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Prolog

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Shay Given war noch nie ein Mann vieler Worte, und als er 20 war, waren es sogar noch weniger. Der Torhüter war damals gerade zu Newcastle United gewechselt, und ich reiste nach Dublin, um ihn vor seinem Debüt für den Klub, einem Freundschaftsspiel gegen PSV Eindhoven, zu interviewen. Er war ein bisschen nervös vor seinem ersten Auftritt, denn in der Vorsaison war er von Blackburn an Newcastles Erzrivalen Sunderland ausgeliehen worden. Der mögliche Gegner zum Abschluss des Vorbereitungsturniers an der Lansdowne Road war sein erster Verein, Celtic Glasgow.

Ich gestand ihm, dass ich ebenfalls nervös war. Sein Handschuhhersteller hatte für mich die Teilnahme an einem Elfmeterschießen in der Halbzeitpause arrangiert. Im Tor würde niemand Geringerer stehen als Pat „Packie“ Bonner. Der Ire war eine Legende und spielte damals noch bei Celtic, weswegen Given sich ja auch anderweitig hatte umschauen müssen. Vor allem mit einer Parade hatte sich der 80-fache irische Nationaltorwart unsterblich gemacht: einem Hechtsprung nach rechts, mit dem er bei der WM 1990 im Elfmeterschießen gegen Rumänien den Schuss des Verteidigers Daniel Timofte parierte. Dieser Moment sollte Bonners Leben für immer verändern: Als David O’Leary anschließend verwandelte, erreichte Irland zum ersten (und bisher einzigen) Mal in seiner Geschichte das Viertelfinale einer WM.

Given horchte auf: „Ah, du schießt einen Elfmeter gegen Packie. Na dann, viel Glück – du wirst es brauchen.“

Anscheinend hatte ich ihn ein wenig von seiner Nervosität ablenken können. Umgekehrt war das aber keineswegs der Fall.

„Dann gib mir einen Rat“, bettelte ich. „Was soll ich machen?“

„Vor allem darfst du dich nicht umentscheiden. Leg dich auf eine Ecke fest, und bleib dabei. Und lass dich auf keine albernen Spielchen ein. Die Psychomasche zieht bei Packie nicht.“

Als es so weit war, versuchte ich mich an Givens Worte zu erinnern. Newcastle lag zur Halbzeit mit 2:1 vorn, aber ich hatte vom Spiel kaum etwas mitbekommen. Als die Mannschaften in die Kabine gingen, stand ich neben dem Spielertunnel und versuchte, Given auf mich aufmerksam zu machen. Das klappte nicht. Mein Kopf war vollkommen leer. Hatte er mir geraten, mich umzuentscheiden oder gerade nicht? Sollte ich es mit Psychotricks versuchen oder nicht? Mir wurde ganz flau, und ich war noch nicht mal auf dem Platz.

Ich tröstete mich damit, dass es ja nur ein Freundschaftsspiel war und höchstens 25.000 Fans an die Lansdowne Road gekommen waren. Außerdem war Halbzeit, und die meisten holten sich eine Tasse Tee, gingen aufs Klo oder blätterten in der Stadionzeitung. Aber das war ein Irrtum. Bonner war, wie gesagt, eine Legende, und viele Zuschauer waren ebenso sehr seinetwegen gekommen wie wegen des Spiels. Ich war ziemlich erstaunt, als einer meiner Kontrahenten (drei Spieler traten gegen Bonner an) gnadenlos ausgepfiffen wurde, als er den Ball auf den Elfmeterpunkt legte. Die Fans hinter dem Tor versuchten, ihn durch allerlei Sperenzchen aus dem Konzept zu bringen. Einer ließ sogar die Hosen runter und präsentierte uns seinen blanken Hintern. Aber es nützte nichts: Mein Gegner blieb cool, nahm einen langen Anlauf und schoss den Ball flach und hart in die rechte untere Ecke. Tor.

Ich war als Nächster dran. Ich versuchte, ebenfalls cool zu bleiben, und legte den Ball in aller Ruhe auf den Punkt. Ich ging drei Schritte zurück und schaute auf. Tief durchatmen. Das Tor sah ziemlich groß aus. Aber Bonner auch. Noch einmal tief durchatmen. Ich hatte mir vor kurzem noch einmal das Elfmeterschießen gegen Rumänien angesehen und bemerkt, dass Bonner immer dann nach rechts sprang, wenn ein Spieler einen kurzen Anlauf nahm. Das ergab Sinn: Um bei einem kurzen Anlauf Kraft hinter den Schuss zu bekommen, schießt ein Spieler eher auf seine natürliche Seite, sprich: Ein Rechtsfüßer würde die von ihm aus gesehen linke Ecke anvisieren.

