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ОглавлениеDas also war der Mann, mit dem sie die Nacht verbringen würde.
Er hatte volles, silbergraues Haar und trug ein sorgfältig gebügeltes weißes Hemd. Seine Hände waren gepflegt, und zwischen seinem linken Handgelenk und der Hemdmanschette tickte so lautlos wie selbstverständlich eine Schweizer Automatikuhr. Hannah schätzte ihren Sitznachbarn auf etwa siebzig Jahre. Vor ihnen lagen lange Stunden – den Nachtflug von Buenos Aires über Frankfurt nach Wien als eine halbe Weltreise zu bezeichnen, war keinesfalls untertrieben.
„Ihr erstes Mal?“, fragte der Mann sie, auf Deutsch, und lächelte sie dabei freundlich an.
Hannah stutzte. Woher... wusste er? Stand ihr etwa auf die Stirn geschrieben, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben in einem Flugzeug gesessen hatte?
Sie würde vor dem Start noch einmal auf die Toilette gehen müssen, um ihren Verdacht auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Hannah legte den Kopf ein wenig zur Seite und schaute ihn fragend an, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden.
„Business Class“, fuhr er fort. „Sie fliegen das erste Mal in der Business Class, nicht wahr?“
Ach, das war es. Sie atmete auf. Er hatte sie lediglich den billigen Plätzen zugerechnet. Das reduzierte sie mit einem Schlag von Volltrottel auf höchstens Halbtrottel.
Sie nickte schüchtern.
„Woran... haben Sie das erkannt?“, fragte sie zaghaft.
„Als die Stewardess Ihnen eben Champagner zur Begrüßung angeboten hat, wollten Sie ihr das Tablett abnehmen.“
Hannah spürte, wie sie errötete.
Wie peinlich – er hatte es bemerkt.
Sie war so daran gewöhnt zu dienen, dass sie im ersten Augenblick reflexartig das Tablett an sich nehmen wollte anstatt eines der darauf in Reih und Glied postierten, mit kühlem, prickelndem Rebensaft gefüllten Gläser.
„Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, erwiderte der ältere Herr. „Im Gegenteil: Es macht Sie sympathisch. Überaus sympathisch. Mein Name ist Peter Jacobs. Ich fliege nach Frankfurt.“
Er streckte ihr seine gebräunte Hand entgegen.
„Hannah Goldlaub“, erwiderte sie und ließ ihre Hand in seine gleiten. „Ich fliege nach Wien.“
„Sie sind Wienerin?“
„Nein, ich … lebe in Buenos Aires.“
Er streckte sich lächelnd in seinem Sessel aus, offensichtlich zufrieden mit dem Inhalt seines Glases und dem Leben im Allgemeinen.
„Beides wunderschöne Städte, ich kann mich nicht entscheiden, welche mir besser gefällt“, erwiderte er. „Was meinen Sie?“
„Ich war noch nie in Wien“, erklärte sie wahrheitsgemäß.
„Dann wird es Ihnen umso märchenhafter vorkommen – vor allem jetzt mit all dem Schnee.“
„Schnee?“
„Ganz Süddeutschland und Österreich sind eingeschneit. Ich hoffe, Sie haben genügend warme Sachen dabei. Zumindest feste Stiefel und einen Mantel.“
Hannahs Blick fuhr über ihr blauweiß geblümtes Sommerkleid hinunter zu ihren Sandalen, aus denen sie ihre nackten Zehen unvermittelt ängstlich anzublicken schienen.
Schnee? Warme Sachen? Stiefel? Mantel?
Fehlanzeige. Sie reiste mit leichtem Gepäck.
Hannahs Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht hätte sie vor ihrer Abreise den Wetterbericht für Wien lesen sollen. In Buenos Aires war es Hochsommer.
Das einzige, was sie an warmen Sachen dabei hatte, waren zwei langärmelige Pullover, eine Jeans und eine fesche Lederjacke. Unvermittelt sah sie ihre restliche Wintergarderobe vor sich – sorgfältig aufgehängt an den Bügeln im Schlafzimmerschrank.
