Читать книгу Elf Meter - Ben Lyttleton - Страница 8
Kapitel 2 Die Oslo-Lösung?
ОглавлениеDie Lösung für Englands Probleme findet sich möglicherweise in einem baumreichen Vorort im Norden von Oslo, in einem unscheinbaren Büro in Sognsvann, gleich neben Norwegens schickem Trainingszentrum Olympiatoppen. Nimmt man die Stadtbahn nordwärts, kommt man am Nationalstadion Ullevaal vorbei, wo der Zweitligist Hødd 2012 im Finale des norwegischen Pokals für eine Sensation sorgte, als er den Erstligisten Tromsø im Elfmeterschießen mit 4:2 bezwang.
In seinem Büro zeigt mir der ehemalige Fußballspieler Dr. Geir Jordet an seinem Rechner einen Elfmeter nach dem anderen. Jordet kickte früher für den Zweitligisten Strømmen, aber seine Karriere nahm 2004 eine ganz neue Wendung, als Ricardo bei der EM den Elfer von David Beckham parierte. Jordet studierte damals Sportpsychologie an der Norwegischen Sporthochschule in Sognsvann. Er hatte soeben seine Dissertation über das periphere Sehen herausragender Mittelfeldspieler abgeschlossen und war vom norwegischen Radiosender P3 eingeladen worden, über Englands Niederlage zu sprechen.
Jordet kritisierte Beckham dafür, den Elfmeterpunkt vor seinem Schuss nicht genauer überprüft zu haben. Henning Berg, der ebenfalls Gast der Sendung war und mit Beckham bei Manchester United gespielt hatte, pochte darauf, dass kaum jemand so abgezockt sei wie Beckham, und machte Jordet zur Schnecke. Jordet wollte das nicht auf sich sitzen lassen – „Ich fühlte mich beschissen“ –, und als er einen Monat später an die Universität Groningen in den Niederlanden wechselte, richtete er den Schwerpunkt seiner Forschungen auf die Psychologie von Elfmetern. Anscheinend ist er empfindlicher, als er aussieht.
Die Universität unterhielt gute Kontakte zum niederländischen Fußballverband, und Jordet kannte dank seiner Arbeit daheim ein paar schwedische Nationalspieler, die in Norwegen gekickt hatten. Auf Grundlage dieser Kontakte regte er eine einzigartige Studie an, die sich damit beschäftigte, was Spielern beim Elfmeterschießen durch den Kopf geht. Er führte Einzelgespräche mit zehn der 14 Spieler, die im Viertelfinale der EM 2004 beim Elfmeterschießen zwischen Holland und Schweden angetreten waren. Das Spiel endete damals 0:0 nach Verlängerung. Beim Stand von 2:2 im Elfmeterschießen vergab Zlatan Ibrahimović für Schweden; zwei Versuche später herrschte nach Phillip Cocus Fehlschuss wieder Gleichstand. Nach fünf Durchgängen stand es immer noch Unentschieden. Jetzt konnte jede Runde die Entscheidung bringen. Der schwedische Kapitän Olof Mellberg, damals ein namhafter Spieler bei Juventus Turin, scheiterte an Edwin van der Sar. Arjen Robben traf, und Holland hatte erstmals in seiner Geschichte ein Elfmeterschießen gewonnen.
Jordet erhielt aufrichtige Schilderungen des Drucks und der Ängste, die Spieler bei diesem Prozess durchmachen. Seine Erkenntnisse finden sich in drei Studien, von denen eine besonders faszinierend ist: „Stress, Bewältigungsstrategien und Emotion auf der Weltbühne: die Erfahrung, an einem wichtigen Elfmeterschießen teilzunehmen“. Für seine Interviews unterteilte Jordet das Elfmeterschießen in vier Phasen:
1. Die Pause nach der Verlängerung
2. Der Mittelkreis
3. Der Gang
4. Am Punkt
Abbildung 3: Phasen höchster Anspannung beim Elfmeterschießen
Dann wertete er die Reaktionen der Spieler in jeder Phase aus. Sechs Befragte wussten vor Phase 1, dass sie einen Elfmeter schießen würden; zwei wollten ausdrücklich keinen schießen – einer hatte sogar vorab erklärt, auf keinen Fall antreten zu wollen –, und einer hatte sich geärgert, dass drei andere Kollegen schon in Phase 1 deutlich gemacht hatten, nicht schießen zu wollen. Vier Spieler verspürten mehr Stress, wenn ihnen gesagt wurde, in welcher Runde sie schießen sollten, da sie nicht wussten, wie dann die Spielsituation sein würde, und sie sich folglich nicht darauf einstellen konnten; vier weitere waren gelassen oder entspannt.
