Читать книгу Der Vorhang - Beatrix Langner - Страница 10

Familienalbum

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Weißer Dunst liegt über dem Loch der Wunde, ich grabe mich in seinen Boden, ich trage seine Schichten ab, aber noch immer nirgends ein Anfang oder Grund, scheinheilig sticht die Sonne aus dem makellosen Blau, wie ein riesiges Buch erhebt sich das Relief der Grube, in samtiges Grün gebettet, die sepiafarbenen Seiten von einem jähen Windstoß aufgeblättert, aus der waldigen Umgebung, verwischt die Abdrücke Millionen Jahre alter Chimären aus der Kindheit des Planeten, aus ihrem ewigen Schlaf gerissen die Wesen, die im Buch der Erde träumten, unlesbar geworden das Alphabet der Schöpfung, ausradiert unter den Raupenketten der Riesenbagger, ich steige hinab in das Buch, um die Schrift zu lesen, dumpfer Druck legt sich auf die Ohren, es ist totenstill, kein Vogel singt, ich stürze, die Erde empfängt mich sanft, ein paar Hundert Meter rutsche ich durch lockeres Sedimentgestein aus Kiesel, Schotter, Tonschiefer, Muschelkalk, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, es ist kälter geworden, Europa erstarrt unter pleistozänem Eis, Schwarz wird Weiß und Weiß wird Schwarz, unter meinen Schritten zerplatzen Jahrtausende, ich erschaffe sie neu, aus einer Handvoll vergifteter Flüsse und toter Gletscher komponiere ich mir ein Anthropozän, auf dem Hintergrund meiner eigenen Unwirklichkeit will ich eine wirkliche Welt beschreiben, ich nehme den Oberkiefer eines Schnabeltiers, einen Berg zerbrochener Saurierrippen, eine Handvoll Baumsamen und vermische alles mit jurassischem Sand, ich atme Morgenluft, am diluvianischen Horizont wird es schon hell.

Das Radio läuft leise, Schlager der siebziger Jahre, unterbrochen von Werbung. Du sitzt im Sessel. Ich fülle Tee in den Plastikbeutel, kontrolliere den Schlauch und schließe die Pumpe wieder an, die leise schnurrend anspringt.

Du hast nie viel von deiner Kindheit erzählt, sage ich. Vielleicht fangen wir mit Esther an, die eines Tages nicht mehr zur Schule kam, Esther Donnerstag, weißt du noch, du hast den Namen mal erwähnt, ich habe ihn mir gemerkt, eindeutig ein jüdischer Name, ihr wart vier Freundinnen, hast du gesagt, Ruth, Esther, Hilde und du. Es gibt ein altes Foto, so um Neunzehndreiunddreißig oder spätestens fünfunddreißig aufgenommen, also im Jahr der Nürnberger Gesetze, eine Schulklasse voll kleiner Mädchen, sage ich, du in der vorletzten Reihe, ein hübsches blondes Kind mit kurzgeschnittenem Haar und schmollend aufeinandergepressten Lippen, da warst du acht oder zehn, aber wer könnte Esther sein, das jüdische Mädchen, vielleicht die Dunkelhaarige da in der zweiten Reihe mit dem wachen Blick, oder die mit den Zöpfen?

Schon komisch, sage ich, dass ich dir dein Leben erzähle, obwohl es normalerweise umgekehrt sein müsste, aber was ist schon noch normal zwischen uns, die natürliche Ordnung steht auf dem Kopf, die Zeit folgt nicht mehr dem Lauf eines Menschenlebens von der Wiege bis zur Bahre, wie man so sagt. Sie läuft rückwärts. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Monat für Monat für Monat. Nach dem Winter wird es wieder Herbst, der Sommer wird mit Regentagen und Hitze am Mittag kommen, die Zeit zieht uns mit sich in den dunklen Grund und so wird es nie enden, es wird immer so weitergehen, sage ich, bis mein Leben vorbei ist.

