Читать книгу Der Vorhang - Beatrix Langner - Страница 8

Wabi-Sabi

Оглавление

Es ist kühler geworden, die Schatten verdichten sich, immer tiefer sinke falle stürze ich hinab, zum Ursprung der Wörter, ich bin zurückgekommen, aus meinem verschwundenen Land in die missglückte Heimat, doch wie weit ich auch komme, steht mir das Kind im Weg, das nach sich fragt, das vergessene Kind, zwischen der Erinnerung und dem Text, der ihm nachruft, mäandernd zwischen dem Körper der Schrift und dem Begehren nach einer lebendigen Berührung, rückwärts durch die Zeit graviere ich mich in die Haut der Erde, ich bin noch nicht geboren, nichts deutet auf einen Ursprung oder Anfang, ich bin das ungeborene Kind, das Kind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, das vergessene Kind, auf seinem Fahrrad biegt es Richtung Angelsdorf ab, hinter den letzten Häusern springt es vom Rad, wirft die Sandalen in den Sand, rennt barfuß übers Feld, die Halme pieken, sie bohren sich schmerzhaft in die Fußsohlen, es ist schön, auf dem Heuturm zu sitzen und den Schmerz zu fühlen und die Hitze auf der Haut, und unter sich die goldglänzenden Stoppeln zu betrachten und über dem Wald der Wolkenatem der Kühltürme, du darfst vergessen, sagt das Kind, du bist nicht wirklich hier, ich erinnere mich an alles, ich bin, die du nie warst, ich bin der Text, der sich selber schreibt, ich schreibe mit kölnischem Umbra, mit meiner Kopfschrift Gedankenschrift Wolkenschrift schreibe ich an gegen die Diktatur der Zeit.

Hier ist die Grenze, das känozoische Ufer des Jetzt.

Eine dicke Stubenfliege taumelt seit Stunden im Kreisflug um die Deckenlampe, rast steil hinauf, stößt sich an Fensterleibungen, Schränken, Glasscheiben, ruht für Minuten aus, um erneut aufzusteigen, ich gehe in die Küche, um ein Stück Würfelzucker zu holen; früher sollen die Bauern auf diese Art ihre Fliegen durch den Winter gebracht haben. Es ist kein Würfelzucker da, also streue ich etwas losen Zucker auf die Untertasse und nehme noch zwei Stück weißen Kandis mit. Als ich zurück in dein Zimmer komme, ist alles ruhig. Von der Fliege keine Spur. Ich frage mich, ob sie von draußen kam oder schon den ganzen Winter, in einem Fensterspalt versteckt, mit uns gelebt hat. Die milde Luft irritiert sie vielleicht. Seit Tagen fliegen Wildgänse in Formationen über das Haus, eigentlich Zeichen des nahenden Frühlings. Aber der Wetterbericht sagt für das Wochenende die nächste Kälte voraus.

Im Grunde liegt mir nicht viel an Erinnerungen, sage ich, aber ich hänge an alten Sachen, ich hebe alles auf, in Kästen und Kartons türmt sich der Abraum meiner Lebenszeit über- und durcheinander, Hotelservietten aus Paris, München, Rom, Zeichnungen meiner Kinder, handgeschriebene Bahnfahrkarten, Theaterprogramme; Briefe Geliebter und Verstorbener. Oft träume ich von verlassenen Häusern, in einem davon gibt es ein Zimmer, das die Form eines U hat und sich fast um das ganze Haus zieht, mehr ein breiter Gang mit Fenstern als ein Zimmer. Ich gehe darin herum und sehe alles an wie eine Museumsbesucherin, alte Fotografien in kostbaren Rahmen, Porzellanfiguren, bestickte Kissen aus dunkelrotem Samt mit gelben Troddeln, dazwischen liegen Kleidungsstücke unordentlich verstreut herum, auf dem Tisch eine aufgerissene Kekspackung, so als hätten die Bewohner das Zimmer nur kurz verlassen. Durch eines der Fenster sehe ich auf eine Wiese mit Wäschetrockenplatz und einem kleinen Stallgebäude, davor steht eine Bank, auf der Bank sitzt ein alter Mann in einem rosa Hemd und raucht, den Blick versonnen in die Landschaft gerichtet, ringsum erstrecken sich blühende Wiesen, begrenzt von einem dunklen Waldsaum. Ich benutze das Zimmer nicht, mir genügt zu wissen, dass es da ist, seit Jahren unverändert, wie meine Vorgänger es verlassen haben. An einer der Wände hängen Uhren, viele Uhren in verschiedenen Formen und Größen; alle Zeiger stehen auf viertel nach neun, jedesmal, wenn ich von diesem Zimmer träume, zeigen alle Uhren exakt dieselbe Zeit an.

