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Das Loch

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Du musst alles vergessen, so war es doch, aber ich bin zurückgekommen, ich sitze am Abhang und starre in das Loch, durch die klare Herbstluft dringt das monotone Brummen starker Motoren, in konzentrischen Halbkreisen arbeitet sich der Bagger durch das Gelände, dreihundertvierzig Meter unter mir öffnet sich der Schlund der Zeit, Menschenzeit, Allerweltzeit, Niemandszeit, ein Meer aus Zeit, von Vergessen durchpflügt. Gierig schlagen die Schaufelzähne in das lockere Sediment, Kratzspuren, Schürfwunden, Zeitfalten hinterlassend, kilometerweit transportieren die Förderbänder den Abraum der Zeit zu den Absetzern, verlorene Zeit, überflüssige Zeit. Mitgerissen von der sanften Krümmung der Erde, klettern die Augen über die Terrassenhänge zu den schneeweißen Wolken über den Kühltürmen von Weisweiler. Wenn ich lange genug auf diese künstlichen Kumuli starre, die träge über den Novemberhimmel treiben, steigt vor mir eine andere, imaginäre, nein, ganz und gar reale Landschaft auf, eine Komplementärwelt, der Himmel ein tiefblaues Meer, die Wolken schwimmende Eisberge, Eisschollen treiben gemächlich zum Horizont, so weit der Blick reicht, die perfekte Täuschung, die Verwandlung der Welt in ihre Gegenwelt, Trompe-l’œil, die Krümmung des Raums zur Linse, durch die aus der ersten eine zweite Welt ersteht. Ich stürze mich in die Tiefe, über mir schlagen die Wellen der Luft zusammen wie das kühlende Dach eines Laubwalds an einem windigen Sommertag, rückwärts durch das Zeitmeer rutsche ich durch Keuper Hauptkies Rotton Bundsandstein Muschelkalk dem Grund entgegen, geschichtete Zeit, zwölf Millionen Jahre wie im Flug. Ein leises Knarren und Ächzen liegt in der Luft, ein Rauschen wie von starken Dieselmotoren, sonst ist es still, so still, dass ich mein Herz klopfen höre. Aber es ist nicht mein Herz, es ist der Flügelschlag der Ewigkeit.

Falls es ihn wirklich gibt, diesen Ort, sage ich, den die Dichter die Heimat der Seele nennen, diesen Sehnsuchtsort im Rücken der Zukunft, dann habe ich ihn jedenfalls nicht gefunden auf meiner Winterreise, an jenem verregneten Dreikönigstag des Jahres Neunzehnneunundachtzig. Dieses Überall und Nirgends der Morgenlandfahrer, das Einswerden aller Zeiten, für mich ist es verloren. So oft ich zurückdenke an meine Kinderjahre, ist da ein großes Nichts. Es gibt mich nur in der Gegenwartsform, im ewigen Präsens des Hier und Jetzt. Zwischen der Vergangenheit und mir klafft ein Loch, durch das meine Jahre davonschwimmen wie langsame Schiffe, beladen mit namenlosen Gesichtern und Stimmen, mit unbekannten Städten und fremden Zimmern.

Nebenan ist alles still. Ich stehe am Fenster. Durch das Fenster scheint eine schöne weiße Spätwintersonne, ich könnte spazierengehn. Die Dächer sind mit dicken Schneepolstern bedeckt, die über die Regenrinnen hängen und geräuschvoll abstürzen. Ich zucke jedesmal zusammen, aber ich bleibe sitzen, an meinen Schreibplatz vor dem Fenster, und sehe dem Tag beim Sterben zu.

