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Es war kein Geheimnis.

Sie hatte es akzeptiert, wie andere Menschen ihre Sommersprossen akzeptierten, ihre zu groß oder zu schief geratene Nase oder ihre unstillbare Sehnsucht nach Patatas Bravas.

Hannah war mit einer elektronischen Fußfessel geboren worden.

Einer unsichtbaren elektronischen Fußfessel, um genau zu sein.

Sie konnte Buenos Aires einfach nicht verlassen. So sehr sie es auch wollte. Schon einige Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, aber irgendetwas hatte sie letzten Endes immer daran gehindert. Als fürchte sie, es könne irgendwo ein Alarm losgehen, sobald sie die Stadtgrenzen hinter sich ließ. Sie war eine Porteña, wie sie im Buche stand – so nannten sich die Eingeborenen von Buenos Aires.

Wozu vereisen? Erstens hatte man kein Geld dafür, und zweitens lebte man in einer Stadt, die überall auf der Welt bekannt war als das Paris Südamerikas. Im richtigen Paris war Hannah zwar noch nie gewesen, aber schöner als Buenos Aires konnte es unmöglich sein. Sie liebte den Tango – und Buenos Aires war nun mal die Welthauptstadt des Tango. Sie liebte das Theater – und Buenos Aires hatte so viele Theatersäle wie keine andere Stadt auf dem Globus, mehr sogar als New York oder Paris. Das jedenfalls hatte Hannah in einem Magazin gelesen. Viele dieser Theater lagen an der berühmten Straße, die niemals schläft: Der Avenida Corrientes, auch bekannt als der Broadway von Buenos Aires. Und noch einen anderen, überaus bemerkenswerten Rekord hielt ihre Stadt: Zu Füßen des berühmten Obelisken floss die Avenida 9 de Julio dahin, die breiteste Straße des Planeten Erde.

„Auf keinem anderen Fluss auf diesem Kontinent schwimmen so viele Bäume ohne Wurzeln“, hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Damit spielte sie auf die jüdische Gemeinde in Buenos Aires an – den nächsten Rekord. Sie allein bildete eine Stadt mittlerer Größe und war die größte in Lateinamerika.

Ein Mitglied dieser Gemeinde war sie, Hannah.

Ein anderes Mitglied war ihre Mutter gewesen, deren Überreste auf dem Friedhof von Recoleta begraben lagen – dort, wo auch Evita Perón ihre letzte Ruhe gefunden hatte.

Es war ein unwirklich stiller, in ein überirdisch sanftes Leuchten getauchter Sonntag gewesen, an dem Esthers Seele endlich ihren Körper verlassen hatte dürfen. Ein Körper, den eine fatale Mischung aus Angst, Verzweiflung, Einsamkeit und Nikotin über die Jahrzehnte ausgezehrt und schließlich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte – mehr noch als der Krebs, der nur noch das genommen hatte, was übrig war von dieser einst wunderschönen Frau.

Wunderschön und doch vom Glück verlassen.

Das wenige Glück, das ihr beschieden war, schien ihr zeitlebens durch die Finger zu laufen wie feiner Sand. Sie war schlichtweg unfähig gewesen, es festzuhalten.

„Auf mir liegt ein Fluch“, hatte sie Hannah mit sterbend leiser Stimme mitgeteilt, ein Schatten ihrer selbst, eingehüllt in Krankenhausbettlaken, kurz bevor sie gegangen war. „Ich wünsche dir eines von ganzem Herzen, mein Schatz: Dass dieser Fluch nicht ansteckend ist.“

Zuletzt war sie der festen Überzeugung gewesen, dass es ihr Schicksal gewesen wäre, als kleines Mädchen mit ihren Eltern zu sterben. Mit Eli und Rosa. Dass es die Schuld des argentinischen Kindermädchens war, dass sich ihr Leben so entwickelt hatte.

„Sie hat alles vermasselt …“ Esther hatte es mit tränenerstickter Stimme gesagt, als wäre es verglichen mit dem Leben, das sie geführt hatte, eine Gnade gewesen, als Kind in einem Konzentrationslager zu sterben. Hand in Hand mit ihren Eltern. Ermordet, aber wenigstens nicht allein.

Alles muss so schnell gegangen sein, dass sie sich kaum noch daran erinnerte. Nur selten erzählte sie davon.

Ihre Kindheit lag hinter ihr wie ein böser, dunkler Traum, gehüllt in dichte Nebelschwaden des Vergessens. Die Verhaftung der Eltern, während sie mit dem Kindermädchen in der Stadt unterwegs war. Die panische, überstürzte Flucht nach Argentinien an der Hand dieses letzten ihr vertrauten Menschen, der ihr von einem Moment auf den nächsten noch geblieben war. Die Ankunft auf einem anderen Kontinent, wo sich keineswegs alles zum Guten wandelte, sondern sie von einer Hand, die sie nicht füttern konnte, in die nächste wanderte.

