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Kapitel 1 Die englische Krankheit

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Ich habe England ein Elfmeterschießen gewinnen sehen. Ich war am 22. Juni 1996 im Wembley-Stadion dabei, als England im Viertelfinale der Europameisterschaft Spanien im Elfmeterschießen mit 4:2 besiegte. Hätte ich doch damals schon gewusst, was ich heute weiß: dass England seine nächsten fünf Elfmeterschießen verlieren würde; dass Spieler scheitern würden, die regelmäßig Elfmeter schießen, ebenso wie Spieler, die nie Elfmeter schießen; dass namhafte wie unbekannte Spieler scheitern würden; dass Verteidiger, Mittelfeldspieler und Stürmer scheitern würden. Damals war es ja „nur“ ein Viertelfinale gegen Spanien. Ach, hätte ich es bloß gewusst, hätte es irgendeiner von uns gewusst.

Stattdessen verlor England vier Tage später gegen Deutschland, mal wieder im Elfmeterschießen. Immerhin waren sie diesmal nah dran gewesen: Sie verwandelten die ersten vier Schüsse, das machte dann inklusive des Spiels gegen Spanien neun verwandelte Elfmeter in Folge. Zwei Jahre später, bei der WM 1998 in Frankreich, unterlag England im Elfmeterschießen gegen Argentinien, bei der EM 2004 und der WM 2006 jeweils gegen Portugal. Bei der EM 2012 scheiterten sie an Italien.

Inzwischen fürchten die Engländer bei einem großen Turnier nichts so sehr wie ein Elfmeterschießen. Es ist schon so weit gekommen, dass manche Gegner von vornherein nur auf das Elfmeterschießen aus sind, weil sie wissen, dass sie dann psychologisch im Vorteil sind. Obwohl die Protagonisten sich änderten – so standen bei den fünf genannten Niederlagen im Elfmeterschießen vier verschiedene Keeper im Kasten –, war das Ergebnis stets das gleiche. Und die Ausreden ... Na ja, die waren letztlich auch immer die gleichen:

1990: „Das Wichtigste ist, dass die Mannschaft gut gespielt hat. Letztendlich konnte uns aus dem Spiel heraus keiner schlagen.“ (Bobby Robson)

1996: „Ich war überrascht, dass der Trainer mich als Schützen nominiert hat. Ich habe nie Elfmeter trainiert und in meinem ganzen Leben erst einen geschossen, und der ging auch daneben.“ (Gareth Southgate)

1998: „Man kann die Bedingungen eines Elfmeterschießens nicht im Training simulieren.“ (Glenn Hoddle)

2004: „Letztlich wurde das Spiel vom Elfmeterpunkt entschieden. Wenn es so weit kommt, ist es eine reine Lotterie.“ (Gary Neville)

2006: „Wir haben ganz viel Elfmeterschießen trainiert, ich weiß nicht, was wir sonst noch hätten tun können. Wir haben so viel geübt, fast jeden Tag, aber letztlich waren wir dem Druck nicht gewachsen.“ (Sven-Göran Eriksson)

2006: „Du kannst Elfmeter trainieren bis zum Abwinken, was wir ja auch während des ganzen Turniers getan haben, aber es ist eben nicht dasselbe.“ (Wayne Rooney)

2012: „Das ganze Training hat uns letztlich nicht viel gebracht. Vielleicht ist es Schicksal, dass wir keine Elfmeterschießen gewinnen können, aber ... man kann die müden Beine nicht simulieren. Man kann den Druck nicht simulieren. Man kann die nervöse Anspannung nicht simulieren.“ (Roy Hodgson)

Ich für meinen Teil habe die Nase voll davon, England ständig im Elfmeterschießen verlieren zu sehen. Mir wäre es lieber, sie würden einfach in der regulären Spielzeit oder Verlängerung scheitern.1 Ich wollte herausfinden, warum England in schöner Regelmäßigkeit versagt und was man tun müsste, um das zu ändern. Aber als Allererstes musste ich wissen, was die Engländer bis dahin falsch gemacht hatten. Ich ging erst einmal davon aus, dass sie wohl zu viele Elfmeter verschossen und ihre Torhüter zu wenige gehalten hatten. Also schaute ich mir die Elfmeterstatistiken aller größeren Nationen an, die an mehr als zehn Elfmeterschießen teilgenommen hatten.2

Abbildung 1: Elfmeter verwandelt/verschossen

LandE-S-Nverw./versch.Tore %Siege %
Deutschland6-5-126/293 %83 %
Brasilien11-7-439/1474 %64 %
Paraguay5-3-219/386 %60 %
Argentinien10-6-437/1079 %60 %
Spanien7-4-325/876 %57 %
Uruguay9-5-438/784 %56 %
Frankreich6-3-325/681 %50 %
Mexiko37-3-418/1162 %43 %
Italien8-3-530/1271 %38 %
Niederlande7-2-522/1069 %29 %
England7-1-623/1266 %14 %

Die Tabelle in Abbildung 1 scheint darauf hinzudeuten, dass die englischen Trainer vielleicht nicht ganz Unrecht haben. Englands Trefferquote von 66 % liegt zwar unter dem Gesamtschnitt von 78 % (ein Wert, der in Elfmeterschießen bei Turnieren übrigens sinkt), das erklärt aber nicht die unterirdische Siegquote von nur 14 %. Mexiko beispielsweise hat eine schlechtere Trefferquote, aber eine Siegquote von 43 % – ein Wert, von dem England nur träumen kann. Auch Frankreich scheint das Glück nicht hold zu sein: Trotz einer Trefferquote von 81 % setzten sie sich nur in 50 % der Elfmeterschießen durch.

Abbildung 2 schaut auf die Rolle der Torhüter und wie sich die Schlussleute dieser elf Nationen bei großen Turnieren geschlagen haben. Bei Elfmeterschießen geht es ebenso sehr um verwandelte wie um gehaltene Elfmeter, und es ist klar zu sehen, dass England und die Niederlande dabei deutlich schlechter abschneiden als die anderen Nationen. Brasilien und Deutschland weisen eine Haltequote auf, die weit über dem Schnitt von 22 % liegt, was ihren Erfolg zum Teil erklärt.

Abbildung 2: Elfmeter kassiert/gehalten4

Landkassiert/gehaltenverwandelt %gehalten %
Brasilien35/1767 %33 %
Deutschland20/969 %31 %
Paraguay16/673 %27 %
Argentinien37/1276 %24 %
Mexiko23/777 %23 %
Italien30/879 %21 %
Spanien24/680 %20 %
Uruguay35/881 %19 %
Frankreich26/681 %19 %
England29/683 %17 %
Niederlande21/388 %12 %

Nach jeder englischen Niederlage wird natürlich vor allem über die Spieler geredet, die verschossen haben, oder über den Trainer, der das Schicksal beklagt – die „Lotterie“ Elfmeterschießen oder, in Erikssons Fall, dass man zwar hart, aber nur fast jeden Tag trainiert habe. Nur selten hört man etwas von der gegnerischen Seite, den Siegern, der Mannschaft, die das Glück hatte, gegen England ins Elfmeterschießen zu kommen. Also nahm ich mir vor, mit je einem Spieler dieser gegnerischen Mannschaften zu sprechen und zu erfahren, was England ihrer Meinung nach falsch gemacht hatte. Das würde mich sicher nicht auf die endgültige Lösung aller englischen Probleme beim Elfmeterschießen bringen, aber wenn ich damit nur ein ganz klein wenig Licht ins Dunkel bringen würde, hätte sich die Sache schon gelohnt.