Überraschenderweise war Phase 2 diejenige, die die Spieler als am stressigsten empfanden, das galt vor allem für die unterlegenen Schweden, die nicht als Gruppe zusammenstanden und nicht miteinander sprachen oder sich anfeuerten. „Während des Elfmeterschießens hat kaum jemand geredet“, erinnerte sich ein Spieler. „Nichts. Ich sagte nichts, und keiner sagte was zu mir.“ Das war die Phase, in der sich bei Gareth Southgate nach eigener Aussage die negativen Gedanken einschlichen. Nur drei Spieler nutzten die Phase im Mittelkreis, um sich auf ihren eigenen Elfmeter zu konzentrieren; die anderen litten unter immer größerer Anspannung, je näher ihre Versuche rückten. „Ich war schrecklich nervös“, sagte ein Spieler. „Ich dachte, dass man sogar im Fernsehen meine Beine zittern sehen müsste, so nervös war ich.“ Bei einem anderen ließ die Nervosität nach, nachdem ein Mitspieler verschossen hatte. „Erst war ich enttäuscht und wütend, aber dann schwand die Nervosität. Ich wurde viel gelassener.“
Der Gang zum Strafraum, Phase 3, war für die Spieler längst nicht so stressig, wie man meinen könnte, gleichwohl gaben drei Spieler an, das Alleinsein in dieser Phase als den schwierigsten Teil des Elfmeterschießens empfunden zu haben. Einer beruhigte sich, sobald er den Ball in den Händen hielt. „Ist es nicht so, dass man weniger Stress empfindet, wenn man etwas in der Hand hat? Ich ließ den Ball ein bisschen kreiseln, ich glaube, das war sehr wichtig.“ Drei Spieler merkten, dass ihre Anspannung auf dem Weg zum Punkt abnahm.
In Phase 4 verspürten nur noch zwei Spieler besondere Anspannung. Einer wandte sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheit vom Torhüter ab. Jordet interpretierte das als eine klassische Vermeidungsstrategie.
Jordet kam zu dem Schluss, dass Trainer über jede Phase des Elfmeterschießens etwas lernen können: über Phase 1, dass Spieler möglichst früh wissen möchten, in welcher Reihenfolge sie schießen, und keine Überraschungen mögen (oder dass Mitspieler kneifen); über Phase 2, dass negative Gefühle aufkommen können, wenn man nur passiv darauf wartet, an die Reihe zu kommen; über Phase 3, dass die Einsamkeit des Gangs eine Bewältigungsstrategie erfordert; und über Phase 4, wie man dem Torhüter gegenüber auftreten sollte.
Die drei Studien beförderten Jordets Karriere auf dem Gebiet der Sportpsychologie. Heute ist er der Leiter der psychologischen Abteilung am Norwegischen Fußball-Leistungszentrum. „Ich erforsche, wie man am besten denkt und fühlt, um die beste Leistung abzurufen, und außerdem, wie man mit dem Scheitern umgeht“, erklärte er. Eine der Mannschaften, mit denen er derzeit arbeitet, brach jedes Mal auseinander, sobald sie das erste Gegentor kassierte, also wurde Jordet angeheuert, um dem Spuk ein Ende zu machen.
Aufgrund seines akademischen Hintergrunds hat Jordet einen eher datenbezogenen Zugang zur Sportpsychologie. Als ich von ihm wissen wollte, warum England so oft im Elfmeterschießen verliert, hatte er gleich mehrere mögliche Erklärungen parat. „Ich habe drei Jahre nach dem perfekten Elfmeter gesucht“, erzählte er mir. „Ich erforschte, wie viele Schritte man am besten Anlauf nahm, ob man den Ball hoch oder flach schießen sollte, kraftvoll oder platziert. Nichts davon war von signifikanter Bedeutung. Großen Einfluss hatte dagegen Stress und wie man damit umgeht. Der perfekte Elfmeter hatte nichts mit Fußball an sich zu tun, sondern mit Psychologie.“
Abbildung 4
Einer dieser psychologischen Faktoren ist, wie wir gesehen haben, die Last der Geschichte. Jordet untersuchte, wie es sich auf ein bevorstehendes Elfmeterschießen auswirkte, zuvor eines oder zwei verloren zu haben.1 Steigt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass England ein Elfmeterschießen in einem großen Turnier verliert, weil es die beiden letzten Elfmeterschießen verloren hat? Die Antwort lautet ja.
Wie die Abbildung 4 zeigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter zu verwandeln, dramatisch auf 57 %, wenn die Mannschaft des Schützen ihre letzten beiden Elfmeterschießen verloren hat, selbst wenn der Spieler zum Zeitpunkt der Niederlagen gar nicht Teil der Mannschaft war. Auch Gewinnen ist ansteckend: Die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter für eine Mannschaft zu verwandeln, die ihre letzten beiden Elfmeterschießen gewonnen hat, liegt bei 89 %. Für die Verlierer aber entsteht ein echter Teufelskreis. Die Werte eines Spielers, der bei der vorangegangenen Niederlage einen Elfmeter geschossen hat, sind sogar noch schlechter – selbst wenn er damals getroffen hat. Seine Trefferwahrscheinlichkeit sinkt auf 45 %. Ich fragte Jordet, ob Englands regelmäßiges Scheitern und Deutschlands Erfolge die Zahlen verzerrten, aber dem war nicht so.
Ergibt ja auch Sinn: Stellen Sie sich einen Neunjährigen vor, nennen wir ihn Ashley, der England zum ersten Mal bei einem großen Turnier sieht, wo es dann im Elfmeterschießen scheitert. Das hinterlässt Spuren. Ashley wächst heran und wird seinerseits Fußballer, England verliert zwei weitere Male im Elfmeterschießen. In der Jugend spielt er selbst für sein Land, das zwei weitere Elfmeterschießen auf großer Bühne verliert. Schließlich wird Ashley Profi, im Verein schießt er regelmäßig Elfmeter, aber die Vorstellung, dass es eigentlich unmöglich ist, mit England ein Elfmeterschießen zu gewinnen, ist längst in ihm verwurzelt. Er ist 31 und ein alter Hase, als er selber für England vom Punkt antreten muss. Er verschießt.