Ich stelle das Bügelbrett so, dass du mich sehen kannst. Nach ein paar Minuten fallen dir die Augen zu, das Kinn sinkt auf die Brust. Du schnarchst leise, der rechte Arm rutscht leblos vom Schoß, aus dem linken Mundwinkel sickert Speichel.

Soll ich dir mal von dem Doktor erzählen, der dich auf die Welt gebracht hat? Er heißt Arno Philippsthal, sage ich, zu ihm geht Großvater, wenn die Kopfschmerzen wieder unerträglich werden, ein Granatsplitter spaziert seit der Schlacht vor Verdun in seinem Schädel herum. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1924 wird Dr. Philippsthal in den Fridolinweg gerufen. Als der Doktor eintrifft, ist das Kind schon abgenabelt und schläft erschöpft, in eine Decke gewickelt, im Wäschekorb. Er untersucht die Mutter, sie hat viel Blut verloren und ist blass. Er prüft die Nachgeburt und gibt Großmutter eine Spritze. Großvater wartet in der Küche. Schnee bedeckt den baum- und strauchlosen Garten wie ein gestärktes Tischtuch.

Was bin ich Ihnen schuldig, Herr Doktor, sagt Großvater und steht auf, als der Doktor in die Küche tritt.

Lassen Sie mal, sagt der Arzt, Ihr kleiner Weihnachtsengel ist gesund und die Mutter päppeln wir schon wieder auf.

Er zieht den Mantel an und schnallt vor der Tür den Arztkoffer auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Es schneit immer dichter.

Frohe Weihnachten, er winkt Großvater zu. Frohe Weihnachten, sagt Großvater und winkt dem Doktor nach, der das Rad durch den Schnee schiebt.

Der Doktor hätte das Land verlassen sollen, sage ich und verstaue die gebügelte Wäsche in der Schrankwand. Warum ist er dageblieben, er war doch Jude, da muss er doch gesehen haben, was nach den Märzwahlen los war, die grölenden Horden, die in ihren kackbraunen Uniformen mit den roten Koppeln durch Lichtenberg zogen, das hat man schon hundertmal in Filmen gesehn, die Aufmärsche auf dem Alexanderplatz, die Hetzjagden auf Juden und Kommunisten durch Neukölln und Wedding. Ich kann dich nicht fragen. Deine Erinnerungen sind in den unendlichen Schleifen der Nervenbahnen verschwunden, verstummt wie Radiowellen aus dem Weltraum.

Nachdem die Schwester vom Pflegedienst gegangen ist, die jetzt zweimal am Tag kommt, halte ich deine Hand, bis du eingeschlafen bist. Wo bist du jetzt, denke ich, in welcher Welt. Wohin gehen all die Geräusche, Gerüche, Stimmen, die gelöschten Bilder, die nicht zu Ende gesprochenen Sätze, die nicht abgeschickten Briefe, die nicht erzählten Geschichten, die sich irgendwann abgelöst haben von den Personen, denen sie einmal gehört haben müssen. Wie viele Welten können in einem einzigen Blutgefäß zerplatzen, wie viele Bibliotheken, wie viele philosophische Systeme, wie viele neuronale Galaxien mit einem Schlag verlöschen. Gibt es ein Fundbüro für Erinnerungen, die von ihren Besitzern verloren wurden? Schweben sie vielleicht als herrenlose Zeitmoleküle durch den unendlichen Raum und vermischen sich mit dem Licht, das alle festen Körper durchdringt und uns umfließt, ein Fluidum, in dem die Nochnichtgeborenen schwimmen wie in einer Art Fruchtwasser, oder geistern sie als virtuelle Meme durch die digitalen Netze um die Erde und bilden ihrerseits wieder Netze, in denen die vergessenen Bilder als Avatare ihrer Besitzer weiterleben?