Der Mann, der den größten Anteil an Englands grottenschlechter Elfmeterbilanz bei großen Turnieren hat, ist Ricardo Alexandre Martins Soares Pereira oder einfach kurz Ricardo. Er ist der portugiesische Torwart, der sich im Viertelfinale der EM 2004 die Handschuhe auszog, bevor er gegen Darius Vassell parierte und anschließend den entscheidenden Elfmeter selbst versenkte. Zwei Jahre später, im Viertelfinale der WM 2006, wehrte er als erster Torwart überhaupt drei Schüsse in einem WM-Elfmeterschießen ab. Die FIFA kürte trotzdem den englischen Mittelfeldspieler Owen Hargreaves zum „Man of the Match“, wohl weil er, wie Ricardo vermutete, „der Einzige war, der gegen mich einen Elfmeter verwandelte“. Zum Trost erhielt Ricardo von Schiedsrichter Horacio Elizondo den von ihm unterschriebenen Spielball. Elfmeterschießen waren für die Engländer zu diesem Zeitpunkt längst ein Problem geworden. Gegen Ricardo verwandelten sie in den beiden Spielen nur sechs von elf Versuchen. Dank Ricardo verschärfte sich das Problem und wurde zu einem Komplex. Einer Obsession. Einem Trauma. Das Ende vom Lied? Bei ihrem nächsten Elfmeterschießen, sechs Jahre später im Viertelfinale der EM 2012 gegen Italien, waren die Engländer eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt.

An einem Montagmorgen im Frühjahr sind auf dem Kurs von Oceanico Victoria in Vilamoura nur wenige einheimische Golfer anzutreffen. Es ist die Zeit des Jahres, in der ambitionierte Golfer aus ganz Europa nach der monatelangen Kälte daheim an die Algarve strömen, um zwei Runden am Tag zu spielen. Im Klubhaus hört man irische, schwedische und deutsche Besucher. Das von der Sonne gesprenkelte Übungsgrün ist ein Kaleidoskop modischer Entgleisungen. Direkt dahinter, auf der Driving Range, hebt sich ein Spieler von allen anderen ab, nicht unbedingt wegen seines Schwungs, der gar nicht mal übel ist, sondern durch sein Outfit: weiße Schuhe, lindgrüne Hosen und ein lindgrün abgesetztes Navy-Shirt. Man muss schon ein ganz passabler Golfer sein, um damit durchzukommen. Oder einer der erfolgreichsten Torhüter Portugals. Ricardo ist beides. Er spielt seit fünf Jahren Golf und hat sein Handicap inzwischen auf 4 verbessert. Das Spiel, sagt er, habe ihn zu einem besseren Torwart gemacht, seine Konzentrationsfähigkeit gesteigert und ihm geholfen, sich nach einem Fehler rasch wieder zu konzentrieren.

Zum Zeitpunkt unseres Treffens ließ Ricardo gerade seine Karriere bei Olhanense an der Algarve ausklingen. Meistens saß er nur auf der Bank, was ihm zufolge daran lag, dass der Trainer sich durch seine Anwesenheit als erfahrener Spieler „mit einem gewissen Status“ bedroht fühlte, aber allzu sehr schien ihn das nicht zu bekümmern. Stattdessen arbeitete er an seinem Golfspiel und wirkte, während er ein Radler schlürfte, ganz wie ein Mann, der weiß, dass seine Karriere so gut wie vorbei ist. Ricardo ist ein Englandliebhaber. Er unterhielt sich mit mir in perfektem Englisch und wünschte, mehr Zeit in England verbracht zu haben als nur das halbe Jahr, das er 2011 bei Leicester unter Vertrag stand. Er schien durchaus gewillt zu sein, den Engländern dabei zu helfen, die Elfmeterdämonen, die er selbst ein Stück weit heraufbeschworen hatte, zu vertreiben.

Die Niederlage von 2006 war anders als die Elfmeterfiaskos, die England bis dahin erlitten hatte. Zunächst einmal verwandelten die Engländer nur einen von vier Elfmetern, ihr schlechtester Wert überhaupt. Im Halbfinale der WM 1990 gegen Deutschland sowie im Achtelfinale 1998 gegen Argentinien hatten sie immerhin noch je drei verwandelt. Zwei der Spieler, die gegen Portugal scheiterten, waren auch in ihren Vereinen für die Elfmeter zuständig: Frank Lampard und Steven Gerrard. Die Portugiesen verschossen sogar selbst zweimal, setzten sich aber trotzdem durch. Es war der absolute Tiefpunkt in der langen, traurigen Geschichte englischer Elfmeterpleiten.

Obwohl sie nach dem Platzverweis für Wayne Rooney in Überzahl spielten, machten die Portugiesen kaum Anstalten, noch in der regulären Spielzeit eine Entscheidung herbeizuführen. „Ob wir auf Unentschieden gespielt haben?“, fragte Ricardo. „Sagen wir mal so: Wir sind keine unnötigen Risiken eingegangen, denn wir waren zuversichtlich, uns im Elfmeterschießen durchzusetzen. Auch deswegen, weil wir schon 2004 gewonnen hatten. Auf den Engländern lastete ein besonderer Druck. Ich sprach vor dem Spiel mit Sven, und er meinte: ‚Ich will nicht, dass es zum Elfmeterschießen kommt, denn ich weiß, dass meine Spieler nicht gegen dich antreten wollen.‘“ Schon vor dem Anpfiff hatte der Coach der Engländer Angst vor dem Unvermeidlichen.

An unserem Tisch mit Blick auf das Übungsgrün zeigte ich Ricardo auf meinem Smartphone ein Video des Elfmeterschießens von 2006. Das war in etwa so, als würde man sich einen Film anschauen, während der Hauptdarsteller neben einem sitzt. Er machte mich auf Einzelheiten aufmerksam, die mir bis dahin entgangen waren oder unbedeutend erschienen. Andere Details, die ich für wichtig hielt, hatte er hingegen bis dahin kaum registriert.

Portugal hatte den ersten Schuss. Simão Sabrosa nahm selbstbewusst Anlauf und verwandelte gegen den englischen Keeper Paul Robinson ohne Probleme. Mit geballten Fäusten lief er zurück zum Mittelkreis. Lampard trat als Erster für England an. Zwei Jahre vorher hatte er Ricardo im Elfmeterschießen bezwungen. Mit verkniffener Miene ging er in den Strafraum und legte sich den Ball zurecht. Dann kehrte er Ricardo den Rücken zu, richtete sich den Kragen und wartete auf den Pfiff des Schiedsrichters.

