Читать книгу Der Vorhang - Beatrix Langner - Страница 6

Mutterkind

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Ein sonniger Novembermorgen, vor mir stürzt das Land in die Tiefe, die Grube das Loch die Wunde, in meinem Rücken die letzten Häuser von Angelsdorf, im goldenen Licht glänzen Stoppelhalme über der fetten, krumigen Erde. Hier ist das Ufer. Über mir der niedrige Himmel des Nordens. Du musst alles vergessen, so lautete mein Urteil, und ich habe es versucht, ich habe sie mit der Muttermilch aufgesogen, die deutsche Krankheit, ich habe Vergessen getrunken, ich bin das vergessene Kind, der Bastard mit dem Mutternamen, euer gehorsames Hündchen, allmählich verschwimmt hinter dem dunstigen Horizont mein Jahrhundert, das Jahrhundert der Kohle und der Krematorien, Heidewitzka Herr Kapitän, ein Riss geht durch Deutschland, ich hole tief Luft und stürze mich in die Tiefe, der Rheingraben ist eingebrochen, in den Riss strömt von Norden das Meer, die Kölner Bucht läuft voll, zwischen Mönchengladbach und Koblenz breitet sich ein dreißig Kilometer weites Schelfmeer, auf der andern Seite liegt Belgien oder was davon noch übrig ist, das Ruhrgebiet ist abgesoffen, aus der Bottroper Innenstadt ragt ein Steinkorallenriff, Düren ist ein Fischerdorf am Arnoldischen Meer, am Strand von Jülich bauen braunhäutige Kinder Sandburgen, auf der Kölner Domplatte sitzen die Touristen unter Sonnenschirmen und sehen dem Platschen der Wellen zu, das keckernde Lachen einer Entenfamilie zerhackt die sommerliche Stille, unter einem ausgedehnten atlantischen Hochdruckgebiet wiegen sich Kokospalmen im Wind, Kinder lassen Segelschiffchen über die Hohe Straße gleiten, ihre Mütter sitzen auf einer Bank und erzählen den Kleineren Märchen von heiligen Männern, die in grauer Vorzeit hier Kraftwerke gebaut haben, und von den guten Riesen Zweiachtacht und Zweifünfneun, die den schwarzen Strom und den Wohlstand in die Bucht gebracht haben.

Du hast den schönsten Bauchnabel der Welt, sage ich und ziehe dir vorsichtig das Nachthemd über den Kopf. Eigentlich nur eine zarte Hautfalte, kaum sichtbar, wirklich ein Wunder der Hebammenkunst. Wenn nicht das fingerlange Schlauchstück drinstecken würde, würde man ihn gar nicht bemerken. Durch den Schlauch fließt eine milchkaffeefarbene Flüssigkeit in deinen Magen, die nach Muttermilch riecht und mir jeden Morgen von Neuem Übelkeit erregt.

Tägliche Verrichtungen. Essen, schlafen, duschen. Wer sagt mir, dass danach irgendwann noch etwas anderes kommt, das besser wäre als das hier. Jeder Tag beginnt und endet auf die gleiche Art, mit dem Blick in deine schönen leeren Augen, grüne Augen mit zarten goldenen Sprenkeln. Mit der Zeit habe ich gelernt, deine Windeln zu wechseln, dich zu waschen, die entzündeten Augen zu reinigen, die PEG zu kontrollieren, dich vom Bett in den Rollstuhl und vom Rollstuhl in den Sessel und vom Sessel wieder ins Bett zu heben, geduldig zu sein, wenn du jammerst, dich zu beruhigen, wenn du um Hilfe schreist und den Grund dafür nicht sagen kannst. Mit dem feuchten Waschlappen streife ich über Gesicht, Hals, Schultern, Arme, fädle die mageren Arme durch das Trägerhemdchen, ziehe dir den Pullover über den Kopf und kämme dein zimtfarbenes Haar, das im Morgenlicht leuchtet wie die Fresien, die es seit ein paar Tagen im Supermarkt gibt.

Schlaf noch ein bisschen, flüstere ich, ich muss jetzt arbeiten, und drücke dir einen Kuss aufs Haar.

Schade, flüsterst du und krampfst deine mageren Finger um mein Handgelenk, dass die Knöchel weiß und spitz hervortreten.