Soll ich dir sagen, was aus dem Doktor geworden ist, sage ich, du warst noch zu klein, du kannst es nicht wissen, aber es gab Zeugen, die später alles aufgeschrieben haben, der Doktor war gerade von einem Hausbesuch zurück, als sie ihn holten, Ende März dreiunddreißig, am frühen Nachmittag, ein Trupp SA-Männer in Uniform erwartete ihn vor der Praxis. Sie hatten keinen Haftbefehl, sie waren höflich und forderten ihn auf, zwecks Klärung eines Sachverhalts mitzukommen. Auf der Straße wartete ein Auto mit laufendem Motor. Der Doktor stellte die Instrumententasche ab, seine Frau stand in der Tür, die Männer nahmen ihn in die Mitte. Ich nehme meinen eigenen Wagen, sagte der Doktor. Er rechnete damit, dass sich alles schnell klären würde, ein Missverständnis. Er fuhr also im eigenen Wagen zum Biesdorfer Polizeiposten, hinter sich die Sicherheitsleute. Auf dem Revier wurde er gebeten, Platz zu nehmen. Das war das letzte Mal, dass man ihn sah. Der Doktor wurde in die SA-Kaserne in der General-Pape-Straße gebracht und die Treppe zu einem Keller hinuntergestoßen, in dem sich Zellen befanden, ein SA-Mann schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, er fiel zu Boden, die Misshandlungen gingen die ganze Nacht weiter, bis man den Schwerverletzten gegen Morgen in eine andere Zelle brachte, in der auf dem nackten Betonboden ein Mann lag, Fritz Fränkel, ebenfalls Arzt, mit psychologischer Praxis im bürgerlichen Wilmersdorf, auch ihn hatte man die ganze Nacht mit Lederpeitschen und Gummiknüppeln traktiert. Doktor Philippsthal verlor immer wieder das Bewusstsein, Fränkel musste ihn untersuchen, nachdem die SA-Schergen Eiswasser über den blutenden Körper gegossen hatten. Am nächsten Tag, es war der 22. März, wurde Arno Philippsthal halbtot ins Urban-Krankenhaus eingeliefert, sein Mithäftling Fritz Fränkel entkam noch am selben Tag in die Schweiz, nachdem er sich schriftlich verpflichtet hatte, Deutschland für immer zu verlassen. Vier Tage später brachten sie den Biesdorfer Arzt zurück in den Keller, wo die Torturen fortgesetzt wurden. Er konnte nicht mehr allein gehen und hatte am ganzen Körper Wunden, als er sechs Tage später ins Polizeikrankenhaus eingeliefert wurde. Arno Philippsthal starb am Morgen des 3. April 1933.

Und Esther? Eines Morgens sei sie nicht mehr gekommen, hast du erzählt, das war alles, sie kam einfach nicht mehr zur Schule, mehr war aus dir nicht herauszubringen. Vielleicht ist es dein Schicksal, im Augenblick zu leben, sage ich, deiner Erinnerungen beraubt, dieser vollkommen nutzlosen Erinnerungen. Damit du Esther vergessen konntest und den Tag, an dem sie nicht mehr zur Schule kam, sodass der Zustand der Auslöschung, in dem du dich seit zwei Jahren befindest, vielleicht nur die äußere Form eines Verstummens ist, das schon viel früher angefangen hat, lange vor meiner Zeit.

Ich komme vom Einkaufen zurück, du liegst noch im Bett, mit rotgefrorenen Händen streife ich über deinen mageren Unterarm, du machst Huch und verziehst den Mund zu einem lustigen Grinsen.

Draußen schneit und friert es, sage ich, richtiges Schneetreiben heute.

Wirklich? fragst du und ziehst komisch den Kopf ein. Sie wird wieder sprechen lernen, denke ich erfreut, das ist ein gutes Zeichen.

Du greifst nach meiner eiskalten Hand, drückst sie an die Lippen und ziehst sie unter die Decke an deine Brust.