„Ich wusste, dass Lampard als Erster antreten würde“, sagte Ricardo. „Er hatte seit zwei Jahren oder so keinen Elfmeter mehr verschossen.5 Bevor es losging, sagte ich zu den Jungs: ‚Wenn ich den ersten halte, haben wir so gut wie gewonnen.‘ Ich wusste, dass sie sich nicht davon erholen würden, sollte Lampard verschießen.“

Lampard schoss auf seine nicht-natürliche Seite, nach rechts unten. Ricardo tauchte in die richtige Ecke und faustete den Ball weg. Die Kameras richteten sich auf die englischen Spieler, und man sah Gerrard, scheinbar den Tränen nah, gen Himmel schauen. Als Lampard zurück Richtung Mittelkreis trottete, entging auch Ricardo diese Reaktion nicht. „Nachdem ich gehalten hatte, sah ich Ferdinand und Gerrard, die buchstäblich in sich zusammenfielen ... Sie ließen die Köpfe hängen, und ich wusste, jetzt waren wir im Vorteil. Ihr bester Schütze hatte verschossen, und sie sahen aus, als wären sie schon geschlagen.“

Bei den portugiesischen Schützen schaute Ricardo nicht aufs Tor, sondern in die Menge. Das war nicht, wie ich vermutet hatte, ein Zeichen von Nervosität, sondern von Stärke. „Als ich in die Menge blickte, sah ich den einen oder anderen portugiesischen Fan, aber ansonsten waren überall Engländer, alle in weißen Trikots. Die ganze Menge war nervös. Ich konnte sehen, was sie dachten: ‚Nicht schon wieder.‘ Das war ein weiterer Vorteil für mich. Vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber alles zählt. Solche Kleinigkeiten können einen großen Unterschied machen.“

Hugo Viana, der als Nächster für Portugal an der Reihe war, traf nur den Außenpfosten. Als er zurück zum Mittelkreis ging, lösten sich Hélder Postiga und Maniche aus der Gruppe und klatschten aufmunternden Beifall. Für mich eine bemerkenswerte und wichtige Reaktion – Ricardo nahm sie nicht einmal wahr.

Dann trat Owen Hargreaves für England an: Er legte sich sorgfältig den Ball zurecht, korrigierte mindestens dreimal, dann schoss er hart und flach auf seine natürliche Seite. Ricardo hatte die Finger am Ball, konnte ihn aber nicht abwehren. „Ich war nah dran, aber den hatte Hargreaves super geschossen.“

Nach je zwei Schüssen stand es 1:1. Als Petit das Tor verfehlte, war England dann sogar im Vorteil. Im Mittelkreis ballten die englischen Spieler die Fäuste, Ferdinand und Hargreaves riefen „Come on!“, während sie sich um den Hals fielen. Gerrard hatte nun die Chance, England in Führung zu bringen. Während er sich vom Schiedsrichter den Ball holte, legte Gary Neville im Mittelkreis Hargreaves den Arm um die Schulter und grinste ihn verschwörerisch an – ein Zeichen von Zuversicht, dass England den Fluch endlich brechen könnte.

Aber Ricardo hatte etwas dagegen. „Ich stehe hinter der Torlinie, ich habe es nicht eilig. Keine Zeitschinderei, kein Gerede. Ich habe es nicht nötig, zu Gerrard zu gehen und zu sagen: ‚Hey, den verschießt du.‘ Wenn ich das tue, konzentriere ich mich nicht auf das Wesentliche, auf das, was ich zu tun habe. Ich schaue ihn an, ich beobachte ihn, ich studiere sein Verhalten. Aber als er auf mich zukam ... Mann, ich sah seine Miene. Er wollte mich nicht ansehen! Er sah mich überhaupt nicht an! Ich sah sein Gesicht und das aller anderen, als sie auf mich zukamen, und sie guckten alle, als wollten sie sagen: ‚Oh, mein Gott, oh, mein Gott!‘ Ich bin ganz cool, konzentriert, und das überträgt sich auf die anderen. Ich glaube, wenn du Zuversicht ausstrahlst, herrscht ein ganz anderer Geist.“

Gerrard schoss hart, auf Ricardos linke Seite, aber nicht platziert genug. „Das war meine beste Parade, denn als der Ball auf mich zukam, stieg er im letzten Moment noch nach oben“, sagte Ricardo. „Ich musste meine rechte Hand schnell nach oben bringen, um den Ball zu erreichen. Ich ging an Robinson vorbei. Er sah mich aus den Augenwinkeln an und sagte: ‚Fuck, fucking hell! Nicht schon wieder!‘ Ich spürte, wie ihn die Zuversicht verließ. Er dachte: ‚Wenn ich den nicht halte, verlieren wir.‘“

Postiga erhöhte mit einem cleveren Schuss auf 2:1 für Portugal. 2004 hatte er den Ball in Panenka-Manier in die Mitte gechippt, und sein langer, gerader Anlauf deutete auf einen ähnlichen Versuch hin. Robinson blieb stehen, aber Postiga schoss in die linke Ecke.

Jamie Carragher war als Nächster an der Reihe. Er war zwei Minuten vor Ende der Verlängerung, offenbar im Hinblick auf das Elfmeterschießen, für Aaron Lennon eingewechselt worden. Fünf Jahre zuvor hatte er für Liverpool im Finale des Worthington Cups den entscheidenden Elfer gegen Birmingham verwandelt, seither aber keinen einzigen mehr geschossen.

Er legte sich den Ball zurecht, machte kehrt und startete dann übergangslos seinen Anlauf. Aber der Schiedsrichter hatte den Schuss noch nicht freigegeben, und als Carragher zwei Schritte vom Ball entfernt war, pfiff Elizondo zweimal, um zu signalisieren, dass der Versuch nicht zählen würde. Hätte Carragher noch abstoppen können? Wenn er gewollt hätte, wohl schon, aber er lief weiter und schoss einen exzellenten Elfmeter, dem Ricardo nur hinterherschauen konnte.

„Carragher wandte sich ab und rannte dann sofort los, aber der Schiedsrichter hatte nicht gepfiffen, also hob ich nur die Hände und meinte: ‚Warte, warte.‘ Der Referee lächelte ihn an und sagte: ‚Warte auf meinen Pfiff.‘ Ich sah Carragher an und dachte: ‚Das war’s für dich, den halte ich.‘ Der Kerl war fertig, vollkommen durcheinander, er war viel zu nervös.“


Vielleicht seine beste Parade: Der portugiesische Torhüter Ricardo hält Gerrards Elfmeter im WM-Viertelfinale 2006 gegen England.

Würde Carragher das Gleiche versuchen oder etwas anderes? „Ich hatte im Gefühl, dass er etwas anderes probieren würde“, sagte Ricardo, und er sollte recht behalten: Carragher visierte die andere Ecke an, und der Keeper lenkte den Ball an die Querlatte. Portugal lag 2:1 vorn und hatte mit dem nächsten Schuss die Chance, das Spiel für sich zu entscheiden.

„Als Cristiano Ronaldo zum Elfmeterpunkt ging, sah er zu mir herüber. Ich streckte die Hände aus, um anzudeuten, dass es vorbei sei. ‚Das Ding ist gelaufen’, sagte ich. Ich wusste, er würde treffen. England war bereits geschlagen.“

Ronaldo ließ sich Zeit. Er küsste den Ball, bevor er ihn auf den Punkt legte, und holte tief Luft. Er wartete einen Moment, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hatte. Sein Elfmeter war perfekt.

Ich wollte von Ricardo wissen, warum England wieder mal verloren hatte. „Diese großen Namen verschießen, und das liegt nicht daran, dass sie die falschen wären. Sie spielen bei den besten Klubs der Welt, aber was in einem solchen Moment in ihnen vorgeht – ich weiß es nicht. Das ist reine Kopfsache. Sie müssen an ihrer mentalen Stärke arbeiten.“

Ricardo meinte, in den beiden Spielen gegen England noch einen weiteren Vorteil gehabt zu haben: Er war selbst früher Stürmer gewesen und hatte Elfmeter geschossen. Für seinen ersten Verein Montijo spielte er zumeist im Angriff und ging nur dann ins Tor, wenn der Gegner ein großer Klub wie Sporting oder Benfica Lissabon war. Er war kopfball-stark und spielte nach seinem Wechsel mit 17 zu Boavista Porto eine Weile Mittelstürmer, bevor ihm geraten wurde, dauerhaft ins Tor zu gehen, wenn er es als Profi schaffen wollte. Trotzdem übte er weiterhin Elfmeter, oft für sich allein, ohne einen Torwart im Kasten. „Ich versuchte, den Ball genau zu platzieren. Schnörkellos und so oft es ging. Kein Problem.“ Schon bald war er Boavistas designierter Elfmeterschütze. Er traf fünfmal vom Punkt, so auch 2004 im Viertelfinale des UEFA-Pokals im Elfmeterschießen gegen Málaga.