Das bestätigt wiederum sozialpsychologische Studien, die zeigen, dass sich schlechte Erfahrungen weitaus dramatischer auswirken als gute.2 Beim Elfmeterschießen verdichtet sich dieser Effekt: Nicht die gute Leistung der einen, sondern das Versagen der anderen Mannschaft macht bei den meisten Elfmeterschießen den Unterschied. Englands Scheitern führt zu weiterem Scheitern. Aber warum scheitern sie überhaupt?
Als Psychologe hat Jordet zwei Strategien ausgemacht, auf die Elfmeterschützen sich verlegen, wenn sie besonders nervös sind – Vermeidungsstrategien. Bei Spielern, die regelmäßig Elfmeter schießen, sind sie weniger bedeutsam, weil sie möglicherweise Teil einer einstudierten Routine sind, aber bei Spielern, die es nicht gewohnt sind, vom Punkt anzutreten – „die für mich interessanteren, denn bei ihnen geht es um reine Psychologie“, so Jordet –, korrelieren sie mit der Leistung.3
Die eine Strategie ist, sich vom Tor abzuwenden und den Blickkontakt mit dem Torhüter zu meiden, nachdem man sich den Ball zurechtgelegt hat. „Man kann sich nicht ewig abwenden, irgendwann muss man sich umdrehen und sich dem Druck stellen“, sagte Jordet. Er klickte durch unzählige Bilder von Spielern, die im Mittelkreis stehen und sich von dem Strafraum, in dem die Elfmeter geschossen werden, abwenden: Paul Ince bei der EM 1996, zwei Jahre vor seinem Fehlversuch bei der WM 1998; Ricardo Carvalho bei Chelseas Niederlage im Champions-League-Finale 2008 in Moskau (bei der übrigens auch Teameigner Roman Abramowitsch, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf seine Füße starrte); Oleg Blochin schaute sich als Trainer der Ukraine den Sieg seiner Mannschaft im Elfmeterschießen gegen die Schweiz bei der WM 2006 von der Kabine aus an, weil er es nicht ertragen konnte.
Dann rief Jordet die Statistik der Spieler auf, die sich nach dem Zurechtlegen des Balls vom Tor abwenden:
Abbildung 5
Wie Abbildung 5 zeigt, kehrten satte 57 % der englischen Spieler dem gegnerischen Torwart den Rücken zu, gegenüber 17 % der Holländer und nur 5 % der Spanier. Diese Zahlen sind nicht deswegen so interessant, weil England an der Spitze steht, sondern weil keine andere Nation sich auch nur annähernd so häufig auf diese Vermeidungsstrategie verlegt. Für sich genommen ist das kein klarer Hinweis auf die Leistung, aber im Verbund mit der anderen Vermeidungsstrategie – der überhasteten Ausführung – ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang. Abbildung 6 zeigt die Reaktionszeiten der Schützen nach dem Pfiff des Schiedsrichters, mit dem der Schuss freigegeben wird.
Die Unterschiede zwischen diesen Werten – nur Bruchteile von Sekunden – erscheinen nicht besonders groß, aber sie sind nicht von der Hand zu weisen (zum Vergleich: Usain Bolts durchschnittliche Reaktionszeit am Start liegt bei 0,17 Sekunden). Keine Nation beeilt sich beim Elfmeterschießen so sehr wie die Engländer, die eine durchschnittliche Reaktionszeit von 0,28 Sekunden aufweisen. Jamie Carragher musste gegen Portugal einen Versuch wiederholen, weil er sich beim ersten zu sehr beeilt hatte (was er im Übrigen auch beim zweiten tat). 1996 schien Gareth Southgate noch auf dem Weg zu seinem Startpunkt zu sein, als der Schiedsrichter pfiff, woraufhin Southgate abrupt innehielt und den Anlauf begann. In seinem Buch Woody and Nord schrieb er: „Ich wollte nur den Ball, ihn auf den Punkt legen und es hinter mich bringen.“ Chris Waddle äußerte sich über seinen Fehlversuch von 1990 ähnlich: „Ich wollte nur, dass es vorbei ist.“
Abbildung 6
Steven Gerrard war vor seinem Elfmeter gegen Ricardo bei der WM 2006 sogar noch ungeduldiger. In Gerrard: My Autobiography schrieb er: „Ich war bereit. Elizondo war es nicht. Pfeif endlich! Komm aus dem Quark, Schiri! Worauf wartest du? Der Ball lag auf dem Punkt, Ricardo stand auf der Linie. Warum ließ der blöde Pfiff auf sich warten? Die paar Sekunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor und haben mich definitiv aus dem Konzept gebracht. Weiß er nicht, dass ich nervös bin? Herr im Himmel! Innerlich schrie ich. Im Training war alles so einfach: Ball hinlegen, ein paar Schritte zurück, Anlauf, Tor. Kein Warten, keine Anspannung. Jetzt war es anders. Weil Elizondo alles hinauszögerte. Endlich pfiff er, aber meine Konzentration war dahin. Im Moment des Ballkontakts wusste ich schon, dass er nicht dorthin ginge, wo ich ihn haben wollte. Ich lag fast einen halben Meter daneben, was Ricardo die Sache leichter machte. Gehalten. Albtraum.“
Jordet erzählte mir, dass die Spieler einen Elfmeter doppelt so schnell ausführen, wenn sie unter großem Druck stehen, und dass ein relativ großer Anteil der Spieler, die ihren Versuch schnell ausführen – wozu auch gehört, den Ball schnell zu nehmen und zurechtzulegen –, scheitern. Er zeigte mir ein Video von Marco van Basten, der in seiner Karriere mehr als 100 Elfmeter schoss. Er galt als bester Spieler der Welt, als er im EM-Halbfinale 1992 gegen Dänemark im Elfmeterschießen antrat. Van Basten legte sich den Ball viel schneller zurecht als sonst und scheiterte am dänischen Schlussmann Peter Schmeichel.