Ist ja gut, sage ich und versuche, dir meinen Arm sanft zu entwinden. Du hältst mich fest, als ich mich aufrichten will. In deiner Hand ist so viel Kraft, dass sie mich niederzwingt, erschrocken knie ich vor dir.

Ich bin doch nebenan, sage ich, du musst nur rufen.

Ist gut, flüsterst du und lässt mich frei.

Der Linienbus fuhr vom Busbahnhof hinter dem Dom, sage ich, ich erwischte gerade noch den letzten. Hinter den beschlagenen Fenstern Schwärze, es regnete noch immer, stumm reihten sich kleine Dörfer mit schmucklosen Häusern in einer endlosen Ebene, kein Baum, kein Strauch, nur vereinzelt leuchteten in der Ferne die roten Rücklichter fahrender Autos. Nach einer Stunde hielt der Bus vor dem Bahnhof von E., die Straße verlor sich im Dunkel der Felder, der Bus wendete und fuhr leer zurück. Ein paar Häuser weiter wurden an der Tür eines Lokals Fremdenzimmer angeboten. Drinnen war es laut und verqualmt, an den Tischen saßen Männer, die Unterarme auf die Tische gestemmt, der Wirt trocknete sich die Hände an dem fleckigen Geschirrtuch am Gürtel, auf dem Fernsehbildschirm über den Köpfen lief Fußball, ich fragte nach einem Zimmer, von der Antwort verstand ich nur so viel, dass er nicht mehr vermiete, ich solle im Rheinischen Hof nachfragen, dat kansse ze Fohß jänn, Meechen, de Stroos runner, ich bedankte mich und lief los, eng an den einstöckigen, braun verkachelten Häusern entlang. Mit feinen Nadeln stach der Regen ins Gesicht, eisiger Wind riss an den Ohren. Niemand war mehr unterwegs, wie ausgestorben die Straße, die sich schwarzglänzend unter meinen Schritten hinzog. Hier war es. Kino, Rheinischer Hof und daneben das Kleine Kaufhaus mit dem großen Schaufenster, unser Laden, das einzige Haus in der Straße, das statt der braunen Kacheln am Erdgeschoß einen weißen Anstrich trug. Alles war noch genau so, wie ich es mir in all den Jahren meiner Abwesenheit vorgestellt hatte, sogar der rote Kaugummiautomat hing noch immer neben der Ladentür, wie in Bernstein gegossen, konserviert für die Ewigkeit. Nur die eisernen Säulen, die den schmalen Gehweg markierten, säumten als Grenzpfähle der Gegenwart, wie mir das Gedächtnis zuverlässig meldete, die Straße, hinter der einmal die fremden Städte lagen und die Kindheit endete.

Das Hotel war verschlossen. Ich drückte die Nachtklingel; nach einigen Minuten öffnete ein Mann. Mürrisch ließ er mich eintreten, nachdem er überall Licht gemacht hatte. Im Schankraum, der zugleich Hotellobby war, roch es nach Bier und kaltem Zigarettenrauch. An einer Wand hingen hinter Glas Fotos von Karnevalsprinzen. Ich legte meinen Pass auf den Tresen, der Mann blätterte ratlos darin herum und verlangte dann, dass ich sofort bezahle; gehorsam zog ich meinen einzigen Fünfzig-D-Mark-Schein hervor und reichte ihn ihm.

Dat is aber ohne Frühstück, brummte er und steckte den Schein achtlos in seine Hosentasche.

Kein Problem, sagte ich, nahm meine Tasche und stieg die Treppe hinauf. Hinter mir erlosch das Licht, eine Tür schlug, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, ich war allein. Im Zimmer brannte eine nackte Glühbirne an der Decke, im Nachttischschränkchen lag, in schwarzes Kunstleder gebunden, ein katholisches Gebetbuch. Schrank, Bett, Nachttische, zwei Stühle, alles helle Esche oder Birke, frühe sechziger Jahre, Gelsenkirchener Barock, das zwanzigste Jahrhundert war hier vor langer Zeit eingedöst. Ich stellte die Tasche ab, wusch Gesicht und Hände über dem kleinen Waschbecken und zog die Gardine zurück, das Fenster ging auf einen kleinen Garten mit niedrigen Obstbäumen, so viel war in der Dunkelheit zu erkennen. Es war noch zu früh zum Schlafen, ich war hungrig, das Zimmer war ungeheizt, also behielt ich den Mantel an und ging durch das kalte, stille Haus noch einmal hinunter auf die Straße. Es nieselte. An manchen Hauseingängen blieb ich stehen, berührt von dem einen oder anderen heranwehenden Gesicht, einer Straßenflucht, einem Zimmer mit Blick auf ein Vorgärtchen, die wieder verschwanden, ohne deutlich zu werden. Etwas fehlte. Kein inneres Bild wollte sich einstellen, das meine eigene Anwesenheit an diesem Ort, in dieser Straße beglaubigt hätte.