Wenn Ricardo seine beste Parade 2006 gegen Gerrard zeigte, so hatte er seinen besten Elfmeter bereits zwei Jahre vorher gegen England bei der EM 2004 geschossen. Eigentlich war er als sechster Schütze vorgesehen, aber nachdem Rui Costa den dritten Versuch vergeben hatte, verlor er die Übersicht. Er konzentrierte sich auf den Spielstand statt auf die Reihenfolge. In Lissabon zu spielen, bedeutete für die Portugiesen keinen so großen Vorteil, wie man hätte meinen können – Ricardo zufolge hielt sich die Zuschauergunst in etwa die Waage –, aber Ricardo schöpfte stattdessen Zuversicht aus einer unerwarteten Quelle.

„Ich bemerkte den Linienrichter“, erzählte er mir. „Jedes Mal, wenn ich fast einen Elfmeter hielt, atmete er schwer aus. Ich sah ihn an und dachte: ‚Er will, dass wir gewinnen.‘ Er schien erleichtert, wann immer wir einen Elfmeter verwandelten. Mir war so, als drückte er uns die Daumen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, jedenfalls erschien es mir so. Vielleicht habe ich nur nach etwas gesucht, an dem ich mich festhalten konnte, aber es half.“

Nach jeweils sechs Elfmetern stand es 5:5. Den sechsten Schuss, für den eigentlich Ricardo vorgesehen war, hatte Postiga ausgeführt und verwandelt. Dann hatte Ricardo eine Überraschung parat. „Wir hatten Elfmeter trainiert, und ich hatte mir ein paar DVDs angesehen, um die englischen Spieler zu studieren“, erinnerte er sich. „Aber als ich Darius Vassell auf mich zukommen sah, dachte ich: ‚Kacke, warte mal. Ich habe auf der DVD jeden Spieler Elfmeter schießen sehen bis auf diesen Kerl. Nichts! Hat er überhaupt schon mal geschossen?‘ Ich schaute auf meine Hände. ,Mist, ich muss irgendwas tun!‘ Also riss ich mir die Handschuhe runter, ich zog sie einfach aus. Vassell schaute mich an, dann den Schiedsrichter, der nur meinte: ‚Ist schon okay so.‘“

Ricardo fuhr in seinen Erinnerungen fort: „Ich weiß bis heute nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte das vorher nie gemacht und auch seitdem nicht mehr, aber ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ich war ganz auf den Moment konzentriert. Selbst heute, wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht an den Lärm erinnern. Ich höre gar nichts. Alles ist vollkommen still. Ich sah, dass Vassell sehr nervös war und am liebsten woanders gewesen wäre. Ich wusste, dass ich als Nächster schießen würde, und sagte zu mir: ‚Ich werde den hier halten und den nächsten versenken.‘“

Und wirklich ahnte Ricardo die richtige Ecke und hielt. Als Nuno Valente, der als Schütze nach Postiga vorgesehen war, sich anschließend den Ball schnappen wollte, scheuchte er ihn weg. „Ich war an der Reihe, denn ich hatte meinen Einsatz verpasst. Nuno lief schleunigst in den Mittelkreis zurück. Ich hatte ihn noch nie so schnell laufen sehen! David James stand im Tor, und als er seine Arme ausbreitete, sah er so groß aus wie ein Haus. ‚Wo schieße ich bloß hin, Mann?‘ Genau dahin, wo er ihn nicht erreichen kann, denn er ist ein ziemlich großer Kerl: in die Ecke. Ich bewahrte einen kühlen Kopf. Das war ein großer Moment für mich.“

Nachdem die Feierlichkeiten der Portugiesen abgeklungen waren, erhielt Ricardo einen Anruf seines Handschuhherstellers. Sie freuten sich, dass er zum Sieg beigetragen hatte, aber nicht so sehr, dass er den entscheidenden Elfer mit bloßen Händen gehalten hatte. „Sie forderten mich auf, es nicht noch einmal zu tun, und das habe ich auch nicht.“

Sieben Jahre später schloss sich Ricardo dem damaligen englischen Zweitligisten Leicester City an. Der Trainer, der ihn holte, war Eriksson. An seinem ersten Tag beim Klub saß Ricardo in der Umkleidekabine, als er plötzlich einen Schrei vernahm: „Guten Morgen, guten Morgen, aaaaah! – Was machst du denn hier!?“ Es war Darius Vassell. „Er war ein netter Kerl, wir haben viel über den Moment geredet.“

Die Kollegen nutzten die Gelegenheit, um Vassell noch einmal vom Punkt gegen Ricardo antreten zu lassen. Wieder hielt Ricardo. „Wir lachten darüber. Mann, das war schon lustig. Aber dann erzählte er mir, dass er damals vor dem Spiel gegen Portugal zu Eriksson gegangen sei und gemeint habe: ‚Trainer, sollte es zum Elfmeterschießen kommen, verschonen Sie mich bitte. Ich bin nicht darauf vorbereitet und zu jung dafür.‘ Der Bursche war fast noch ein Kind.“ Nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Portugal spielte Vassell nie wieder für England.

Was kann England also tun, um sein Elfmetertrauma zu überwinden? Ricardo schlug mir drei Lösungen vor, denn „ich möchte England gewinnen sehen und ihnen Zuversicht geben“.

1.Konzentriere dich nur auf das Positive.

„Ein Elfmeter ist kein Problem, sondern eine Chance. Lampard und Gerrard treffen in der Liga immer, sie schießen viele Tore. Warum also versagen sie in wichtigen Momenten? Das muss mentale Ursachen haben. Sie dürfen nur auf einen positiven Ausgang eingestellt sein, nicht aufs Scheitern.“

2.Höre nicht auf die Medien.

„Natürlich lesen wir während solcher Turniere die Zeitungen. Die Engländer reden jeden Tag über Elfmeter und beten dafür, dass es kein Elfmeterschießen gibt. ‚Bloß kein Elfmeterschießen, bloß kein Elfmeterschießen!‘ Wenn die Engländer schlechte Erinnerungen daran haben, sollten sie nicht darüber reden. Abhaken und nach vorne schauen.“

3.Vergiss die Vergangenheit.

„Die Spieler müssen mental stark bleiben und herausbekommen, was für sie funktioniert. Als sie gegen uns verloren haben, konnte man förmlich sehen, was sie dachten: ‚Oje, wir haben schon wieder ein Elfmeterschießen verloren.‘ Beinahe so, als wäre es Schicksal. Die Jungs leiden zu sehr darunter. Man hatte das Gefühl, dass für die Engländer eine Welt zusammenbrach. Es ist wie ein Film, der ihnen ständig im Kopf herumspukt – und dessen Ende sie schon kennen.“

Sechs Monate nach unserem Treffen an der Algarve hatte Ricardo sich seinen Stammplatz im Tor von Olhanense zurückerobert. Im Oktober 2013 erzielte er sogar ein Freistoßtor. Vielleicht ist es ein Trost für die Engländer, dass sie ihm nie wieder in einem Elfmeterschießen gegenüberstehen werden.