Eine Mannschaft, die kürzlich ein norwegisches Pokalfinale erreichte, wurde auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Das Spiel ging ins Elfmeterschießen. Zwei Spieler wurden fast verwarnt, weil sie sich so viel Zeit ließen – elf Sekunden –, bis sie schossen. Beide trafen. Jordet warnt davor, aus diesen Ergebnissen die falschen Schlüsse zu ziehen. Die Zahlen besagen, dass viele Spieler verschießen, weil sie einen Elfmeter überhastet ausführen. Umgekehrt heißt das aber nicht, dass sie umso wahrscheinlicher treffen, desto mehr Zeit sie sich lassen. „Fünf bis zehn Sekunden zu warten, kann wieder andere psychische Herausforderungen heraufbeschwören, mit denen der Spieler umzugehen hat, beispielsweise, sich zu viele Gedanken über den Bewegungsablauf zu machen. Mein Rat wäre, eine überhastete Ausführung zu vermeiden, indem man den Spielern einfach nahelegt, vor dem Schuss noch einmal tief durchzuatmen, für eine Sekunde oder eine halbe, nicht unbedingt mehr.“
Da die durchschnittliche Trefferquote vom Punkt etwa 78 % beträgt, ist bei jedem Elfmeterschießen mit einem Fehlschuss zu rechnen. Dieser Wert sinkt auf 71 % bei Weltmeisterschaften, was nach Jordets Auffassung ein Hinweis darauf ist, wie sich der erhöhte Druck auf die Spieler auswirkt. Für Mannschaften, die auf England treffen, steigt der Wert allerdings. Schauen wir uns noch einmal die Abbildungen 1 und 2 an. In den sieben Elfmeterschießen, die England bei Welt- und Europameisterschaften bestritten hat, trafen die Gegner 83 % (29 von 35) ihrer Schüsse. Die Engländer selbst verwandelten nur 66 % (23 von 35), und Jordet glaubt zu wissen, warum sie so weit unter dem Durchschnitt liegen.
„Die Ursachen für Englands Probleme mit Elfmetern sind mannigfaltig“, sagte er und ließ anklingen, dass auf Spieler in England höhere Erwartungen lasten als anderswo und sie sich schwertäten, damit umzugehen. „Der Druck steigert sich zudem aufgrund der Vergangenheit, denn je öfter man verliert, desto öfter verliert man. Der Druck aufgrund dieser Erwartungen und der Geschichte vervielfacht sich noch, denn England ist eines der am stärksten individualistisch geprägten Länder überhaupt und hat eine Medienlandschaft, die vor allem auf Sündenböcke aus ist.“4
Er leitete eine Studie, die sich mit den Leistungen der acht größten europäischen Nationen in Elfmeterschießen beschäftigte. Dann ermittelte er, wie oft die Torhüter die richtige Ecke ahnten. Wenn ein Torwart sich für die richtige Ecke entscheidet, steigen seine Chancen, den Elfmeter zu parieren, um rund 30 %.
Abbildung 7: Torhüter, die die richtige Ecke ahnen5
Gegen die Niederlande – 63 %
Gegen England – 58 %
Gegen Italien – 46 %
Gegen Deutschland – 46 %
Gegen Frankreich – 45 %
Gegen Tschechien – 37 %
Gegen Spanien – 35 %
Schnitt – 47 %
Gegen die Niederlande und England liegen Torhüter also häufiger richtig als falsch. Wie kann das sein? Sind holländische und englische Spieler leichter zu durchschauen? Was haben sie gemeinsam, das Tschechen und Spanier nicht haben? Es ist nicht das Abwenden (was nur 17 % der holländischen Spieler tun) und auch nicht die übereilte Ausführung, denn darin sind die Engländer zwar die Schnellsten, aber auch die Tschechen haben es ziemlich eilig. „Bei diesen Zahlen spielt das Glück eine gewisse Rolle“, erläuterte Jordet, „und ich schätze, England hatte in der Vergangenheit einfach eine Menge Pech.“ Aha, also doch alles eine Sache des Glücks! All die Trainer, die nach Niederlagen das Elfmeterschießen abfällig als „Lotterie“ bezeichneten, hatten also recht!
Nicht ganz.