Man muss zweimal an einen Ort gekommen sein, hat Marina Zwetajewa irgendwo geschrieben, das erste Mal, um wegzugehen, und noch einmal, um Abschied nehmen zu können. Noch einmal also, sage ich, ein halbes Menschenalter später, noch einmal mit der deutschen Bahn, noch einmal vom Bahnhof Friedrichstraße, wenn auch dieses Mal ohne Herzklopfen, ohne den blauen DDR-Pass und ohne die argwöhnischen Blicke der Zöllner, noch einmal für höchstens vierundzwanzig Stunden und keine mehr, nicht um zu bleiben nämlich, sondern: noch einmal, nur anders. Schließlich waren die Zeiten von Grund auf andere geworden, die Mauer war weg, die DDR war weg, ihre Denkmale geschleift, ihre Regierung vertrieben, ihre Machthaber vor Gericht gezerrt oder ins Gefängnis geworfen worden, ihre Insignien entweiht, ihre Prunkgebäude abgerissen, ihre Straßen und Plätze umbenannt, als sollte den Bürgern dieses gleichsam über Nacht verschwundenen Staates jeder Anhaltspunkt genommen werden, an dem ihre Erinnerungen haften könnten, vierzig Jahre ausgelöscht, verflucht im Gedächtnis der Nachkommen, damnatio memoriae, wie die alten Römer das nannten.

Die Sonne strahlte golden aus einem tiefblauen Himmel, als die Rezeptionistin im Arnoldshof mir den Zimmerschlüssel in die Hand drückte und mit slawischem Akzent zu verstehen gab, dass das Restaurant in der Wintersaison geschlossen sei. Auf dem Gang war niemand zu sehen, wer verirrte sich auch im November in diesen gottverlassenen Winkel der Bucht. Ich stellte meine Tasche ab, schob die Gardine zur Seite, warf einen Blick auf den Hotelparkplatz, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, ich tat alles genau so wie damals im Rheinischen Hof, als könnte durch die Wiederholung der abgerissene Lebensfaden zurück ins Gewebe der Zeit geschoben werden. Das Hotel befand sich an der Peripherie der Stadt, mitten in einem kleinen Dorf, das schon vor Jahren nach E. eingemeindet worden war. Ich beschloss, unterwegs zur Hauptstraße den Umweg über den Tagebau Hambach nehmen, der hier ganz in der Nähe sein musste. Es war sommerlich warm, viel Zeit blieb nicht, in dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter. Ein Hinweisschild behauptete, bis zum Grubenrand seien es nur noch anderthalb Kilometer. Hinter der kleinen weißen Dorfkirche lagen rechts und links Stoppelfelder, ich schwitzte, ich spürte das Gewicht des Körpers in den federnden Kniegelenken, das gleichmäßige Strömen des Bluts durch die erwärmten Muskeln, und trotzdem war in diesem Gehen etwas Stolperndes, eine seltsame Unsicherheit, die mich zwang, alle hundert Meter stehenzubleiben, sodass es für andere so aussehen musste, als betrachtete ich etwas am Feldrand, dabei sah ich angestrengt in mich hinein. Ob noch alles stimmte mit mir. Aber es stimmte natürlich schon lange nichts mehr. Was hätte ich sonst hier zu suchen gehabt, eine Schiffbrüchige, angespült in dieser Bucht am Rand der Nordeifel unter der glühenden Sonne des Klimawandels. Ich zog den Wintermantel aus und hängte ihn über die Schultern; beim Gehen rutschte er immer wieder herunter und landete im Straßenstaub, der feinpulverig und schmierig wie Lehm war.

Nach zwanzig Minuten endete die Straße an einem leeren Waldparkplatz. Eine Treppe führte über eine steile Böschung zu einer Aussichtsplattform. Ich stieg hinauf, und da war es. Das Loch. Ein gigantischer Trichter, dessen terrassenförmige Abhänge in allen Schattierungen von Ocker bis Saharagelb, Orange und Schiefergrau im Mittagslicht leuchteten. In regelmäßigen Abständen säumten grüne Kästen zwischen Bäumen und Sträuchern den Rand der Böschung, Hagebutten glänzten im staubigen Grün, leichter Wind wie am Meer raschelte in den welken Blättern. Am linken Grubenrand unterbrach ein bewaldeter Buckel die schnurgerade Horizontlinie, über der sich in makellosem Azur die gläserne Kuppel des Himmels wölbte, nur hier und da eingedrückt von den weißen Kuben der Kühltürme. Die andere Seite lag unter einer milchigen Dunstglocke, unter der sich das Ende des Lochs in der Ferne verlor. Auf den höher gelegenen Sohlen des terrassenförmig abfallenden Abhangs bewegten sich ameisenkleine Lastkraftwagen, und ganz unten, auf der tiefsten Sohle gerade noch erkennbar, stand klein wie ein Spielzeug der größte Bagger der Welt.