Neben den Portugiesen haben auch die Deutschen gute Erinnerungen an Elfmeterschießen gegen England. Lothar Matthäus verriet mir, dass Selbstvertrauen und Konstanz die Gründe dafür waren, dass sich Deutschland im Halbfinale der WM 1990 in Turin durchsetzte. Für England war es das erste Elfmeterschießen überhaupt, während Deutschland sich in den beiden vorigen WM-Turnieren bereits gegen Frankreich (5:4) und Mexiko (4:1) im Elfmeterschießen durchgesetzt hatte.

Matthäus schoss damals den zweiten Elfmeter für Deutschland. Der Kapitän der deutschen Elf war einer von vier Spielern, die auch im Verein regelmäßig vom Punkt antraten, und das machte einen gewaltigen Unterschied. „Schauen Sie doch mal“, sagte er. „Brehme, Matthäus, Riedle, Thon.“ Selbst 23 Jahre danach kann er die Schützen runterbeten, als wären sie eine Person. „Alles eine Sache des Selbstvertrauens, vor allem Elfmeter. Und Selbstvertrauen hatten wir definitiv. Wir machten uns keinen Kopf: Statt groß darüber nachzudenken, konzentrierten wir uns. Entscheidend war, dass wir vier Spezialisten in unseren Reihen hatten.“

Doch auch Stuart Pearce, der Englands vierten Elfmeter verschoss, nachdem zuvor alle sechs Schützen getroffen hatten, war bei seinem Verein Nottingham Forest für die Elfmeter zuständig. Erst nach seinem Fehlschuss und Olaf Thons erfolgreichem Versuch trat mit Chris Waddle der erste Spieler an, der nicht regelmäßig Elfmeter schoss. Und an dieser Stelle kam vielleicht der Faktor Glück ins Spiel, die „Lotterie“, auf die englische Spieler und Trainer so gerne verweisen. Eigentlich war nämlich nicht Waddle als fünfter Schütze vorgesehen, sondern Paul Gascoigne, aber der Mittelfeldspieler, der eine der großen Entdeckungen des Turniers war, hatte in der 98. Minute Gelb gesehen und wäre damit im Finale gesperrt gewesen. „Gazza“ war einfach zu aufgelöst, um anzutreten. England fehlten außerdem die verletzten Bryan Robson, der in der Nationalmannschaft schon vom Punkt getroffen hatte, und John Barnes, der in jener Saison für Liverpool fünf Strafstöße verwandelt hatte. Also musste Waddle einspringen, der noch nie einen wichtigen Elfmeter geschossen hatte. Und er vergab.

Englands Trainer Bobby Robson war nach dem Spiel stinksauer, aber nicht auf Pearce oder Waddle oder Torwart Peter Shilton, der bei jedem Schuss zu lange zu warten schien (er ahnte jedes Mal die richtige Ecke, kam aber immer zu spät): Er ärgerte sich über das System. „Es gibt andere Möglichkeiten“, sagte er. „Man muss den Gegner besiegen. Man spielt weiter, bis zum ersten Tor oder noch eine Viertelstunde, denn früher oder später bricht einer ein. Beim Fußball geht es um Durchhaltevermögen, Charakter und Kampfgeist, und all das setzt sich letztendlich durch.“ Sein Gegenüber Franz Beckenbauer zeigte sich leicht verwundert über Robsons Reaktion: „So sind die Regeln, so ist es nun mal. Es ist zumindest besser als ein Münzwurf. Es gibt keine Alternative.“

In der Pressekonferenz vor dem Finale wurde FIFA-Präsident João Havelange gefragt, ob es angemessen sei, ein WM-Halbfinale durch ein Elfmeterschießen zu entscheiden. „Welche Überraschung, dass ich das auf Englisch gefragt werde“, spöttelte er. „Soweit mir bekannt ist, haben die Deutschen, im Gegensatz zu den Engländern, Elfmeter trainiert.“ Aber Robson hatte nun den Ton vorgegeben: Die Engländer konnten nichts dafür, wenn sie im Elfmeterschießen verloren. Vielmehr war diesmal, beim ersten Mal, das System selbst schuld daran, dass sie gescheitert waren.

1996, bei der EM im eigenen Land, war das anders. Schon im Viertelfinale gegen Spanien mussten die Engländer ins Elfmeterschießen, das sie ohne Fehlversuch und durch Tore von Alan Shearer, David Platt, Stuart Pearce und Paul Gascoigne mit 4:2 für sich entschieden. Der englische Coach Terry Venables hatte beim FC Barcelona auf der Bank gesessen, als die Katalanen 1986 im Europokalfinale gegen Steaua Bukarest keinen einzigen Elfmeter verwandelt hatten. Zehn Jahre später legte er großen Wert darauf, dass seine Schützlinge vom Punkt trainierten.

Im Halbfinale gegen Deutschland machten die Engländer sogar den gefestigteren Eindruck. Die ersten fünf Schützen – Shearer, Platt, Pearce, Gascoigne und Teddy Sheringham – verwandelten sicher. Die Deutschen hingegen wirkten verunsichert. Dieter Eilts, der zum „Man of the Match“ gekürt und später in die Allstar-Mannschaft des Turniers gewählt wurde, hatte gegen Ende der Verlängerung vergeblich um seine Auswechslung gebettelt, um nicht antreten zu müssen. „Ich hätte unter Garantie verschossen“, sagte er. Trainer Berti Vogts hatte nur vier Spieler, die bereit waren, einen Elfmeter zu schießen. Er erkundigte sich bei Thomas Helmer, ob dessen Bayern-Kollege Thomas Strunz der Aufgabe gewachsen sei. „Auf jeden Fall“, lautete die Antwort. Strunz schnappte sich von Schiedsrichter Sándor Puhl den Ball, um sich mit Hochhalten einzustimmen. Vogts wies dann Markus Babbel an, mit Marco Bode auszumachen, wer die Elfmeter Nummer sieben und acht ausführen würde. „Marco, der Chef meint, du bist als Siebter dran“, gab Babbel weiter. „Meine Knie wurden immer weicher“, erinnerte sich Bode. Ebenso wie Eilts wollte auch Matthias Sammer, der später zu Europas Fußballer des Jahres gewählt wurde, auf gar keinen Fall antreten. „Wir hätten uns wohl darum geprügelt, nicht antreten zu müssen“, sagte Sammer.

Keiner der deutschen Spieler hatte jemals in einem großen Turnier einen Elfmeter geschossen, aber Thomas Häßler, Strunz, Stefan Reuter, Christian Ziege und Stefan Kuntz trafen alle. Nach zehn Elfmetern stand es 5:5. Englands verbliebene Feldspieler waren Tony Adams, Darren Anderton, Paul Ince, Steve McManaman und Gareth Southgate. Auch heute noch erscheint es unbegreiflich, dass Southgate und nicht Anderton oder McManaman den nächsten Elfmeter schoss. Sein Versuch war kläglich: Er schoss auf seine natürliche Seite, aber weder platziert noch besonders hart. Andy Köpke ahnte die richtige Ecke und wehrte ab.

