Читать книгу Sünde - Ben Bennett - Страница 6
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ОглавлениеAls Hannah vier Tage später eine Benachrichtigung von UPS in ihrem Briefkasten fand, dass man vergeblich versucht hatte, ihr eine Sendung zuzustellen, war ihr klar, dass sie nicht geträumt hatte.
Sie beschloss, sich gleich nach ihrer Schicht darum zu kümmern.
Es handelte sich um einen großen, braunen, sorgfältig verschlossenen Umschlag. Er lag den ganzen Abend unangetastet auf dem Küchentisch. Bis sie es endlich wagte, ihn zu öffnen.
Es war bereits kurz vor Mitternacht.
In seinem Inneren befand sich ein weiterer Briefumschlag – dieser war weiß, fühlte sich seidig an und auf ihm stand in einer geschwungenen Handschrift ihr Name geschrieben:
Hannah Goldlaub.
Ergänzt um den Zusatz: persönlich.
Er enthielt ein handschriftliches Anschreiben auf einem edlen, beinahe königlich wirkenden Briefbogen mit dem gestanzten Wappen Juwelier Schön & Söhne, ergänzt um einen handlichen Reiseführer über Wien, ein Business Class Flugticket der Austrian Airlines von Buenos Aires nach Wien und zurück, eine Buchungsbestätigung für das Fünfsterne-Hotel Sofitel Vienna Stephansdom sowie – dreitausend Euro in bar! Was umgerechnet der Jahresmiete ihres Apartments entsprach.
Hannahs Herz raste. Was ging hier vor sich?
Was sollte sie jetzt tun? Was hätte ihre Mutter gemacht?
Nun, wahrscheinlich hätte sie alles ignoriert. Einfach nicht reagiert. Außer mit Schweigen. So wie sie ihr Leben lang ihre Herkunft und ihre Vergangenheit totgeschwiegen hatte – abgesehen von der deutschen Sprache, die ihr in die Wiege gelegt worden war. Sobald sie jedoch jemanden in Buenos Aires Deutsch sprechen hörte, war sie augenblicklich in eine Art Schockstarre gefallen. Tief verborgen in den Gründen ihrer Seele, für immer eingeschlossen von den Wänden ihres Herzens, loderte ein unheilbarer, stiller Schmerz. Es war ein Herz, für das es keinen Schlüssel gegeben hatte. Keine Tür, die sich auch nur einen Spaltbreit öffnete, damit der Schmerz entkommen konnte. Jeden Tag ein wenig und in kleinen Dosen, bis das Herz eines Tages wieder halbwegs intakt war. Doch alles, woran das Herz ihrer Mutter sich ein Leben lang hatte wärmen können, war eine Decke aus Schweigen gewesen.
Hannahs Blick fiel durch das von einer schmalen, weiß lackierten Holzleiste exakt auf halber Höhe in zwei Hälften geteilte Fenster hinunter auf die Straße. Genau hier, im Salon mit dem kleinen Erker, hatte Esther oft gestanden und durch die schweren, nur einen winzigen Spalt weit geöffneten Vorhänge hinaus gespäht. Allein auf diese Weise, als anonyme Zeugin und Beobachterin, im sicheren Schatten ihrer Wohnung, war es ihr möglich, an dem Leben teilzuhaben, das sich dort unten abspielte. Das Leben, vor dem sie sich versteckte.
Der Salon lag im Halbdunkel, erleuchtet nur durch das von außen eindringende glutgelbe Licht der Straßenlaternen und von den sanft aufflackernden, beinahe vollständig heruntergebrannten Kerzen, die Hannah am frühen Abend angezündet hatte.
Für einen Moment glaubte sie, das Spiegelbild ihrer Mutter im Küchenfenster zu sehen. Sie stand direkt hinter ihr, blass und durchsichtig. Ihr Blick war auf den Briefumschlag gerichtet. Es war ein müder Blick, so wie der eines Menschen, der bereits vor langer Zeit Hoffnung als eine überbewertete Währung enttarnt hatte.
„Auch Geschenke haben ihren Preis, mein Schatz. Du musst mir versprechen, vorsichtig zu sein. Versprichst du mir das?“
Hannah drehte sich um. Doch Fehlanzeige. Niemand da.
Nach ihrem Tod war es schon einige Male vorgekommen, dass sie sich eingebildet hatte, Esther zu sehen. Sie war die engste Bezugsperson in ihrem Leben gewesen, fast vier Jahrzehnte lang. Die Wohnung war untrennbar mit ihr verbunden. Offensichtlich hatte sie dieses Zuhause auch ein Jahr nach ihrem Tod noch nicht endgültig verlassen. Jedenfalls nicht für Hannah.
Einen Augenblick überlegte sie, das Geld einfach zu behalten. Um wie vieles einfacher würde es ihr Leben machen – vor allem in ihren jetzigen Umständen.
Doch dafür war es bereits zu spät.
Diese Menschen wussten nun, wo sie arbeitete und wo sie wohnte.
Während die Panik erneut in ihr aufflackerte, nahm sie den Briefbogen zur Hand und überflog nervös das in eleganter Schrift mit einem Füllfederhalter verfasste Anschreiben bis zum letzten Satz.
„Liebe Hannah Goldlaub: Ich freue mich darauf, Sie schon bald kennenzulernen und Ihnen die guten Nachrichten Ihr Erbe betreffend persönlich zu überbringen.
Mit freundlichen Grüßen aus Wien nach Buenos Aires,
Ihr Maximilian Schön.“
Maximilian Schön. Offenbar war er der Inhaber des Wiener Juweliergeschäfts, von dem Ludwig Leonhard, der Anwalt, gesprochen hatte.
„Herr Schön lädt Sie ein, die Details mit ihm persönlich in Wien zu besprechen.“
Das waren seine Worte gewesen.
Nachdenklich fuhr Hannah mit den Fingern über das edle, seidene Papier. Als könne sie es auf diese Weise zum Sprechen bringen.
Ihr Blick fiel auf das Bündel frischgedruckter grüner und goldgelber Geldscheine, das Business Class-Flugticket, den Reiseführer und die Zimmerreservierung für eines der feinsten Wiener Hotels, in dem sie bis heute überglücklich gewesen wäre saubermachen zu dürfen – und in dem sie nun als Gast residieren würde.
In einer Suite.
All das erschien ihr wie ein Traum. Auch wenn es fast zu schön war, um wahr sein zu können. Denn natürlich war es auch ihr nicht entgangen: Dass das Leben eine stete Mahnung war, dass Träume nicht wahr werden. Und wenn sie wahr wurden, waren es in aller Regel Albträume. So war es nicht nur den Träumen ihrer Mutter ergangen. Und doch: Wer war sie, dass sie ein solches Angebot ausschlagen konnte? Wenn sie den Inhalt dieses geheimnisvollen Umschlags aus Wien nicht ernst nahm, so mysteriös er auch war, würde sie, die Kopie ihrer Mutter, weiterhin so leben und eines Tages so sterben wie das Original: Arm, einsam und unglücklich.
Möglicherweise war es an der Zeit, ihre Sachen zu packen und sich auf den Weg nach Pitchipoi zu machen – so sagte man auf Jiddisch, wenn man zu einem unbekannten Ort aufbrach.
Mit einem entschlossenen Ruck zog Hannah den alten Schrank auf, auf dessen oberster Borte sich ein verstaubter alter Lederkoffer befand, der Esther gehört hatte und den sie selbst noch nie in ihrem Leben benutzt hatte.
Denn sie war noch nie verreist.