Auf dem Foto, das auf deinem Nachttisch steht, sieht man eine Gruppe von zehn, fünfzehn Menschen verschiedenen Alters vor einem niedrigen Häuschen stehen, sie lächeln, es ist diese Art von Lächeln, wie es Leuten in den Fotoateliers aufgesetzt wird, ein etwas verlegenes, pflichtgemäßes Lächeln, das Foto muss ungefähr 1936 in der Siedlung am östlichen Stadtrand aufgenommen worden sein, in der du geboren bist, du sitzt vorn in der ersten Reihe und blickst launisch schmollend direkt in die Kamera, hinter dir, ziemlich genau in der Bildmitte ein etwa vierzehnjähriger Junge mit abstehenden Ohren, ein Blumensträußchen am Revers seines dunklen Anzugs, wahrscheinlich dein jüngerer Bruder am Tag seiner Konfirmation, sage ich. Großmutter steht links am Rand in einem festlichen Kleid mit kleinem weißem Kragen, leicht wie eine Feder, hinter ihr ein Mann mit abstehenden Ohren, daneben eine ältere Frau mit rundem Gesicht, sie hat sich bei einem schlanken Mann untergehakt, in der hinteren Reihe ein Mann mit Halbglatze in den Vierzigern, eine alte Frau mit eingesunkenen Augen, fast verdeckt von einer anderen mit bäuerlich groben Zügen, und rechts am Rand der Gruppe mein unbekannter Großvater, ein schlanker, freundlicher Mann um die vierzig, leicht auf einen Stock gestützt, er starb in dem Winter vor meiner Geburt. Offensichtlich handelt es sich um eine Familienfeier, diese Menschen da sind deine und meine Familie, sage ich, aber nirgends erkenne ich etwas wie Ähnlichkeit, für mich sind es Fremde, ich kenne nicht einmal mehr ihre Namen, ihre Gesichter sagen mir nichts, und wozu auch, wir waren eine ganz normale deutsche Familie. Soviel ich weiß, war niemand Nazi, niemand wurde verhaftet oder deportiert, bei uns gab es weder Juden noch Kommunisten. Alle Familienfotos sehen sich sowieso zum Verwechseln ähnlich, alle Hochzeits- und Konfirmationsbilder, alle Kinderfotos, alle Urlaubsschnappschüsse, ebenso gut könnte ich in einem der Fotoalben auf dem Flohmarkt blättern. Die große Geschichte, die Geschichte der Kriege und der Straßenschlachten, der Gefängnisse und der Irrenanstalten, der Todeslager und der Gettos bleibt darauf unsichtbar, denn mit jeder Generation fing immer wieder alles von vorn an, wie oft auch die politischen Zeiten sich änderten. Und als nach dem Kaiser die Republik und nach der Republik das tausendjährige Reich und auf den braun angestrichenen Sozialismus der rote Sozialismus folgte, nahmen unsere Leute davon wenig Notiz, solange sie nur genug zu essen für sich und ihre Kinder und ein friedliches Dach über dem Kopf hatten, wie sie dann schließlich auch von ihrem eigenen Schwächerwerden wenig Aufhebens machten, bis sie eines Tages spurlos von der Erde verschwanden. Nichts wurde aufgeschrieben oder aufgehoben, keine Briefe, Tagebücher, nicht einmal Geburts- oder Heiratsurkunden. Offenbar gab es in ihren kleinen Leben nichts, das die Mühe wert gewesen wäre, und so wurden sie vergessen, wie sie selbst vergessen hatten.

Und trotzdem, sage ich, bestehen die meisten von uns auf unseren ganz persönlichen, einzigartigen Erinnerungen; wir wollen nicht untergehen in diesem Meer aus Zeit, das uns jeden Augenblick von allen Seiten umflutet, denn unter der verborgenen Tiefe brodelt das Schweigen, das Unausgesprochene und Unbewusste, und eines schönen Tages könnte es uns passieren, dass die vielen verstreuten Erinnerungen ans Licht der Gegenwart drängen, die Schädelkapsel ihrer Besitzer durchbrechen und sich anderer, fremder Gehirne bedienen, um sich wie ein Magmastrom aus einer unterirdischen Plume über die ganze Erde zu verbreiten, und die Erinnerungen aller Menschen, die je auf ihr gelebt haben, werden sich in einem gewaltigen stream of conciousness auflösen wie Würfelzucker in einem Glas Tee.

Der Vorhang

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