Ein paar Monate nach dem Spiel verbrachte der deutsche Autor Ronald Reng einen Nachmittag mit Southgate in Birmingham, wo der Pechvogel ausführlich über seinen Fehlschuss sprach. „Ich glaube, es lag daran, weil ich Deutscher war und er sich den Frust von der Seele reden wollte“, sagte Reng. „Es war dieses Schuldgefühl, das einen manchmal irrationale Dinge tun lässt.“ Das Interview erschien in der Süddeutschen Zeitung. Southgate erzählte darin, dass er sich darüber im Klaren gewesen sei, dass der Elfmeter seine Karriere prägen würde. „Damit zu leben, ist sehr schwer“, sagte er. „Es war meine erste internationale Meisterschaft, und ich habe sehr gut gespielt – aber alles, was in Erinnerung bleibt, ist dieser kleine, dumme Fehler. Alles, was die Leute von Gareth Southgate behalten haben, ist: Der kann keine Elfmeter schießen ... Für viele andere, die Leid erfahren haben, bin ich plötzlich ein Verbündeter. Die Leute schreiben mir nicht nur, um Trost zu spenden, sondern erwarten ihrerseits Zuspruch von mir für ihre Probleme. Ich bin fast so etwas wie ein Kummerkastenonkel geworden.“

Er räumte ein, dass sein Elfmeter schlecht geschossen war. „Aber als der Zeitpunkt kam – wie soll ich das sagen ... Ich war überrascht, als unser Coach mich nahm. Ich hatte Elfmeterschießen nie geübt, nur einmal zuvor in meinem Leben einen geschossen – und auch da schon nicht getroffen. Ich kann das nicht gut.“ Southgate konnte sich an das meiste dessen, was unmittelbar nach dem Elfmeter passiert war, nicht erinnern. „Ich bin in der Nacht ins Bett gegangen, den Kopf voller Müll. Du liegst wach und denkst: Was werden die Leute mit dir machen, haben sie schon dein Haus abgebrannt? Es war beängstigend. Mein Kollege Stuart Pearce sagte: ‚Gareth, morgen werde ich wieder zu Hause sein und auf die Weide gehen, um meine Pferde zu füttern. Ich werde sie anschauen und zu ihnen sagen: ‚Wir haben es wieder nicht geschafft. Wir haben gegen Deutschland im Elfmeterschießen verloren.‘ Und die Pferde werden mir antworten: ‚Was kümmerst du dich darum? Gib uns endlich die Karotten.‘“

Southgate bekannte später, bereits ein schlechtes Gefühl gehabt zu haben, als Ziege den vierten Elfmeter für Deutschland verwandelte. Er hatte schon entschieden, wohin er den Ball schießen wollte, „aber als es 4:4 stand und noch keiner verschossen hatte, kamen mir negative Gedanken. ‚Was ist, wenn ich verschieße?‘ Dieser einfache Gedanke, den man bei besserem mentalem Verständnis hätte ausblenden können, schlich sich in mein Unterbewusstsein, und im Nachhinein weiß ich, dass ich in dem Moment schon so gut wie verloren hatte.“ Auch Stefan Kuntz wurde zunehmend nervös. Im Verein schoss er regelmäßig Elfmeter – mit 30 verwandelten Strafstößen belegt er in der ewigen Rangliste der Bundesliga den achten Platz. Er hatte Vogts aber in der Hoffnung, die Sache wäre bis dahin gelaufen, gebeten, ihn als fünften Schützen zu nominieren.

Vogts war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Vier Monate vor Beginn des Turniers hatte er Kuntz versprochen, ihn im ersten Gruppenspiel für den gesperrten Jürgen Klinsmann aufzustellen – und so kam es auch. Der damals 33-jährige Kuntz hatte bei seinem Klub Beşiktaş Istanbul Sonderschichten eingelegt und besonders hart trainiert. „Ich habe mein erstes Länderspiel mit 31 gemacht, und wenn man älter ist, weiß man solche Momente eher zu schätzen“, sagte er. „Mir war klar, dass dies mein letztes Turnier für Deutschland sein würde, und ich wollte, dass es etwas Besonderes wird.“

Kuntz, der erneut von Beginn an spielte, weil Klinsmann sich im bissig geführten Viertelfinale gegen Kroatien verletzt hatte, erzielte den Ausgleich und in der Verlängerung ein Kopfballtor, das wegen eines Foulspiels aberkannt wurde. „Das war niemals foul“, beteuerte er mir gegenüber.

Er sah zu, wie die Engländer einen Elfmeter nach dem anderen verwandelten. „Es war furchtbar. Ich war als Fünfter dran, weil ich eigentlich gar nicht schießen wollte, und als es dann so weit war, war mein Elfer der wichtigste von allen. Wenn man zum Punkt geht, ist man so allein, so ängstlich. Ich musste irgendwie meine Nerven in den Griff kriegen. Also versetzte ich mich in Wut. So vergaß ich meine Aufregung.“ Kuntz dachte an seine Kinder, die damals fünf und sieben Jahre alt waren, und wie sie in der Schule gehänselt würden, sollte er jetzt verschießen. „Ich wurde so sauer bei dem Gedanken daran, wie diese Blödmänner meine Kinder ärgerten. Ich dachte: ‚Das kannst du deiner Familie nicht antun.‘“ Kuntz, ein Linksfüßer, schoss Deutschlands besten Elfmeter: hart und platziert auf seine natürliche Seite. Er hatte sich so aufgepeitscht, dass er danach nicht einmal lächelte, sondern nur einmal tief durchatmete auf dem Weg zurück in den Mittelkreis.

Und dann war Southgate an der Reihe. „Natürlich hat Southgate mein Mitgefühl“, sagte Kuntz. „Es ist ein Albtraum, derjenige zu sein, der verschießt. Aber immerhin hatte er den Mumm, überhaupt anzutreten, im Gegensatz zur halben Mannschaft.“ Warum also hat England verloren? „Es gab zusätzlichen Druck, weil es ein wichtiges Spiel war, und dann auch noch gegen Deutschland. Und wenn man zu Hause spielt, spürt man manchmal den Zweifel der eigenen Fans. Vielleicht dachte Southgate: ‚Selbst die Fans glauben nicht, dass ich treffe.‘ Oft passiert genau das, was einem durch den Kopf geht. Es ist ein wichtiger Aspekt des Spiels, die eigenen Gedanken zu kontrollieren.“

Kuntz sagte, das Spiel sei das Highlight seiner Karriere gewesen, noch vor dem Finale gegen Tschechien, in dem er von Anfang an spielte und das Deutschland 2:1 gewann. „Es war mein erstes Spiel in Wembley, es war gegen England, ich erzielte ein Tor und dann das Elfmeterschießen ... Es war einfach alles drin.“ Heute konzentriert er sich auf seinen Job als Vorsitzender des 1. FC Kaiserslautern, für den er sechs Jahre lang spielte. Über die alten Zeiten redet er nicht so gern. Er versucht das Thema zu umgehen, seitdem er seiner Großmutter kurz vor dem Ende seiner Profikarriere den Text auf seiner offiziellen Sticker-Karte vorlas. „Da stand: ‚Pokalsieger 1990, Deutscher Meister 1991, Europameister 1996‘ und dazu meine ganzen Torstatistiken. Und meine Oma fragte: ‚Sehr hübsch, aber kannst du damit im Supermarkt bezahlen?‘ Da wurde mir klar, dass man sein Leben einfach weiterleben muss. Nicht zurückschauen. Vielleicht sollte es England mit Elfmeterschießen genauso halten.“

Als Kuntz verwandelte, hatten sich die Deutschen immer noch nicht auf ihren sechsten Schützen geeinigt. Bis Southgate vergab. Daraufhin löste sich Andreas Möller aus der Gruppe und machte sich auf den Weg zum Elfmeterpunkt. „Er trat vor und meinte: ‚Ich bin dran, okay?‘“, erinnerte sich Thomas Helmer. Es war zu spät, um Einwände zu erheben, und Möller traf. Game over.

