Читать книгу Der Vorhang - Beatrix Langner - Страница 5
Die Winterreise
ОглавлениеUnersättlich der Schlund, der an der Erde saugt; wie ein urzeitliches Insekt gräbt sich der Bagger in ihren Leib. Die Wunde. Das Loch. Es hat Dörfer verschluckt, jetzt frisst es sich an die Städte heran, auf Raupen bewegt es sich, es knabbert schabt scharrt, es schlägt seine Schaufelzähne knirschend durch Ton Schiefer Sand, seine Augen glühen weiß in der Dämmerung, träge wie ein Ozeanschiff in der Wüste bewegt es sich voran, Immerath schon verschwunden, Morschenich, Etzweiler, Kuckum, in Manheim schleicht eine magere Katze über den Schotter, Wind raschelt im Gesträuch, eingeschlagene Fenster, schiefe Türen, zerschlitzte Dachrinnen, Tapetenmuster und BRAVO-Poster halten noch die Wände der Häuser zusammen, in denen Menschen gewohnt haben, bevor eine Macht, unsichtbar wie Strahlung, sie aus ihren Dörfern vertrieben hat und aus ihren Häusern und Höfen und Gemüsegärten, Feuerwehrschuppen, Kirche, Friedhofskapelle, Schützenverein, alles weg, sogar die Toten mussten umziehn mitsamt ihrer Mitwohnerschaft aus fettem Gewürm, aber bevor die Dörfer sterben, verschwinden die Kinder von den Dorfstraßen, Schulen werden geschlossen, Buslinien eingestellt, dann kommen die Konzernvertreter mit ihren Aktentaschen, aus denen sie Kaufverträge ziehen, und erst Jahre danach erscheinen am Dorfrand die ersten Maschinen, größer als Ozeanschiffe und höher als der Immerather Dom, und der Wind ist dann schwer von Staub, der über die aufgelassenen Scheunen und Ställe und Äcker bläst und die dünne Lößschicht davonträgt, bis das Land nackt und leer unter der brennenden Sonne glüht, wo nichts lebt als streunende Katzen, die von barmherzigen Händen gefüttert werden. Das ist wie im Krieg, sagen die Bewohner der Bucht, das ist der Krieg der Industrien gegen die Stille in den Höfen.
Weißt du noch, sage ich, das war in diesem heißen Sommer, du hattest das Sommerkleid mit den großen schwarzen Knöpfen an, schäumend schoss die Kall, oder war es die Rur, zwischen den dicht bewachsenen Ufern, das Wasser sprang über große Steine, immer schneller, immer lauter schwoll das Rauschen bis zu einem bedrohlichen Brüllen, du bist in deinen Badeanzug gestiegen, hast dir die Locken unter die Gummibadekappe gestrichen, die mit kleinen weißen Gummiröschen verziert war, und mit gestreckten Zehen den Ufergrund abgetastet, ich sehe dich vor mir, wie du einen Fuß vor den andern gesetzt und dabei so komisch mit den Armen gerudert hast, um nicht auf den glitschigen Steinen das Gleichgewicht zu verlieren, dann bist du in die Knie gegangen, hast die Arme mit zusammengelegten Handflächen nach vorn gestreckt und dich sacht in die reißende Strömung gelegt. Ich wandte mich ab und spielte mit dem Hund, wir wälzten uns im Gras, bis ich aus weiter Ferne undeutliche Rufe hörte. Die Strömung hatte dich schon weit weggerissen, ich rannte am Ufer entlang, deine Badekappe hüpfte auf und ab wie ein Ball in dem strudelnden Wasser, der Hund bellte aufgeregt, du warfst die Arme hoch, um dich dem eisernen Griff der Strömung zu entwinden, ich winkte und schrie gegen das Brüllen des Flusses an, Ufergesträuch zerkratzte mir die Arme, da erschien neben dir etwas Dunkles, die Schnauze steil aufgereckt, paddelte der Hund mit allen Kräften dem Ufer entgegen, du hast dich an seinem Halsband festgehalten und ziehen lassen, bis du wieder stehen konntest, und bist hustend und keuchend aus dem Wasser gestiegen, dein Haar klebte am Kopf, der Hund brach mit großen Sprüngen durch das hohe Gras, umkreiste uns bellend, schüttelte das Wasser aus dem Fell, setzte sich auf die Hinterbeine und sah uns aus bernsteinfarbenen Augen erwartungsvoll an.
An diesem Tag lernte ich ein neues Wort. Lebensgefahr.
Durch die Fenster flutet Nachmittagssonne, dein zimtfarbenes Haar schimmert im Gegenlicht, Schneelicht, Winterlicht. Im Radio summt leise klassische Musik, du sitzt im Sessel, den Kopf angelehnt, die Lider halb geschlossen, die weiße Stirn faltenlos, Porzellanhaut. Ein Schmetterling, eingepuppt in die Hülle einer Greisin, so sitzt du da, die kleinen Hände im Schoß gefaltet. Ich schalte das Radio aus und den Fernseher an. Hallo Deutschland, deine Lieblingssendung.
Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie lächelt mich an. Sie lockt mich, sie schneidet mir Grimassen, sie lallt und flüstert, erinnere dich, stammelt sie, damit du vergessen lernst. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich meinen Erinnerungen nicht trauen darf. Es gibt eine Kunst des Vergessens, sagt sie, wie es eine Gedächtniskunst gibt. Du musst nur wollen, du musst dir mehr Mühe geben. Das Gedächtnis arbeitet wie ein Abraumbagger, es kehrt das Unterste nach oben, es wirbelt Zeiten und Orte durcheinander, saugt Bilder Stimmen Geräusche aus der Tiefe der Zeit an die Oberfläche und transportiert sie in die Gegenwart. Erinnerungen können nur formen, was das Gedächtnis herauffördert; was es verbirgt, bleibt für immer verborgen. Erst wenn das Vergangene zu viel von der Gegenwart besetzt, greift das Vergessen ein. Hier verschwindet ein Name, an den du dich beim besten Willen nicht mehr erinnern kannst, dort ein Wort, Gesichter verblassen, dann ganze Sätze, Kapitel, bis die Seiten in deinem Lebensbuch unleserlich geworden sind. Nur manchmal noch steigen sie ungerufen aus dem Nichts herauf, herrenlose Frachtstücke aus einer anderen Zeit, Knopfschachteln und Glasmurmeln, rosa Petticoats, mit Goldflitter bestreute Glanzbildchen und der klebrige Nebel von Haarlack, der sich mit dem stechenden Geruch von Lösungsmitteln im Treppenhaus vermischt hat.
Du musst alles vergessen, hast du gesagt, sage ich, aber ich konnte nicht. Ich bin zurückgekommen. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde zurückzukommen, aus meinem untergehenden Land in die missglückte Heimat, wie oft habe ich mir ausgemalt, wie ich am Bahnhof Zoo in den Interzonenzug nach Köln steigen und, berauscht von Freiheit, die Luft eines anderen Planeten atmen würde, während vor dem Abteilfenster andere Flüsse in einem anderen Land an mir vorbeizögen. Als es dann an einem regnerischen Wintermorgen Anfang Januar endlich so weit war und ich mit rasendem Puls, den blauen Reisepass in der Hand, an den Uniformierten in ihren Glaskäfigen vorbei durch den unterirdischen Gang im Bahnhof Friedrichstraße lief und die Tür am Ende des Gangs aufstieß, das Tor in die Freiheit, da zersprang mein Herz fast vor Angst und mit jedem Schritt wurde mir beklommener zumute, als würde der Tartaros mich im nächsten Moment verschlingen, das Reich der Toten, und der Styx mich in seine Tiefe reißen, der Fluss ohne Wiederkehr, der Grenzfluss zwischen den Lebenden und den Toten.
Dein Kopf ist auf die Brust gesunken, du schnarchst leise. Der rechte Fuß ist grotesk verrenkt, deine rechte Hand liegt in deinem Schoß wie ein toter Fisch. Auf dem ovalen Couchtisch nadelt das Weihnachtsgesteck. Ich stopfe es in den Mülleimer, wische den Tisch ab und nehme eins deiner selbstgehäkelten Spitzendeckchen aus der Schrankwand. Ich breite es auf der Tischplatte aus und stelle eine leere Vase darauf. Rosige Dämmerung legt sich über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Im Zimmer ist es fast dunkel, im Fernsehen läuft ein Film über Nashörner.
Der Zug war halbleer, sage ich, das Abteil eisig kalt. Ein grauer, regnerischer Wintertag zog hinter den Zugfenstern auf, Nebelbänke verdeckten die vorbeifliegenden Dörfer und Städte und Bahnhöfe. Sieben Stunden später ratterte der Zug über die Rheinbrücke, vor dem Milchglashimmel duckte sich der Kölner Hauptbahnhof wie ein stählerner Spinnenleib zu Füßen des Doms, dessen Turmspitzen sich im Dunst verloren. Auf der Treppe zur Plattform drängte sich eine dichte Menschenmenge. Von den neben mir Gehenden hörte ich, dass zur Stunde der neue Erzbischof von Köln mit einem feierlichen Hochamt eingeführt werde. Widerstandslos überließ ich mich dem Sog der Körper, der mich durch das Hauptportal schleuste, das Kirchenschiff war grell ausgeleuchtet, es roch nach Parfüm und Weihrauch, Menschen in Pelzen und gepolsterten Jacken reckten die Hälse, um einen Blick auf den Kardinalbischof zu werfen, dessen zweispitzige Mütze neben dem goldenen Hirtenstab langsam über den Köpfen der Menge durch das Mittelschiff zum Altarraum schwebte. Unter den Klängen der mächtigen Domorgel, die in diesem Moment kantilierend einsetzte, verschmolz die wogende, dampfende Menge zu einem einzigen Körper, von dem ich, die Besucherin von einem andern Stern, ein winziger Teil war. Über mir stieg in erhabener Symmetrie das Deckengewölbe auf, als wollte es meiner unverhofften Anwesenheit an diesem Ort die Feierlichkeit eines Wunders verleihen, und war es denn nicht ein Wunder, dass ich hier war, an diesem nasskalten Dreikönigstag, den es nach allen Regeln der Vernunft für mich gar nicht geben durfte, in dieser Kathedrale, in der ich nicht hätte sein sollen, an dieser Stelle des Universums, genau unter dem Scheitelpunkt der Rippen des linken Seitenschiffs, an der meine Anwesenheit nicht vorgesehen war, in dieser Stadt am Fluss, aus der man mich vor langer Zeit vertrieben hatte.