Noch einmal durchatmen, ein kleiner Hopser, und los ging’s. Zunächst machte ich einen Schritt nach links, um den Anlaufwinkel zu vergrößern. Dann rannte ich drei Schritte und traf den Ball sauber mit dem Vollspann. Ich sehe noch die leichte Rotation des Balles, der Richtung Innenseite des Seitennetzes flog, das ideale Ziel für einen Schützen. Bonner hatte zuerst einen Schritt nach rechts gemacht und war auf dem falschen Fuß. Ich hatte Packie Bonner auf dem falschen Fuß erwischt! Noch dazu im eigenen Stadion! Ich wollte Given unbedingt davon erzählen und fragte mich, ob er in der Kabine auf einem Monitor zugesehen hatte.

Das Drama war noch nicht vorbei. Mein letzter Kontrahent hatte verschossen, und ich musste noch einmal antreten, um im Wettbewerb zu verbleiben. Meine Einstellung war jetzt eine ganz andere. Statt nervöser Anspannung verspürte ich nun Zuversicht. Die Zuversicht wich wiederum anmaßender Arroganz. Ich wusste, ich würde auch diesmal treffen. Bonner war einfach nicht mehr der Teufelskerl, der er mal gewesen war, er würde mich nicht durchschauen. Ich hatte ihn da, wo ich ihn haben wollte. Und jetzt würde ich ihm, vor den Augen seiner treuesten Fans, zeigen, wo der Hammer hängt.

Diesmal wählte ich einen geraden, etwas längeren Anlauf. Das suggerierte einen kraftvollen Schuss auf Bonners rechte Seite. Stattdessen wollte ich den Ball in die Mitte chippen, wie einst Antonín Panenka bei seinem legendären Tor gegen Sepp Maier im EM-Finale von 1976 – das erste und bisher einzige Mal, dass Deutschland ein Elfmeterschießen verlor. Ich erfuhr erst später, dass Panenka zwei Jahre lang an diesem einen Schuss gefeilt hatte: an der Täuschung, dem Anlauf, wie er den Ball traf und der Schussgeschwindigkeit. Ich hingegen hatte ihn kein einziges Mal geübt.

Das sah man dann auch. Schon beim Anlauf geriet alles durcheinander, mein linker Fuß war zu weit weg vom Ball, um ihn zu schießen, und als ich noch einen Schritt machte, kam ich ins Straucheln. Ich geriet über den Ball und brachte nicht mehr als ein jämmerliches Schüsschen mit rechts zustande. Der Ball rollte kläglich Richtung Tormitte direkt auf Bonner zu. Hätte der ihn nicht aufgenommen, hätte es der Ball wahrscheinlich nicht einmal über die Linie geschafft. Das war mein Ikarus-Moment. Nicht Bonner, sondern ich selbst war vorgeführt worden. Ich hörte nicht mal die Menge johlen, pfeifen oder lachen. Vermutlich tat ich den Leuten einfach nur leid. Das machte die Sache nicht gerade besser.

Innerhalb von nur fünf Minuten hatte ich durchlebt, welchen Ruhm und welches Leid ein Elfmeter mit sich bringen kann. Ich realisierte, dass mehr hinter dem Duell zwischen Torhüter und Schützen steckt, als ich geahnt hatte: Körpersprache, wie man den Ball zurechtlegt, Blickkontakt, Anlaufwinkel – und das sind nur die Dinge, die man sieht, bevor der Ball geschossen wird. Ich hatte den mentalen Kampf unterschätzt, den man weniger mit dem Keeper als mit sich selbst auszutragen hat. Und natürlich hatte ich es als waschechter Engländer nicht für nötig gehalten, vorher anständig zu trainieren. Ja nun, bei mir zu Hause im Garten hätte ich ja wohl kaum den Druck und die Atmosphäre nachstellen können, oder?

Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Die meisten meiner fußballbezogenen Kindheitserinnerungen drehen sich, zumindest was das aktive Spiel angeht, um Elfmeter. Ich verbrachte endlose Stunden damit, daheim Elfmeter zu schießen, und zwar mit einem Schaumstoffball auf die Heizung. Im Geiste wählte ich zwei Mannschaften aus, nominierte je fünf Schützen und spielte dann ein Elfmeterschießen durch. Bei den richtigen Spielen am Wochenende beurteilte ich die Akteure dann immer danach, wie sie sich bei meinen heimischen Turnieren geschlagen hatten. Als ich älter wurde, verlagerte ich das Spiel in den Park oder in die Wohnungen meiner Freunde. Es galten die gleichen Regeln, mit ausgedachten Spielern, aber jetzt mit einem Torwart, den man überwinden musste. Aufgrund meines Trainings mit dem Schaumstoffball wähnte ich mich klar im Vorteil – aber es reichte nicht ganz, um Bonner zweimal zu schlagen.

Nach dem Spiel traf ich mich kurz mit Given und gratulierte ihm zu seinem Debüt. (Von der zweiten Halbzeit hatte ich sogar noch weniger mitbekommen als von der ersten, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen Moment der Schande immer wieder im Kopf durchzuspielen. Ich hatte mir aber sagen lassen, dass er gut gespielt habe. Ich redete mir ein, dass Bonner den ersten absichtlich reingelassen und ich mich eigentlich schon beim Anlauf verraten hatte. Das glaube ich immer noch, gräme mich deswegen aber nicht mehr.) Er fragte, wie es gelaufen sei, und ich verzog keine Miene.

„Jau, ganz gut, danke“, antwortete ich. „Einen habe ich versenkt, den anderen hat Packie gehalten, bin also ganz zufrieden.“

„Gut gemacht“, sagte Given.

Ich hoffte inständig, dass er nicht doch am Monitor zugesehen hatte.

Fast auf den Tag genau 13 Jahre später schaute ich das Finale der WM 2010 zwischen Spanien und den Niederlanden. Spanien war die bessere Mannschaft und hatte den Sieg verdient, aber ich hoffte insgeheim, dass sich die Holländer irgendwie ins Elfmeterschießen retten würden. Warum? Ich hatte inzwischen eine Consultingfirma namens Soccernomics mitbegründet, und wir arbeiteten mit Ignacio Palacios-Huerta zusammen, einem Professor für Spieltheorie an der London School of Economics. Palacios-Huerta hatte 1999 eine Abhandlung mit dem Titel Professionals Play Minimax geschrieben, die auch heute noch als wegweisende Studie über Elfmeter gilt.

Mittels Regressionsanalyse ist Palacios-Huerta in der Lage, Muster und Tendenzen in den Elfmetergewohnheiten von Schützen und Torhütern zu ermitteln. Wenn die meisten Elfmeter, sagen wir 70 Prozent, auf die natürliche Seite des Schützen geschossen werden – die vom Schützen aus gesehen linke Ecke bei Rechtsfüßern, die rechte Ecke bei Linksfüßern –, so kann er den Spieler ausfindig machen, der nur 60 Prozent seiner Versuche auf die natürliche Seite schießt. Das ist an sich schon hilfreich, aber noch viel nützlicher ist seine Fähigkeit, bestimmte Muster aufzuspüren: Diego Forlán, Copa-América-Gewinner mit Uruguay, schießt links, dann rechts, dann wieder links. WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose schießt immer auf die gleiche Seite, sofern der Spielstand torlos ist. Frank Lampards Strategie hängt davon ab, ob er es mit einem Torhüter zu tun hat, den er aus der englischen Nationalmannschaft kennt.

Mehrere Mannschaften hatten sich im Vorfeld der WM an Soccernomics gewandt. Eine ging mit einer vollständigen Analyse von Palacios-Huerta in ein K.-o.-Spiel, verlor aber in der regulären Spielzeit (Strafstöße hatte es im Match keine gegeben). Ein anderer Teilnehmer bat 24 Stunden vor dem Anpfiff um einen umfassenden Elfmeter-Bericht, Palacios-Huerta braucht aber drei Tage, um sämtliche Daten für neue Teams auszuwerten. Die Anfrage kam also zu kurzfristig. Die Mannschaft schied ebenfalls in der regulären Spielzeit aus.