Mit ruhiger Präzision hebt und senkt sich die Bettdecke über deiner Brust. Frisch gewaschen, eingecremt und nach Pfefferminz und Veilchen duftend liegst du mit offenen Augen im Bett und greifst ängstlich nach meiner Hand. Schlaf schön weiter, sage ich und suche in meinem Gedächtnis, ob dieses maskenhafte Gesicht mit den steilen Jochbögen und der spitzen weißen Nase mich an jemand oder etwas erinnert. Wir spielen das alte Mutterkindspiel, aber die Rollen sind vertauscht, Anfang und Ende schließen sich zum Kreis. Der Tod, höre ich mich denken, wäre Erlösung. Aber deine vom Schlaf leicht geröteten Wangen sagen etwas anderes.

Wann hat das eigentlich angefangen, sage ich, dieses Abbaggern von Gegend, Garzweiler, Inden, Erkelenz, Hambach, Hürth, Kerpen, was weiß ich, diese chirurgische Operation an einer ganzen Landschaft, ausgeführt mit der kalten Präzision des Pathologen, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, wo noch vor fünfzig Jahren das Herz der alten Bundesrepublik schlug, diese alte europäische Kulturlandschaft zwischen Rhein und Maas im ökologischen Exitus, warum war mir das denn nicht schon bei beim ersten Mal aufgefallen, kein Baum und kein Strauch kilometerweit, diese flache Horizontlinie, wie das Kardiogramm eines Sterbenden auf einer Intensivstation, uralte Dörfer, die vor über tausend Jahren als Rodungsinseln in dem riesigen Wald zwischen Köln und Aachen gegründet wurden, Geiseln der Energiewirtschaft, die nun eines nach dem andern der Vorfeldräumung weichen mussten, wie das auf der Internetseite in Konzernsprache hieß, verschwunden in dem großen Loch. Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke, der erste nicht, der zweite nicht, der dritte muss gefangen sein. Entweihte Kirchen, abgeholzte Wälder, alte Handelsstraßen, die in diesem gigantischen Krater endeten, verändert bis auf den Grund diese Landschaft, in die ich nach drei Jahrzehnten, nein, nicht zurückgekehrt war, man kann nur zu etwas zurückkehren, das man kennt, sondern eben: noch einmal gekommen. Bis zur Unkenntlichkeit verformt die Bucht mit ihren alten Maiglöckchenwäldern und fruchtbaren Feldern und Weiden, mit Apfelbaumalleen und Dorfweihern, die ich all die Jahre im Kopf mit mir herumgetragen hatte in Ermangelung von etwas, das man wohl Heimat nennt.

Aber war denn sie, sage ich, die ostwestliche Reisende auf ihrem Aussichtspunkt dreihundertvierzig Meter über dem Abgrund, noch dieselbe Person wie damals auf ihrer Winterreise, und musste sie nicht genau in diesem Moment, bei ihrer zweiten Ankunft, und zwar zu ihrer eigenen Überraschung, feststellen, dass nicht nur sie es war, die sich verändert hatte, sondern genauso und noch mehr diese uralte Landschaft mit ihren Dorfangern und Löschteichen und Rübenäckern? Keine Rückkehr also, das war es nicht, aber was war es dann, sage ich, das mich an diesem sommerlich heißen Novembertag noch einmal in die alte Heimat verschlagen hatte. Ein Abschied hatte es werden sollen, ein Lebewohl, stattdessen war da jetzt dieses Loch, der Fußabdruck eines gigantischen Raubtiers, sechs Kilometer breit, acht Kilometer lang, fast vierhundert Meter tief, sodass es also diesen Ort nun zweimal gab, als Erinnerung und als Un-Ort. Was ich verloren hatte, war unwiderleglich und für immer als Verlust sichtbar, war Landschaft geworden.

Der Vorhang

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