„Man kann den Faktor Glück nie ganz ausschließen. Dazu gehört, wer den Münzwurf gewinnt, welche Mannschaft auf ihre sichersten Schützen zurückgreifen kann und dergleichen“, ergänzte Jordet. „Ich sehe ein, dass man nicht alles kontrollieren kann und auch großartige Spieler scheitern können. Ein Stück weit ist es eine Lotterie, aber man kann einiges tun, um seine Chancen erheblich zu verbessern.“
In Schweigen hüllte sich Jordet bei unseren beiden Treffen lediglich bei meiner Frage, für welche Mannschaften er gearbeitet habe. Diskretion sei ein so wichtiger Aspekt seines Jobs, antwortete er, dass er die Identität seiner Auftraggeber niemals preisgebe (allerdings hatte er einen Wimpel des AC Mailand an seiner Bürowand hängen).
„Aber es stimmt doch, dass sie für die holländischen Juniorenteams gearbeitet haben?“, bohrte ich weiter. „Richtig, aber ich habe nie darüber gesprochen, bis Trainer Foppe de Haan es publik gemacht hat. Allen anderen gegenüber bin ich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet.“ Es könnte also sein, dass Jordet bereits für die englische Mannschaft tätig ist. Schwer zu sagen, er hat ein gutes Pokerface.
Jordet begann nach seinem Umzug nach Groningen für den niederländischen Verband zu arbeiten und zählte bei der U20-WM 2005, die in den Niederlanden ausgetragen wurde, zum Betreuerteam. „Ich versuchte zu vermitteln, dass Elfmeter etwas Positives seien. Ich erzählte den Spielern, dass Elfmeter eine Chance darstellten, sich auszuzeichnen, aber das klappte nicht so richtig.“ Holland schied im Viertelfinale gegen Nigeria durch ein 9:10 im Elfmeterschießen aus. „Während ich zuschaute, dachte ich: ‚Die lassen mich nie wieder für sich arbeiten, die lassen mich nicht mal mehr ins Land.‘“ Weit gefehlt: 2007 wandte sich de Haan erneut an Jordet, damit er ihm bei den Vorbereitungen auf die U21-EM half. Jordet hatte inzwischen ein neues Programm entwickelt. „Ich ermittelte, durch welche Verhaltensweisen die Spieler ihre Erfolgsaussichten steigern könnten. Denn nur darum geht es ja: ihre Chancen zu verbessern.“ Jordet konzentrierte sich bei seiner Arbeit mit den Spielern auf zwei Strategien:
1.Nimm dir eine zusätzliche Sekunde Zeit.
Jordet zeigte den Spielern van Bastens überhastet ausgeführten Elfmeter aus dem Halbfinale der EM 1992 – sie waren noch Knirpse, als das passierte – und erläuterte ihnen das Diagramm, das zeigte, dass die englischen Spieler auf den Pfiff des Schiedsrichters fast so schnell reagierten wie Usain Bolt auf die Startpistole. Er erklärte den Spielern, wie wichtig es sei, sich Zeit zu lassen. „Wenn ich zu einem Elfmeter antrat, ruhte ich mich einen Moment aus, atmete tief durch und wusste genau, wohin ich den Ball schießen wollte“, sagte Gianni Zuiverloon, dem damals im Halbfinale der U21-EM gegen England die Aufgabe zukam, in einem dramatischen Elfmeterschießen den 32. und letzten Schuss auszuführen. Das Spiel war 1:1 nach Verlängerung ausgegangen, nach je fünf Elfmetern stand es 4:4, und die Holländer hatten durch Arnold Kruiswijk und Daniël de Ridder bereits zwei Chancen vergeben, das Spiel für sich zu entscheiden. Zuiverloon hatte schon in der siebten Runde verwandelt und besorgte mit seinem zweiten Treffer den Endstand von 13:12.
„Sich Zeit zu nehmen, bedeutet keine Treffergarantie, aber zumindest verschießt man nicht wie so viele andere Spieler aus meinen Studien, weil man sich nachlässig und unachtsam auf den Schuss vorbereitet hat“, betonte Jordet. „Indem man sich auf eine Strategie konzentriert, die auf gesicherten Daten basiert, hat man sich selbst und die Situation gleich besser im Griff und erhöht seine Erfolgsaussichten. Sich eine Sekunde mehr Zeit zu nehmen, um durchzuatmen, wirkt entspannend und erhöht die Konzentration, und wenngleich es die Spieler nicht direkt in einen meditativen Zustand versetzt, kann es die nachteiligen Auswirkungen von Stress ein wenig dämpfen.“
Nach dem Spiel analysierte Jordet Blickverhalten und Reaktionszeiten beider Mannschaften während des Elfmeterschießens. Zufrieden stellte er fest, dass die holländischen Spieler seinem Rat gefolgt waren. Jeder der holländischen Spieler blickte auf den Torwart, während sie nach dem Zurechtlegen des Balls ein paar Schritte zurückgingen; fast 40 % der englischen Spieler hingegen wählten eine Vermeidungsstrategie und schauten weg. Die Holländer ließen sich außerdem mehr Zeit, bevor sie den Ball schossen: Ihre durchschnittliche Reaktionszeit nach dem Pfiff des Schiedsrichters lag bei rund einer Sekunde, gegenüber 0,51 Sekunden bei den Engländern, womit die sich immerhin doppelt so viel Zeit ließen wie ihre älteren Kollegen.