Shearer hatte England nach drei Minuten in Führung gebracht und im Elfmeterschießen den ersten Schuss verwandelt, so wie schon vier Tage vorher gegen Spanien. „Üben ist ja schön und gut, aber man kann die Situation einfach nicht simulieren“, erzählte er mir. Trotz seiner persönlichen Bilanz – er traf auch 1998 gegen Argentinien, womit er mit drei Treffern bei drei Versuchen Englands erfolgreichster Schütze in Elfmeterschießen ist – waren seine Ausführungen von negativen Schlagwörtern durchsetzt. „Einem solchen Druck ausgesetzt zu sein, wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht“, fuhr er fort. „Der Gang zum Punkt kommt einem vor, als wäre er 40 Meilen lang. Und es sind gar nicht so sehr die 80.000 Menschen im Stadion oder die 30 Millionen am Fernseher, die einen nervös machen. Es sind die zehn Teamkollegen hinter einem. Der Druck, es auch für sie tun zu müssen, ist größer als alles andere.“

Herrschten diese negativen Gedanken auch zwei Jahre später noch vor, als England im WM-Achtelfinale in Saint-Étienne auf Argentinien traf? Gewiss war die Niederlage von 1996 ein größeres Trauma als die von 1990. England war der Gastgeber, Deutschland der Gegner, und es war wieder ein Elfmeterschießen gewesen. Die Regenbogenpresse hatte vor dem Spiel mit militärischen Metaphern Stimmung gemacht – der Daily Mirror trieb es mit der Schlagzeile „Achtung Surrender!“ ein bisschen zu weit, und Teamsponsor Vauxhall zog sämtliche Anzeigen aus dem Blatt zurück. England aber enttäuschte erneut.

„Uns war klar, dass die Medien das Spiel zu einem Krieg stilisiert hatten, aber für uns war es das keinesfalls“, meinte Kuntz dazu. „Schauen Sie, selbst unsere Eltern hatten mit dem Krieg nichts mehr zu tun, er lag zwei Generationen zurück, deswegen verstanden wir die Schlagzeilen nicht. Für die englische Mannschaft wäre es wohl hilfreicher gewesen, es wäre weniger von Krieg und Geschichte die Rede gewesen und man hätte sich ganz auf den Fußball konzentriert. Ich glaube, dass die Medien das Spiel zu sehr aufgebauscht und dadurch den Druck auf die Spieler noch erhöht haben.“ Das war der Moment, in dem die Angst vor Elfmeterschießen in der englischen Psyche zu keimen begann. Die Engländer hatten das Pech, nur kurze Zeit später in das nächste verwickelt zu werden, wiederum gegen eine Nation, mit der sie sportlich und politisch eine schwierige Beziehung verbindet: Argentinien.

Die fußballerische Rivalität nahm bei der WM 1966 ihren Anfang, als der Argentinier Antonio Rattín sich nach seinem Platzverweis im Viertelfinale gegen England zehn Minuten lang weigerte, den Rasen von Wembley zu verlassen. Englands Trainer Alf Ramsey hinderte George Cohen daran, mit Roberto Perfumo das Trikot zu tauschen, und bezeichnete die Südamerikaner als „Tiere“. 1977 schlug der argentinische Stürmer Daniel Bertoni seinem Gegner Trevor Cherry zwei Schneidezähne aus (seine Knöchel zeugen noch heute von der Begegnung), und bei der WM 1986 warf Argentinien schließlich die Engländer dank Maradonas „Hand Gottes“ im Viertelfinale aus dem Turnier. „Die WM zu gewinnen, war damals zweitrangig für uns“, sagte Perfumo. „England zu schlagen, war unser eigentliches Ziel. Das ist vergleichbar mit Schülern, die ihre Lehrer schlagen.“

Nationaltrainer Glenn Hoddle schloss sich Shearers Sichtweise an, dass die Realität eines Elfmeterschießens nicht nachstellbar sei, und verzichtete 1998 darauf, Elfmeter trainieren zu lassen. Der einzige Spieler, der es dennoch tat, war ironischerweise Shearer. Vor jedem Länderspiel schoss er fünf Elfmeter in die eine Ecke, im Spiel selbst schoss er dann in die andere. Er war überzeugt davon, dass der Gegner selbst beim Geheimtraining seine Spione hatte, um ihn zu beobachten.

Gegen Argentinien ging die Rechnung auf: Drei Minuten, nachdem Gabriel Batistuta das 1:0 erzielt hatte, wurde Michael Owen im Strafraum von Roberto Ayala zu Fall gebracht. Der Schiedsrichter entschied auf Strafstoß, was ziemlich großzügig war, und Shearer traf zum Ausgleich. Nur wenig später startete Owen ein Solo vom Mittelkreis aus und drang in den Strafraum vor. Er ließ Ayala aussteigen und bezwang Torwart Carlos Roa mit einem platzierten Schuss ins lange Eck. Javier Zanetti glich kurz vor der Pause aus, und nach dem Platzverweis gegen David Beckham hatten die Engländer ihre liebe Not, das 2:2 über die Zeit zu retten.

Ayala, der zum Zeitpunkt unseres Treffens gerade Racing Club Buenos Aires trainierte, erinnerte sich gerne an das Spiel zurück. „Zunächst mal war da Owen“, sagte er. „Der Elfmeter, den er rausholte, und dann das tolle Tor, das er erzielte. Ich muss aber sagen, dass [José] Chamot und ich eine Menge Fehler dabei machten. Wir waren zu weit auseinander, ich stand falsch, außerdem wussten wir nichts über den Burschen. Über Shearer wussten wir alles, aber über Owen: nichts.“

Im Elfmeterschießen war England kurzzeitig im Vorteil, als David Seaman gegen den zweiten argentinischen Schützen, Hernán Crespo, hielt. Aber Paul Ince konnte diesen Vorteil nicht nutzen und vergab seinerseits. Anschließend trafen Juan Verón und Paul Merson, ebenso Marcelo Gallardo und Owen. Dann war Ayala an der Reihe. „Ich war kein Elfmeterspezialist, und wir hatten im Training nicht geübt“, sagte er. „Unsere ersten vier Schützen schossen regelmäßig Elfer, aber ich nicht. Ich hätte mich nie geweigert, habe den Trainer [Daniel Passarella] aber auch nicht gefragt, warum er ausgerechnet mich für den fünften Versuch ausgewählt hatte. Ich wusste sofort, wohin ich schießen wollte. Ich ging davon aus, dass Seaman mich für einen ungelenken Verteidiger hielt und erwartete, dass ich auf meine natürliche Seite schießen würde, also visierte ich die andere Ecke an.“

Ayala empfand nichts von der Furcht, über die Shearer sprach. „Ich verspürte keinen Druck, als ich zum Punkt ging. Ich empfand es vielmehr als aufregend. Mit einer Mannschaft verbinden sich so viele Träume, und ich dachte an all die Menschen, die uns und mir die Daumen drückten. Der Gedanke an ein Scheitern kam gar nicht erst auf. Ich wusste, dass ich treffen würde. Ich schaute Seaman nicht einmal an. Ich legte mir einfach den Ball zurecht und schoss. Und ich traf. Das war’s.“

Roa erkundigte sich nach dem Elfmeter bei Ayala: „Hey, was ist, wenn ich den hier halte?“

„Dann haben wir gewonnen!“, antwortete Ayala.