Ich bog in eine Seitenstraße ein, unversehens wuchs vor mir die Masse der katholischen Kirche in den diesigen Himmel, an deren eine Seite sich der rote Backsteinbau der alten Volksschule lehnte. Durch die Schraffur des Regens, der wieder stärker geworden war, sah ich das Klassenzimmer mit den hohen Fenstern, die Bank ungefähr in der Mitte, meine Bank, das schräge Pult aus speckigem Holz, darauf die Schiefertafel mit dem Schwämmchen, den hölzernen Griffelkasten, ich hörte, wie der Schiebedeckel scharrte, dieses herrliche Geräusch, bevor die Griffelspitze sich auf die Tafel senkt, ich erkannte meinen Griffel, schiefergrau mit einer Binde aus Papier, ich sah die Weidengerte in der Hand des Lehrers, ich hörte das Sirren der Luft, aber ich sah nicht das Kind, nicht die vorgestreckten Handflächen. Es ließ sich nicht blicken. Es musste aber doch hier gewesen sein, vielleicht stand es neben der Tafel, verdeckt von dem Kartenständer mit der großen Landkarte von Deutschland, diesem von blauen Schlangenlinien geäderten, mit Gebirgsrippen durchzogenen buntscheckigen Gebilde, im Norden grün, in der Mitte gelb, grün und braun und nach Süden immer brauner, vielleicht hatte der Lehrer es wieder in die Ecke gestellt, Gesicht zur Wand. Es war nicht da. Meine Erinnerung ließ mich im Stich, sage ich, ausradiert, ausgelöscht das kleine Mädchen, das ich doch zweifellos einmal gewesen sein musste, aus dem Bild getilgt, als hätte es dieses Kind nie gegeben. Meine Kindheit war ein leerer Brunnen.

Durch die halboffene Tür sickert stoßweises Wimmern. Du rufst nach mir. Von draußen sind spielende Kinder zu hören, ihr Lachen treibt in kleinen Strudeln durch den Abend. Das Rufen wird lauter, energischer. MAMA, immer wieder diese beiden langgezogenen Silben. MA-MA. Ich öffne leise die Tür, setze mich an dein Bett und streichle beruhigend deinen Handrücken. Das musst du dir mal vorstellen, sage ich, die Straße und alles andere, das war alles noch da, Kirche, Schule, Häuser, Leuchtreklamen, Schaufenster, als wären wir nie weggegangen aus diesem Dorf in der Rheinischen Bucht, nur mich hatte man herausgeschnitten. Auf dem Rückweg zitterte in den schmutzigen Pfützen der mattrote Widerschein der Leuchtbuchstaben über der Sparkasse, aber dieses schwache Leuchten genügte, und in derselben Sekunde durchfuhr mich eine heftige Sehnsucht nach einem dieser heißen Sommertage zwischen Zuckerrübenfeldern und Kühltürmen, wenn die weiche Luft wie ein Streicheln den erhitzten Körper umströmte und der herbe Geruch von Heu in der Nase kitzelte und von den Hängen der Rureifel die Wildbäche rauschend hinunterstürzten und die ganze Welt atmete und bebte wie ein großes warmes Tier. Und als ich eine Viertelstunde später, zurück im Rheinischen Hof, unter das klamme Federbett kroch und vor Hunger nicht einschlafen konnte, da stand es auf einmal wieder klar und deutlich vor mir, das lange vergessene Wort, innen an die Augenlider geschrieben, LEBENSGEFAHR. Es hatte also all die Jahre still gewartet, um diesen einen Tag am Fluss für immer im Gedächtnis festzuhalten, eingeschlossen in diesem Wort.

Der Vorhang

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