Abbildung 8
2.Lege dir eine Misserfolgsstrategie zurecht.
Den schlechtesten Vortrag, den er je gehalten habe, erinnerte sich Jordet immer noch beschämt, war der an der Universitätsklinik Groningen zum Thema Leistung unter Druck. Er hatte eine Woche in der Klinik verbracht, um sich ein Bild von dem Druck zu machen, dem Chirurgen ausgesetzt sind. Er erfuhr, was passiert, wenn sie Fehler machen, und wie sie mit dem Scheitern umgehen und es bewältigen. Jordet wollte zeigen, was Chirurgen von Fußballern lernen könnten, aber als es so weit war, seine Erkenntnisse vorzutragen, wurde ihm klar, dass es genau umgekehrt war: Fußballer konnten vielmehr von Chirurgen lernen. Er hatte es vermasselt. Der Vortrag war ein Reinfall. Es kann jedem passieren, selbst den Experten.
Jordet lernte aus der Erfahrung und fand heraus, dass Fußballern nie erklärt wurde, wie sie mit Fehlern umgehen sollten. Das galt zumindest für diejenigen, mit denen er gearbeitet hatte. Als Beispiel führte er das Elfmeterschießen zwischen Schweden und Holland bei der EM 2004 an. Es gibt ein Bild von Mellberg, wie er nach seinem Fehlversuch zu seinen Teamkollegen geht. Sie stehen zu neunt an der Mittellinie, Arm in Arm, wie eine undurchdringliche gelbe Wand. Mellberg kommt näher, den Blick zu Boden gerichtet, sichtlich mitgenommen. Die Wand rührt sich nicht. Die Wand ist kein einladender Ort.
Jordets Anleitung zum „Fehlermanagement“, das er aus seiner Fallstudie in der Klinik ableitete, war einfach:
1.Akzeptiere deine Fehler.
2.Erfolg führt zu Selbstzufriedenheit.
3.Antizipiere kleine Fehler, bevor sie passieren.
„Es gab keinerlei spezielle Betreuung, keinen Plan für den Fall einer Niederlage, also stellte ich vor der U21-EM einen Plan auf“, sagte er. Jordet hatte festgestellt, dass die meisten Mannschaften sich während des Elfmeterschießens an oder hinter der Mittellinie aufhielten. Er riet den Holländern, sich vorne im Mittelkreis aufzustellen, Arm in Arm. Traf ein Mannschaftskollege, sollten sie ausgelassen jubeln, um das Selbstvertrauen innerhalb der Gruppe zu stärken. Noch wichtiger aber war die Anweisung, wie sie sich verhalten sollten, wenn ein Mitspieler vergab. Er riet den Spielern, dem Kollegen entgegenzugehen und ihn wieder in die Gruppe aufzunehmen. Laut Regeln haben sich die Mitspieler während des Elfmeterschießens im Mittelkreis aufzuhalten, und Jordet ermahnte sie, „den Schiedsrichter zu respektieren“, aber der entscheidende Punkt war, auf den Spieler zuzugehen, um ihn gleich wieder in die Gruppe zu integrieren. Das sollte nicht nur den Spieler, der verschossen hatte, trösten, sondern auch dem nächsten Schützen signalisieren, dass es für den Fall, dass auch er scheiterte, einen bestimmten Umgang miteinander gab. Dadurch sollte ihm etwas von seiner Nervosität genommen werden.
In der neunten Runde, als Kruiswijk die erste Chance für die Holländer, das Elfmeterschießen zu gewinnen, vergab, reagierten die Spieler verärgert, bevor ihnen schnell wieder Jordets Anweisung einfiel. Dann gingen sie dem Kollegen entgegen, um ihn wieder in die Gruppe aufzunehmen. Holland gewann letztlich das Turnier. Nach den Feierlichkeiten stellte Jordet einen Studenten ein, um mit jedem einzelnen Spieler über die Erfahrung zu sprechen. Er zeigte mir eine Auswahl ihrer Aussagen.