Roa neigte dazu, die Namen seiner Kollegen zu vergessen. Ayala glaubt, dass ihm diese Vergesslichkeit beim Elfmeterschießen geholfen hat.

David Batty trat für England an. Er war für Darren Anderton ins Spiel gekommen, um die Defensive nach Beckhams Platzverweis zu verstärken. Er hatte noch nie einen Elfmeter geschossen und sich vor seinem Versuch bei Shearer erkundigt, wohin er schießen solle. „Ich riet ihm, in die Mitte zu schießen, aber auf dem Weg zum Punkt entschied er sich um“, sagte Shearer. Batty schoss halbhoch nach links, Roa ahnte die richtige Ecke und entschied das Elfmeterschießen für seine Mannschaft.

„Roa war klasse“, sagte Ayala, „aber ich könnte trotzdem nicht sagen, warum England das Elfmeterschießen verloren hat. Wir waren enttäuscht, das Spiel nicht in der regulären Spielzeit gewonnen zu haben, aber wir hatten ebenfalls keine Elfmeter trainiert. Ich glaube, Roa bewegte sich schneller als Seaman, und wir schossen ein bisschen besser vom Punkt. Manchmal ist das eben so.“

Für Gianluigi Buffon werden Elfmeter ein ewiges Rätsel bleiben. Der italienische Torwart gewann das WM-Finale 2006 gegen Frankreich im Elfmeterschießen und stand auch im Viertelfinale der EM 2012 im Tor, als die Engländer im Duell vom Punkt einmal mehr den Kürzeren zogen. „Ich verliere lieber in der regulären Spielzeit als im Elfmeterschießen“, sagte er. „Meiner Meinung nach ist entscheidend, welche Spieler weniger erschöpft sind und sich noch etwas besser konzentrieren können.“ Buffon ist ein intuitiver Torhüter. Während der englische Torwart Joe Hart am Tag vor dem Spiel darüber sprach, die Gewohnheiten der italienischen Spieler zu analysieren, scherzte Buffon, stattdessen lieber Pornos gucken zu wollen.

Beim Elfmeterschießen 2012 hielt Hart keinen einzigen Elfmeter, Buffon hingegen einen, den von Ashley Cole. „Ich sah, dass er darauf wartete, dass ich auf eine Seite sprang, aber ich blieb so lange stehen, wie es ging. Als ich dann die richtige Ecke ahnte, konnte ich den Ball halten.“ Italien war bereits im Vorteil, nachdem Andrea Pirlo beim Stand von 1:2 mit einem perfekten Panenka-Heber für den Ausgleich gesorgt hatte. „Das gab uns den Glauben, es zu packen“, bestätigte Buffon. „Pirlo drehte das Elfmeterschießen zu unseren Gunsten. Nach seinem Tor wirkten die englischen Spieler frustriert, als hätten sie etwas von ihrer Entschlossenheit verloren.“

Trotz des Triumphs bei der WM 2006 glaubt Buffon nicht, dass es so etwas wie ein Erfolgsrezept für Elfmeterschießen gibt. „Ich glaube nicht, dass man da jemandem Ratschläge erteilen kann“, sagte er. „Empfiehlt man dem Torwart, möglichst lange stehen zu bleiben, kommt er bei einem platzierten Schuss selbst dann zu spät, wenn er die richtige Ecke ahnt. Manche Spieler bevorzugen eine bestimmte Seite, aber das weiß jeder. Beim Elfmeterschießen ist eine Menge Glück dabei, aber auch die Geschichte spielt eine Rolle, weil sie sich auf das Selbstvertrauen auswirkt. Italien hat sein Trauma überwunden: Wir haben in den 1990er Jahren so viele Elfmeterschießen verloren [vier: 1990, 1994, 1996, 1998], aber 2006 haben wir dann die WM gewonnen. Letzten Endes kann man also nie wissen, was passiert.“

Pirlo wusste selbst beim Anlauf noch nicht, dass er einen so unverschämten Schuss wagen würde. Erst in letzter Sekunde entschied er sich, denn Joe Hart machte, wie Pirlo sagte, „allerlei Sperenzchen auf der Linie“. Sobald Hart sich bewegte, fasste Pirlo seinen Entschluss. „Ich musste die beste Lösung finden, um das Risiko des Scheiterns auf ein Minimum zu reduzieren“, sagte er. „Es war improvisiert, ich hatte das nicht vorher festgelegt. Ich glaubte, nur so meine Erfolgsaussichten maximieren zu können. Ich wollte keine Show abziehen. Das ist einfach nicht meine Art. Wegen der ganzen Reisen zwischen Polen und der Ukraine hatten wir vor dem Spiel kaum Zeit gehabt, überhaupt zu trainieren, wie hätte ich den Trick also einstudieren können? Ich tat es aus reiner Berechnung – in dem Moment war es die am wenigsten riskante Variante. Es war die sicherste und effektivste Option. Nach dem Spiel meinten meine Kollegen: ‚Andrea, bist du verrückt?‘ Sie waren fassungslos. Aber ich war nicht verrückt. Ich wusste genau, was ich tat.“

Ich fragte Englands erfolgreiche Schützen gegen Argentinien, Alan Shearer und Michael Owen, warum Elfmeterschießen für England zu einem solchen Problem geworden waren. Shearer meinte, es fehle einfach das Glück. „Wir brauchen fünf Jungs, die im entscheidenden Moment ihre Nerven im Griff haben, und wir brauchen Glück und Mut. Das sollte uns ans Ziel bringen.“ Ich wies ihn darauf hin, dass wir 1996 gegen Deutschland fünf solcher Jungs gehabt hatten. „Das stimmt, aber die wenigsten Elfmeterschießen dauern länger als fünf Runden. Wenn wir es erst einmal geschafft haben, sind wir mental darüber hinweg.“

Owen war überzeugt davon, dass die Spieler die früheren Elfmeterschießen im Kopf hatten. „Das Selbstvertrauen ist ein gewaltiger Faktor bei Elfmetern, und weil ich schon ein Tor aus dem Spiel heraus gemacht hatte, war ich sicher, auch den Elfer zu versenken. Ich habe keine Ahnung, warum England im Elfmeterschießen verliert, aber ich denke schon, dass die vergangenen Niederlagen immer im Hinterkopf sind.“

Ist es also eher Kopfsache als eine Frage der Technik? Shearer zufolge schon. „Ja. Je länger wir auf einen Sieg warten, desto schwieriger wird es, es ist dann ein mentales Problem.“ Owen ergänzte, dass die Spieler die Erwartungen im Griff haben müssten. „Die Kraft der Gedanken ist nicht zu unterschätzen“, sagte er, „und der Druck von außen spielt gewiss eine Rolle.“

Zum Faktor Angst meinte Shearer außerdem: „Ich kann nur für mich sprechen, aber den größten Druck verspürte ich wegen meiner Kollegen, den 22 Jungs im Kader, und den Betreuern, mit denen ich einen Monat verbracht hatte und die ich nicht im Stich lassen wollte. Du darfst keine Angst haben, einen Elfmeter zu schießen. Wenn du Angst hast, hast du schon verloren.“

Ich stellte den beiden Stürmern eine letzte Frage: Wird England je wieder ein Elfmeterschießen gewinnen?

Shearer: „Mit ein bisschen Glück schon.“

Owen: „Klar werden wir!“

Elf Meter

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