ein Ferkel!«
»Öh«, sagt Luis. »Das war ich.«
»Jetzt auch noch das Kind vorschieben, ja, ja, das haben wir gern!«
Karl prustet los. Das Schneewittchen droht mit dem Zeigefinger. Da muss Karl noch mehr lachen. Die Küchenhilfe kommt und klatscht einen Lappen in den Apfelsaft, dass es spritzt. Anstatt die Pfütze aufzuwischen, verteilt sie sie nur. Nicht gerade geschickt.
»Lassen Sie mich mal machen«, sagt Karl und nimmt ihr den Lappen aus der Hand. Während er alles aufwischt, bringt das Mädchen frische Teller und neue Häppchen. »Sie ist nur eine Aushilfe«, sagt Karl. »Allerdings hilft sie schon eine Weile aus. Ist wohl jemand in der Küche länger krank. Zum Glück nicht die Köchin. Das ist die beste Frau im Haus. Hedwig Hummel. Die versteht ihr Handwerk. Aber der Apfelsaft schmeckt wie eingeschlafene Füße, stimmts? Nimm lieber nächstes Mal ein Bier«, sagt Karl und zwinkert ihm zu.
Ziemlich cool, der Karl, nicht nur weil er ihm Bier anbietet, sondern weil sie ganz normal zusammen reden. Das kann man ja nicht mit jedem Erwachsenen, obwohl Luis ja schon bemerkt hat, dass alte Leuten oft viel lockerer drauf sind, als halbalte Lehrer zum Beispiel. Oma Heike und ihre Heerschar von Freundinnen sind jedenfalls megalustig und stressen nie. Und sie lassen auch nicht ständig raushängen, dass sie alles besser wissen, obwohl sie bestimmt vieles besser wissen, weil sie schon so viel erlebt haben.
Die Sonne verschwindet um die Hausecke und Karls Ohren hören plötzlich auf zu leuchten, als hätte man innen das Licht ausgeknipst. Im Garten werfen die Bäume lange Schatten. Nachher wird es dunkel. Okay, das ist nicht gerade die neueste Erkenntnis, aber Luis übernachtet in diesem fremden Besucherzimmer, am Ende eines langen Flures, wo es nur das Schwesternzimmer, Toiletten und komische Kammern gibt, bei denen man nicht weiß, was sich in ihnen verbirgt. Nicht, dass er nicht nachts schon öfter allein geblieben ist, aber zu Hause haben sie ein Zusatzschloss an der Wohnungstür, das Mama abends zweimal abschließt. Hier, im Besucherzimmer hat er überhaupt keinen Schlüssel, mit dem er seine Tür abschließen könnte. Nicht, dass er Schiss vor Räubern hätte; er glaubt auch nicht mehr an Monster unterm Bett, aber seitdem er dieses krasse Video gesehen hat, das heimlich auf dem Schulhof weitergereicht wurde, in dem Untote ein Raumschiff entern und die gesamte Crew bei lebendigem Leib zerfetzen, kriegt er diese Space-Zombies nicht mehr aus dem Kopf. Sie tauchen einfach auf, besonders wenn er allein und an fremden Orten ist, und vor allem im Dunkeln. Sein Hals schnürt sich plötzlich zu. Er bekommt keinen Bissen mehr runter.
»Na, was grübelst du?«, fragt Karl. »Lernst du lateinische Vokabeln für die menschlichen Knochen? Sollen ja über 200 sein. Kennst du die alle schon?«
»Nee, ich weiß nur, dass das Schienbein Tibia heißt«, sagt Luis.
»Und das künstliche Hüftgelenk Endoprothese«, sagt Karl. »Ich hab nämlich schon zwei. Genau wie Benno.«
»Wer ist denn Benno?«
»Unser Bademeister«, sagt Karl und prostet Herrn Dollmann zu, der zwei Tische weiter sitzt, fröhlich vor sich hin spachtelt und nebenbei mit der Musiklehrerin schäkert. Ihm gegenüber sitzt Frau Weißbrot mit der schicken Dame, die mit den dick aufgemalten Augenbrauen, und daneben Frau Sperling. Sie schaut der schusseligen Küchenhilfe mit wackelndem Kopf hinterher. Frau Weißbrot starrt nur auf ihren Teller. Luis erzählt Karl, dass sie heute nach der Polizei gerufen hat.
»Sie behauptet, man habe ihre Perlenkette gestohlen.«
Karl nickt. »Hab ich gehört. Ich sags dir, hier ist immer was los!«
Luis hält sein neues Glas Apfelsaft fest, das ihm das Küchenmädchen, ohne einen Ton zu sagen, auf den Tisch gestellt hat.
»Aber ist die Frau nicht …« – Wie war noch mal das richtige Wort für plemplem? – »… dement?«
»Ja eben«, sagt Karl und schaut über ihn hinweg. Sieht aus, als grübelte er. Luis hört ihn dabei laut atmen. Ob Karl auch dement ist?
Karl kommt zurück mit seinem Blick und sieht ihn nachdenklich an. »Wenn ich so recht überlege, vermissen in letzter Zeit noch mehr Leute was.«
»Vielleicht gibt es einen Dieb im Haus«, platzt es aus Luis heraus. Karl guckt sich kurz um, beugt sich dann über den Tisch und sagt leise: »Wollen wir das mal unter die Lupe nehmen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir zwei halten mal die Ohren offen.«
»Du und ich?« Luis schaut auf Karls Ohren.
»Ist ja sonst keiner hier, mit dem man Pferde stehlen könnte.«
»Was denn für Pferde?«, fragt Luis.
»Ach, das sagt man so.« Karls Augen funkeln ihn herausfordernd an. »Du bist doch klug, gewieft und mutig.«
»Öh.« Luis weiß gar nicht, was er sagen soll. – Klug, gewieft und mutig? Das hört sich ganz schön gut an. Er lächelt schüchtern.
»Na, bist du dabei?« Karl sieht nun gar nicht mehr wie ein Senior im Altenheim aus, eher wie ein Agent mit einem Auftrag.
In Luis’ Kopf schwirrt es. Aber besser ein Schwirren im Kopf als Muffensausen im Magen wegen der Space-Zombies, die bestimmt schon im Zimmer oben auf ihn lauern.
»Okay«, sagt Luis. »Eigentlich war ich auch schon mal Detektiv.«
»Dacht ichs mir doch«, sagt Karl und zieht eine Augenbraue hoch, genauso cool wie Sean Connery. Luis streckt seine Hand aus für ein »High Five«. Diesmal braucht Karl ein Weilchen, bis er kapiert, was Luis will, schlägt endlich ein, aber trifft die Hand nicht ganz. Der Apfelsaft kippt wieder um – erneut schütteln die Damen ringsum die Köpfe und eine genervte Küchenhilfe patscht ihren Lappen voll in die Apfelsaftpfütze.