„In fast jedem Elfmeterschießen gibt es einen Fehlversuch.“
„Es ist ganz normal, hin und wieder einen Elfmeter zu verschießen.“
„Niemand vergibt absichtlich einen Elfmeter.“
Aber die hilfreichste Lektion, die Jordet ihnen erteilt hatte, da waren sich alle einig, war diese: „Wir hatten einen Plan für den Fall, dass einer scheitert.“ Ich bohrte weiter. Unabhängig davon, ob er bereits für sie tätig war oder nicht, was würde er tun, um die Probleme der Engländer zu lösen? „Ich würde das Gegenteil von dem tun, was derzeit getan wird“, antwortete er. „Wie jede Mannschaft versuchen sie, ihre Probleme zu verdrängen, statt sich ihnen zu stellen. Auch die Trainer gehen der Sache lieber aus dem Weg: Sie wollen nicht darüber reden, sie wollen nicht richtig trainieren und beschäftigen sich erst dann mit dem Thema oder messen ihm Bedeutung bei, wenn es akut wird. Ich würde den Spielern bewährte Strategien an die Hand geben, um ihre Erfolgsaussichten zu verbessern. Außerdem würde ich sie aufs Scheitern vorbereiten, so dass sie wissen, was zu tun ist, wenn ein Spieler verschießt. Sie müssen darauf achten, ihre Elfmeter nicht überhastet auszuführen. Und sie müssen den Unterschied begreifen zwischen Elfmeter trainieren und sich auf Elfmeter vorzubereiten.“
Er zeigte mir eine Aufnahme, die während einer Trainingseinheit der Engländer bei der WM 2006 entstand. Steven Gerrard führt einen Elfmeter aus, alle anderen Spieler stehen um den Strafraum herum und warten, dass sie an der Reihe sind. „Elfmeter zu trainieren, ist sinnlos, wenn es planlos geschieht“, kommentierte Jordet. „Das Bild sieht einfach falsch aus. Das ist kein Elfmeterschießen. Man schießt keine Elfmeter, während alle anderen um einen herumstehen. Etwas unter Bedingungen zu trainieren, die viel einfacher sind als im tatsächlichen Wettkampf, hat mit guter Vorbereitung nichts zu tun. Natürlich haben die Spieler beim Gang zum Elfmeterpunkt Bammel, wenn sie es nicht vorher im Training geübt haben.“
Vor der EM 2012 nahmen die englischen Spieler nach jedem Training an einem kleinen Elfmeterwettbewerb teil. Sechs Spieler gegen jeden der drei Torhüter, jeder drei Schüsse, und das nach jeder Einheit. Ihre Bilanzen wurden ausgewertet. Aber wurde so etwas wie Matchbedingungen simuliert? Wurde über die Lautsprecher Zuschauerlärm eingespielt, wie es die Tschechoslowaken 1976 taten? Mussten die Spieler vor dem Schuss von einem Elfmeterpunkt zum anderen gehen, so wie es Guus Hiddink bei der WM 2002 die südkoreanischen Spieler machen ließ, einen Tag, bevor sie die Spanier im Elfmeterschießen bezwangen?
Hatte Jordet recht? Mir leuchtete das alles ein, aber andererseits hatte ich in meinem Leben weder für England gespielt noch, abgesehen von meinem brisanten Duell gegen Packie Bonner, einen wichtigen Elfmeter geschossen. Also suchte ich nach Antworten bei dem Spieler, der die beste Elfmeterbilanz in den fünf größten europäischen Ligen aufwies: Rickie Lambert. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung hatte der damalige Stürmer des FC Southampton seine letzten 33 Versuche vom Punkt erfolgreich verwandelt.
Lambert kennt sich mit Elfmetern also aus. Lebhaft erzählte er von Beispielen aus der Vergangenheit: wie Dida vom AC Milan den Schuss von John Arne Riise im Champions-League-Finale 2005 parierte oder wie Pepe Reina als erster Torwart überhaupt einen Elfmeter von Mario Balotelli vereitelte. Er erinnerte sich, wie er mit gerade einmal acht Jahren die Niederlage der Engländer gegen Deutschland bei der WM 1990 am Fernseher verfolgte, und gestand, dass er an der Pleite von 1996 lange zu knabbern hatte. Verständlicherweise wollte er das Geheimnis seiner erstaunlichen Elfmeterbilanz nicht preisgeben, war aber gespannt auf Jordets Erkenntnisse. Diese kommentierte er wie folgt:
1.Die Last der Geschichte: Je mehr Elfmeterschießen in der Vergangenheit verloren wurden, desto wahrscheinlicher ist es, einen Elfmeter zu verschießen.
„Ich werde die Zahlen nicht anfechten, aber für mich würde ich das ausschließen. Wenn man mit neuen Spielern in ein Turnier geht, sollte die Vergangenheit keine Rolle spielen. Ich kann verstehen, warum es manchen Spielern dennoch so geht, aber bei mir wäre das nicht der Fall.“
2.Abwendung vom Torhüter als Vermeidungsstrategie.
„Wenn ich den Ball zurechtgelegt habe, gehe ich rückwärts eine bestimmte Zahl von Schritten zu meinem Anlaufpunkt. Sich abzuwenden, ist durchaus ein Zeichen von Nervosität, würde ich sagen. Vielleicht möchte der Schütze den Blickkontakt mit dem Keeper vermeiden, falls der auf Psychospielchen aus ist. Das könnte ich durchaus nachvollziehen.“
3.Reaktionszeit nach der Freigabe durch den Schiedsrichter.
„Das ist definitiv eine Frage der Nerven. Das eine oder andere Mal war ich nervös vor einem Elfmeter und habe mich zu sehr beeilt. Ein bisschen aufgeregt ist man immer, es hängt vieles davon ab, wie selbstbewusst man zum jeweiligen Zeitpunkt ist. Ich gehe die Sache wie einen Freistoß aus elf Metern an, und als Profi sollte man in der Lage sein, aus dieser Distanz zehn von zehn Versuchen zu treffen. Wenn man den Ball also gut trifft, sollte alles okay sein. Sobald man anfängt, darüber nachzudenken, wohin der Torwart springen könnte oder dass er vielleicht halten könnte, ist der schon im Vorteil. Aber es ist sicherlich richtig, dass man sich umso mehr beeilt, je nervöser man ist.“
4.Englands Torhüter haben eine schwache Haltequote.