Vor dem Finale traten wir an den niederländischen Verband heran, und er bekundete Interesse an einer Analyse. Palacios-Huerta, selbst Spanier, lieferte einen Bericht über seine Landsleute ab, und die Holländer waren begeistert. „Wir waren sehr beeindruckt“, sagte Torwart Ruud Hesp. „Der Bericht verschaffte uns wertvolle zusätzliche Informationen und Analysen über jeden einzelnen Spieler.“

Vor dem Ende der Verlängerung waren zwei der sichersten Elfmeterschützen der Spanier, Xabi Alonso und David Villa, ausgewechselt worden. Am Ende stand mit Fernando Torres nur ein Spanier auf dem Platz, der in seiner Karriere mehr als fünf Elfmeter geschossen hatte (allerdings alle für Atlético Madrid und keinen für Liverpool, wo Torres damals schon drei Jahre spielte). Der Bericht zeigte, dass Spieler, die nur selten Elfmeter schießen, vorwiegend ihre natürliche Seite wählen. Andererseits tendierte Torres dazu, auf seine nicht-natürliche Seite zu schießen. Spaniens Torhüter Iker Casillas sprang überdurchschnittlich oft auf die natürliche Seite, wodurch sich die Chancen der Spieler erhöhten, die die nicht-natürliche Seite anvisierten. Außerdem war er bei bisher 59 Elfmetern gegen sich kein einziges Mal in der Mitte stehen geblieben.

Kein Wunder also, dass es auf der holländischen Bank lange Gesichter gab, als Andrés Iniesta vier Minuten vor dem Ende der Verlängerung zum 1:0 traf. Nach dem Spiel meinten die Holländer, dass sie sicher gewesen seien, das Elfmeterschießen und damit ihren ersten WM-Titel zu gewinnen. Und das, obwohl sie seit langem als Elfmeter-Versager galten. Schließlich sind sie bis heute die einzige Nation, die es fertiggebracht hat, fünf Elfmeter in einem einzigen Turnierspiel zu vergeben: beim irrsinnigen EM-Halbfinale 2000 gegen Italien.

Für die Holländer blieb die Analyse somit wertlos. Für eine andere Mannschaft aber könnte sie in einem anderen wichtigen Match den Unterschied machen. Elfmeter gehören seit jeher zum Fußball, aber weil sie scheinbar so simpel sind, wird ihre Bedeutung häufig unterschätzt. Schließlich sollte es für Profifußballer, die jeden Tag trainieren und spielen, kein Problem sein, aus elf Metern ein 7,32 Meter breites und 2,44 Meter hohes Tor zu treffen. Aber allzu oft ist es eben doch ein Problem, und das macht das Duell vom Punkt so faszinierend.

Dieses Buch versucht, eine einfache Frage zu beantworten: Wie verwandelt – oder hält – man einen Elfmeter? Um sie zu beantworten, muss man zunächst einmal herausfinden, warum bestimmte Mannschaften oder Spieler überhaupt scheitern. Ich habe die Gründe für das Scheitern dieser Mannschaften und Spieler unter die Lupe genommen und bin auf innovative Lösungen gestoßen, zukünftige Fehlschläge zu vermeiden. Die meiste Freude bereitete mir die Tatsache, dass Elfmeter trotz der ihnen innewohnenden Grausamkeit von aller Welt geliebt werden. Jeder Spieler und jeder Fan hat eine Elfmetergeschichte zu erzählen, über den besten, den schlechtesten, den nicht gegebenen, den zu Unrecht gegebenen. Seien wir ehrlich: Wir haben alle schon mal eine Verlängerung gesehen und insgeheim gehofft, dass keine weiteren Tore mehr fallen, um einen dramatischen Showdown vom Punkt erleben zu können. Der Elfmeter ist Fußball in Reinkultur: Es gibt nur Schütze, Torwart und Ball. Sonst nichts. Eine Prüfung für Technik und Nerven. Es ist die Essenz des Spiels, Fußball in seiner elementarsten Form. Aber selbst dann ist er alles andere als simpel.

Die Elfmeter, über die ich in diesem Buch schreibe, wurden berücksichtigt, weil sie eine Geschichte erzählen über Historie, Kultur oder Taktik des Duells vom Punkt. Falls Ihr Lieblings-Elfmeter nicht dabei ist, keine Sorge: Besuchen Sie die Website www.facebook.com/twelveyards und stimmen Sie für denjenigen ab, der Ihnen am meisten bedeutet. Dort können Sie sich außerdem Videos der hier behandelten Elfmeter anschauen.

Ich möchte allen Spielern, Torhütern, Trainern, Wissenschaftlern und Athleten aus anderen Sportarten danken, die sich Zeit für mich nahmen und mir halfen, zu verstehen, worauf es beim Elfmeterschießen ankommt. Ich glaube, würde ich heute noch einmal gegen Packie Bonner antreten, er hätte nicht den Hauch einer Chance.

Elf Meter

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