Vielleicht trägt jeder in seinem Leben so ein leeres Zimmer mit sich herum, sage ich. Ich wünschte nur, eines der Häuser, in denen ich im Traum so oft herumgehe, hätte wenigstens einen Dachboden, mit staubigen Koffern und Truhen mit verrosteten Schlössern, in denen ich nach Herzenslust wühlen könnte zwischen nach Lavendel duftenden Briefpäckchen, die von blassblauen Schleifen zusammengehalten werden, verrosteten Orden, geheimnisvollen alten Büchern in dicken Ledereinbänden, vergilbten Briefen mit roten Wachssiegeln, aus der Mode gekommenen Frauenkleidern oder was man sonst so auf einem Dachboden zu finden hoffen kann, aussortierte Lebenszeit, schäbiges Inventar zu groß bemessener Lebenspläne, von Selbstmörderinnen und gescheiterten Dichtern zurückgelassen, von Mäusen zernagt, Wabi-sabi, als könnte eine geliehene Vergangenheit einen für ein schlechtes Gedächtnis entschädigen.

Wenn ich vorhin sagte, sage ich, dass mir nichts an meinen Erinnerungen liegt, stimmt das also nicht ganz. Ich wollte damit sagen: Erinnerungen können täuschen, sie sind alles andere als fälschungssicher, man kann ihnen nicht trauen. Manchmal mache ich mir sogar Sorgen, meine Erinnerungslosigkeit könnte das erste Anzeichen einer Krankheit sein, die irgendwann zum vollständigen Verlöschen des Ich führen wird. Sagt man nicht, die Identität einer Person beruhe auf ihren ganz unverwechselbaren, einmaligen, persönlichen Erinnerungen? Wie die meisten Menschen kann ich mir eine Welt ohne mich schwer vorstellen. Wir datieren den Anfang unseres Lebens auf den Tag unserer Geburt; was davor liegt, bleibt unscharf wie ein verwackeltes Foto. Wer sagt mir denn, dass die Bilder in meinem Kopf mein Eigentum sind und nicht einer Romanfigur oder einem mir vollkommen unbekannten Menschen gehören, der mich auf dem Bahnsteig einer fremden Stadt in ein Gespräch verwickelt hat – als wären Erinnerungen etwas, das den Besitzer wechseln kann wie eine stumpf gewordene Perlenkette oder eine alte Uhr. Wie vertrauenswürdig sind die Geschmackspapillen eines französischen Schriftstellers der vorletzten Jahrhundertwende, der aus den Molekülen einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine, die ihm Maman abends vor dem Schlafengehen gereicht hat, das tausendseitige Epos seiner verlorenen Jugend generiert haben will, bis in alle Einzelheiten der Tapetenmuster und Plisseefalten raschelnder Damenkleider? Was mich betrifft, habe ich nie verstanden, wie man sich nach etwas sehnen kann, das so unwiederbringlich verloren ist wie die Kindheit; wir lassen sie hinter uns wie eine Larve, ein durchsichtiges Gespenstchen; der Mensch platzt aus seiner Raupenhaut und fertig. Wie oft im Leben ändern wir uns noch, man muss davon nicht viel Aufhebens machen. Jede glückliche Kindheit ist nur die millionste Wiederholung anderer glücklicher Kindheiten, jede unglückliche wiederum ist es wert, vergessen zu werden.

Was ist das überhaupt, Kindheit, dieses geheimnisvolle Land, in dem die Dinge noch keine Namen haben und die Welt nichts ist als reine, unbeschriebene Fläche, in die sich die Wasserzeichen eines Sommernachmittags eingelassen haben, flackernde Lichtflecken auf Ziegelmauern, schattige Obstgärten, Leuchtschrift einer ewigen Gegenwart, aus der wir abends im Bett, wenn sich das Klacken der Absätze verspäteter Passanten wellenförmig in den vor Müdigkeit brennenden Gliedern ausbreitete, geheimnisvolle Signale empfingen, Morsezeichen aus einem unbekannten Universum, dessen nächste Sterne noch Millionen Lichtjahre entfernt waren. Als gebe es kein Innen, sind die Segel des Bewusstseins noch nicht aufgespannt, unberührt von den Rückspiegeln der Erinnerung, noch nicht in die Zukunft gerissen von der Zugluft der Hoffnungen. Diese Lust, zurückzukehren in das Paradies der unschuldigen Wörter, sie ist mir fremd, dieses Begehren nach einem anderen Körper, nach einem Ich jenseits des Selbst, das nur eine andere Art von Selbstliebe zu sein scheint. Wer sich erinnert, ist beteiligt. Es gibt keine unschuldige Erinnerung, wie es kein Vergessen gibt ohne den verborgenen Wunsch zu vergessen.

Der Vorhang

Подняться наверх