„Ich denke, da ist nichts dran. Die englischen Keeper hatten einfach das Pech, dass sie es mit gut geschossenen Elfmetern zu tun bekamen. Denken sie nur daran, wie gut die Elfmeter der Deutschen bei der WM 1990 oder der Portugiesen bei der EM 2004 waren! Ich erinnere mich nicht, bei einem der Schüsse gedacht zu haben, dass der Torwart den hätte halten können. Für die Torhüter ist das immer auch Glückssache, sie müssen spekulieren und in die richtige Ecke springen. Klar, sie haben vielleicht Videoanalysen gesehen, aber trotzdem müssen sie sich für eine Ecke entscheiden und den Schuss abwehren. Als Schütze möchte man es dem Keeper nicht zu leicht machen, aber wenn er einen Schuss pariert, der direkt neben dem Pfosten eingeschlagen wäre, dann muss man einfach den Hut ziehen und sagen: ,Klasse Parade!‘ Wenn der Torhüter kein Elfmeterkiller ist, erhöht das allerdings den Druck auf die eigenen Schützen. Ich versuche immer so zu schießen, als würde der Keeper die richtige Ecke ahnen, so dass er selbst dann keine Chance hat, wenn er es tatsächlich tut.“
5.Gegnerische Torhüter ahnen gegen England zu 58 % die richtige Ecke, gegen Spanien zu 46 % und gegen Deutschland zu 35 %.
„Auch das scheint mir eher eine Sache des Glücks zu sein. Nicht viele Torhüter sind in der Lage zu warten, bis der Ball geschossen wird, und dann in die richtige Ecke zu springen. Der Torwart entscheidet sich normalerweise vorher oder im Moment der Ballberührung, deswegen glaube ich, dass diese Zahlen eher auf Zufall basieren.“
Lambert hielt auch wenig von der Idee, eine Misserfolgsstrategie zu implementieren. „Für seinen Verein zu verschießen, ist etwas ganz anderes, als für sein Land zu verschießen. Im Klub kann man den Fehler wahrscheinlich recht schnell wieder gutmachen, aber für sein Land erhält man möglicherweise keine zweite Chance, und nirgends steht geschrieben, wie man sich fühlt, wenn man verschießt. Ich könnte mir vorstellen, dass einem das in letzterem Fall emotional viel mehr zu schaffen macht.“
Und wie wäre es, sich vorher mit einem Psychologen zusammenzusetzen und für den Fall der Fälle eine Bewältigungsstrategie zu entwickeln? „Soll das ein Witz sein? Wäre ich Trainer und hörte jemanden darüber reden, wie man mit einem Fehlversuch umzugehen hat, würde ich ihn sofort vor die Tür setzen. Es sollte nur darum gehen, zu treffen und wie man sich dann fühlt. Sonst nichts.“
Lambert hat alle vier Elfmeterschießen gewonnen, an denen er beteiligt war: zwei für die Bristol Rovers, wo er jeweils dritter Schütze war und traf, und zwei für Southampton, wo er jeweils als Erster antrat und verwandelte. Ich erzählte ihm, wie enttäuscht Le Tissier war, 1998 nicht für die WM berücksichtigt worden zu sein, und fragte ihn, was er von der Idee hielt, in der Verlängerung einen Elfmeterspezialisten zu bringen. „Ein Spezialist brächte das nötige Selbstvertrauen mit, aber es wäre besser, wenn er schon vorher am Spielgeschehen beteiligt gewesen wäre“, sagte Lambert. „Man braucht Ballkontakte, um Selbstvertrauen zu tanken und ein Gefühl für den Ball und den Platz zu bekommen. Ein Gefühl für den Platz zu bekommen, klingt komisch, ist aber wichtig. Es ist für einen Spieler nicht einfach, kalt in die Partie zu kommen – er wäre lieber schon vorher auf dem Platz.“
Lambert pflichtete Jordet und Michael Owen darin bei, dass die Medien, wenn auch vielleicht unbewusst, ihren Teil dazu beitragen, den Druck zu erhöhen. „Es gilt die Devise: Gute Nachrichten sind schön und gut, aber schlechte Nachrichten sind noch besser“, stellte er fest. „Die Spieler wissen, dass sie in den Zeitungen hierzulande zerrissen werden, wenn sie verschießen – ich glaube kaum, dass sich die Spieler in anderen Ländern den Kopf darüber zerbrechen müssen.“
„Man kann die Wirklichkeit nicht zu 100 % nachstellen, das ist klar, aber wir können versuchen, 70 % oder 80 % zu erreichen“, erzählte mir Jordet. „Es geht darum, mit der richtigen Einstellung an die Sache heranzugehen. Spieler, die regelmäßig Elfmeter schießen, bringen diese Einstellung schon mit. Deswegen sind für mich die anderen, die nicht so häufig vom Punkt antreten, interessanter.“ Ein Blick auf die Spieler, die für England entscheidende Elfmeter verschossen haben – Waddle, Southgate, Batty, Vassell, Carragher, Ashley Cole –, deutet darauf hin, dass es sich für die Mannschaft durchaus lohnen könnte, Jordet mit unerfahrenen Elfmeterschützen arbeiten zu lassen. „Bei diesen Jungs ist es eine rein mentale Sache. Die Faszination des Elfmeterschießens ist, dass die Psychologie dabei die entscheidende Rolle spielt.“