„Minus sieben Grad“, ergänzte Peter Jacobs neben ihr und blickte sie besorgt an.
„Cabin crew, please prepare for departure!“ tönte es aus den Lautsprechern über ihrem Kopf.
Schon heulten die Turbinen auf und die Schwerkraft drückte Hannah tief in ihren Sitz. Sie betrachtete die Landschaft, die draußen vor dem Fenster an ihr vorbeiflog, immer schneller und in immer kürzeren Bildausschnitten.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich ihre Hände krampfhaft an den Armlehnen ihres Sitzes festkrallten.
„Keine Angst“, vernahm sie die Stimme ihres Sitznachbarn neben sich. „Gleich sind wir in der Luft.“
Für einen Moment entspannte sie sich und schloss die Augen.
„Oder poetischer formuliert: Über den Wolken“, ergänzte Peter Jacobs, der ältere Gentleman an ihrer Seite, mit so viel Samt in der Stimme, dass Hannah es nur zu gern glauben wollte.
Und tatsächlich: Das Leben über den Wolken fing an ihr zu gefallen. Man konnte sich daran gewöhnen, dachte sie, bequem ausgestreckt in ihrem breiten Ledersessel, während ihr Blick hinaus in die endlose weiße Wolkenlandschaft unter ihren Augen fiel, ein Meer von prickelnden Perlen auf der Zunge, in Erwartung weiterer Köstlichkeiten, die schon bald serviert werden würden.
„Womit hast du das verdient...?“, fragte Hannah sich ungläubig in Gedanken, während adrett gekleidete Stewardessen sie mit einer ausgesuchten Freundlichkeit behandelten, als wären sie ihr Hofstaat und sie eine Prinzessin.
Es war ein Traum.
Jetzt begriff sie, wovon die Rede war, wenn es hieß, dass die Zeit wie im Flug vergeht: Von der Business Class.
Als Hannah eine Nacht und einen Tag später schließlich am Portal des Flughafens vor den Toren Wiens stand und auf eine klirrend kalte, schneeweiße Betonlandschaft blickte, fühlte sie sich so frisch und abenteuerlustig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Da stand sie nun, in Sommerkleid und Sandalen, und war so aufgeregt, dass die gefrorene Luft einfach an an ihr abperlte. Sofort nachdem sie im Hotel eingecheckt hatte, würde sie sich in der Stadt einen warmen Mantel und Stiefel kaufen. Ausreichend Geld hatte sie ja.
Dreitausend Euro in bar, sicher verstaut in …
Ein Blitzschlag durchfuhr Hannah.
Panisch drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Vor ihren Augen stand der große Koffer, der als allererster vom Gepäckband gerollt war. Nur der große Koffer.
Ihr Puls beschleunigte sich in Sekundenbruchteilen auf hundertachtzig.
Doch so sehr sie sich auch drehte und wendete, ihr wurde schlagartig klar, dass sie kein weiteres Gepäck mit sich führte.
„Bitte … bitte … nicht …!“, entfuhr es ihr, während sich kalter Angstschweiß auf ihrer Stirn bildete. Wie in einem Daumenkino sah sie in rasanter Abfolge folgende Dinge vor sich: ihr Handy, ihren Reisepass, ein Bündel Bargeld, das Rückflugticket, die Hotelbuchung und schließlich und endlich die Visitenkarte und das Schreiben mit der Telefonnummer und der Adresse von Maximilian Schön.
All diese so kostbaren und mit ihrem Schicksal untrennbar verbundenen Dinge hatte sie sicherheitshalber an ein und demselben Ort verstaut.
Dem Ort, den die meisten Frauen auf dieser Welt hüten wie ihren eigenen Augapfel.
Und doch führte kein Weg an der schockierenden Erkenntnis vorbei:
Ihre Handtasche – sie war verschwunden.