Hinter dem Lederkoffer, den Hannah mit langen Fingern auf Zehenspitzen von der obersten Borte des Schrankes gefischt hatte, hatte sie das Fotoalbum wiedergefunden, überzogen von feinem Staub.

Das Familienalbum.

Sie hatte es seit der Beerdigung nicht mehr angesehen – aus Angst, sich darin zu verlieren. In Bildern einer Vergangenheit, die noch nicht lange genug vergangen war, um sie loslassen zu können.

Wie schön ihre Mutter gewesen war: Ihre Gesichtszüge waren außergewöhnlich fein und elegant geschnitten. Ein wenig ähnelte sie Romy Schneider. Sie hatte denselben magischen Glanz in ihren Augen, die auf den Schwarz-Weiß-Fotos fast silbern wirkten und den Betrachter anzogen wie ein Magnet.

Es war kaum möglich, den Blick abzuwenden.

Und das, obwohl sie niemals lachte. Auf keinem einzigen der Fotos.

Im Gegensatz zu ihr selbst. Sie lachte gern.

Sie konnte es nur von ihrem Vater geerbt haben: das Talent zum Glücklichsein. Obwohl sie laut Kontostand arm war, fühlte Hannah sich reich. Ja, sie war ein reicher Mensch. Reich an Wundern, die sie jeden Tag auf ihr Lebenskonto einzahlte – wie die ersten Strahlen der aufgehenden Morgensonne, die in aller Herrgottsfrühe aufmunternd in ihr Zimmer blinzelte. Das fröhliche Trällern des Singvogels, der sich an diesem Morgen mutig und zu allem entschlossen auf ihr Fensterbrett gesetzt hatte und um ein Haar durch die in den Raum wehenden Vorhänge zu ihr ins Zimmer geflogen wäre. Der Schmetterling, den sie wenig später aus dem Badezimmerschrank befreit hatte, in den er sich in der Nacht zuvor verirrt hatte. Ein Schmetterling, der eigentlich ein Nachtfalter war, wenn nicht gar eine Motte. Und doch: Auch er verdiente ein gutes Leben.

Der verheißungsvolle Duft und der erfüllende Geschmack des ersten Schlucks Kaffee in dem kleinen Café unter ihrer Wohnung, kurz bevor sie zur Bushaltestelle ging, um zur Arbeit zu fahren. Der junge Busfahrer mit dem charmanten Lächeln, der beim Einsteigen den Blick nicht von ihr wenden konnte.

Ja, sie war reich. Mit all diesen wunderbaren Augenblicken, die sie täglich auf ihr Lebenskonto einzahlte.

Abgesehen von ihren ungleich verteilten emotionalen Kontoständen jedoch ähnelten sie und ihre Mutter einander wie ein Ei dem anderen. Fast so, als wäre nie eine dritte Person im Spiel gewesen. Eher schon ein Kopiergerät, das detailgenaue Kopien produzierte.

Und dass sie die Kopie eines schönen, aber scheuen Rehs war, machte Hannah das Überleben nicht leichter. Denn daran, dass sie zwei scheue Rehe waren, die auf ihrem Weg durch den gefährlichen, dunklen Wald des Lebens auf jeder Lichtung angespannt in alle Richtungen spähten und beim kleinsten Geräusch zurück ins sichere Unterholz sprangen, bestand nicht der geringste Zweifel.

„Vergiss nie, woher du kommst“, hatte Esther ihr eingeschärft. „Wir Goldlaubs sind Fluchttiere.“

Hannah war durchaus klar, dass sie dasjenige von den beiden Rehen war, das möglicherweise einen Moment zu lange auf der Lichtung verweilen würde – weil eine angeborene Neugier und Lebensfreude sie dort für einen erhebenden und gleichzeitig lebensgefährlichen Augenblick zu lang festhielten.

Sie war das Reh, das als erstes von der Kugel des Jägers getroffen würde.

„Peng!“

Ihre Mutter hatte diese Warnung nicht aussprechen müssen, aber Hannah hatte sie in ihren Augen lesen können. Es war mehr eine düstere Prophezeiung gewesen als eine Warnung, eine apokalyptische Vision, die unausgesprochen zwischen ihnen im Raum stand. Wenn man so lange mit einem Menschen zusammenlebte wie sie mit Esther, begann man zu verschmelzen. Gedanken zu lesen, auch ohne Worte.

Doch nun war eines der beiden Rehe nicht mehr da und das andere, das unerfahrenere und gefährdetere der beiden, war allein zurückgeblieben.

Es war still geworden, noch stiller als üblich jedenfalls, in der geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung im Künstlerviertel La Boca, dem Geburtsort des Tangos, berühmt für sein quirliges Nachtleben und die bunten Fassaden der Häuser. Ein für ihre Verhältnisse wahrlich märchenhaftes Zuhause.

Märchenhaft und eigentlich unbezahlbar.

Nicht mit dem bescheidenen Gehalt, das sie mit ihrer Arbeit im Hotel verdiente. Aber sie und ihre Mutter wohnten hier bereits seit Jahrzehnten – und so war die Miete bis zum heutigen Tag kaum höher als die für ein Ein-Zimmer-Apartment in einem der trostlos anonymen Neubauviertel am Stadtrand.

Auch das machte sie zu einem reichen Menschen. Dass sie hier leben durfte.

La Boca – der Mund – war Hannahs Tor zur Welt da draußen. Ein Viertel, das von den Geräuschen lebte, die in allen möglichen Tonfarben und Tonlagen aus unzähligen Mündern zu ihr herauf schwirrten. Hannah liebte es, das Leben unten auf der Straße zu beobachten. Und daran teilzunehmen – je älter sie wurde, desto mehr. Das traurige Leben und der noch traurigere Tod ihrer Mutter hatten ihr gezeigt, dass es wichtig war, von Zeit zu Zeit einen mutigen Schritt hinaus in diese Welt zu wagen anstatt sie nur aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Wie gesagt: Sie war das mutigere der beiden Rehe.

Oder das unvorsichtigere, je nachdem.

Eine alte Familientradition in den Wind schlagend hatte sie beschlossen, dem Leben eine Chance zu geben. Und nicht, sich vor ihm zu verstecken, bis es endlich vorbei war, mit all seinen Schrecken.

So wie Esther es getan hatte. Seit den Bombenanschlägen auf die jüdische Gemeinde in den Neunzigern verschanzte sie sich praktisch in der Wohnung. Und verfolgte das Leben draußen vor ihrem Fenster nur noch als Zaungast.

Wie zum Ausgleich für dieses Defizit an Lebensfreude hatte sie sich einige merkwürdige Macken zugelegt:

Eine davon war vorsätzliches Frieren.

Selbst zu Weihnachten – im argentinischen Hochsommer also – trug sie noch einen Rollkragenpullover und hüllte sich in eine der unzähligen Wolldecken, die über die ganze Wohnung verstreut waren. Mit Hilfe der Klimaanlage kühlte sie das Apartment so herunter, dass man zu jeder Jahres- und Tageszeit das Gefühl hatte, nicht in Südamerika, sondern in Sibirien zu sein. Die Klimaanlage schloss die Wärme aus, die Vorhänge die Sonne. Ihre Haut war bis zum letzten Tag so weiß wie feinstes Meißner Porzellan geblieben, und das, obwohl sie ihr Leben an einem subtropischen Ort verbracht hatte.

Überhaupt: Weiß. Zuletzt hatte sie nur noch weiße Gewänder getragen.

Weiß wie das Licht, in dem sie sich schließlich auflöste.

Sicher: Das Leben war schmerzvoll. Für manche Menschen mehr, für andere weniger. Für Esther war es sehr schmerzvoll gewesen, Hannah verstand sie nur zu gut. Aber hieß das, dass man aufgeben sollte? Dem Leben Adios zu sagen, ohne es gelebt zu haben? Es ungelebt zurückzugeben wie ein originalverpacktes Geschenk? Um sich im sicheren Halbdunkel hinter zugezogenen Vorhängen zu verstecken? Unter sich die pulsierenden Adern einer Metropole, die niemals schläft – das Orchester des Lebens, dessen Klang gedämpft durch das verschlossene Fenster weht. Was blieb einem dann noch, außer dem Fernseher als einzige, sichere Verbindung zu der Welt da draußen?

Nein. So konnte und wollte Hannah nicht leben.

Nachdem sie das Fotoalbum wieder an seinen Platz gebracht hatte, warf sie einen Blick in ihren jungfräulichen Reisepass. Er war noch gültig und glänzte wie nagelneu.

Wenn Esthers ständige Panik etwas Gutes gehabt hatte, dann das: Sie hatte ihr eingebleut, ihre Ausweispapiere unter keinen Umständen zu vernachlässigen. Sie immer aktuell und griffbereit zu haben. Für den Fall, dass sie fliehen würde müssen.

Hannah hatte ihren Rat zwar verstanden, nach allem, was ihre Mutter durchgemacht hatte. Wirklich ernst genommen jedoch hatte sie ihn nicht. Aber jetzt war es gut. Denn so konnte sie bereits nächste Woche nach Wien fliegen. Alles war in bester Ordnung.

„Pass gut auf dich auf“, hätte Esther gesagt. „Und verlier nicht den Kopf.“

Als lauere hinter jeder Ecke ein Henker auf der Suche nach Arbeit.

Sünde

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