Читать книгу Der letzte Weg des Dr. Dembski - Benedict Dana - Страница 4
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ОглавлениеAls David einen Monat später am frühen Morgen in dem Hotel „La Maison Rouge“ in Brooklyn erwachte, dauerte es nicht lang, bis das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte. Die Art des Klangs ließ ihn sofort vermuten, dass es wahrscheinlich der Anruf seines Kontaktmannes war.
Die Bezeichnung „Hotel“ war für das „Maison Rouge“ etwas übertrieben, da es nur ein dreistöckiges Gästehaus mit nicht mehr als 30 Zimmern und einem kleinen französischen Restaurant im Erdgeschoss war, das seinen Namen wegen seiner Farbe und den vielen typischen rötlichen Backsteinbauten im Stadtteil Williamsburg trug. Es handelte sich um keine besondere Gegend, weshalb er bei seiner Ankunft erstaunt darüber gewesen war, wie fein das Hotel im Inneren herausgeputzt war, so als hätte man bewusst ein Stück höhere französische Lebensart in eine unscheinbare Hülle nach Brooklyn verpflanzt und damit ein besonderes Experiment gewagt.
Der Kontaktmann der „Independent Internet Incorporation“ (I.I.) wollte offensichtlich keine Minute Zeit verlieren und bereits am frühen Morgen zur Sache kommen, noch bevor der Gast aus Washington sein Zimmer zum Frühstücken verlassen hatte. Der Unbekannte hegte aus natürlicher Vorsicht großes Misstrauen, was absolut nicht unbegründet war. Es war nämlich jederzeit damit zu rechnen, dass einer der Geheimdienste versuchen würde, dem unliebsamen Internet- und Telefonkonzern ein faules Ei in das Nest zu legen, weil dessen Grundprinzipien von Freiheit und Unabhängigkeit bestimmten Kreisen ein Dorn im Auge waren.
David war noch so verschlafen, dass er sich erst im letzten Moment auf seinen Decknamen „Albert Burke“ besann, bevor er an das Telefon ging.
“Hier spricht Emerson. Herzlich Willkommen in New York, Mr. Burke! Geht es Ihnen gut? Wie haben Sie geschlafen?“, schlug ihm die Stimme seines Kontaktmannes sofort so nah und intim entgegen, als müsste es eine private Verbindung sein, die vom Hotel direkt in eines der Büros im Independent Internet-Tower in Manhattan ging. Dem Namen nach handelte es sich um die Person, mit der er vor drei Wochen den ersten Kontakt per Email aufgenommen hatte, allerdings glaubte er natürlich nicht, dass dieser Name echt sein könnte.
„Fantastisch, Mr. Emerson, fantastisch. Dieses Hotel muss ein wahrer Geheimtipp sein – ich werde es in meinem Freundeskreis weiterempfehlen. Allerdings habe ich bis jetzt noch nicht das Frühstück probiert“, antwortete er in einem etwas übertriebenen und blasierten Tonfall, so als müsste er ein Millionär auf Weltreisen sein, der überall immer nur den besten Komfort gewohnt war. Ihm war es lieber irgendeine Rolle zu spielen, als etwa Unsicherheit zu zeigen, wodurch er von vornherein in die unterlegene Position geriet.
„Das freut uns, Mr. Burke. Sie sollten dieses Hotel als ein besonderes Haus betrachten, in dem nicht jeder aufgenommen wird. Sie sind sozusagen unserer Ehrengast, bis wir uns sicher sind, Ihnen absolut vertrauen zu können. Vielleicht wird sich dies schon heute Abend herausgestellt haben.“
Der Stimme war deutlich anzumerken, ernsthaft um Freundlichkeit und Kooperation bemüht zu sein, damit der „Ehrengast“ bei Laune blieb – schließlich hatte dieser etwas anzubieten, was sehr wertvoll war. Die Dateien, die „Mr. Burke“ bei sich hatte, besaßen womöglich mehr Brisanz als alle, die irgendein Whistleblower jemals zuvor in die Welt hinaus „gepfiffen“ hatte.
„Mr. Emerson, hören Sie mir jetzt bitte sehr genau zu. Ich möchte, dass Sie Ihrem Chef folgendes mitteilen, bevor es zu einer Übergabe kommt. Wenn er mich nicht persönlich anhört, werde ich einfach wieder nach Hause zurückfahren:
Vor einem dreiviertel Jahrhundert ist ein kleiner, jüdischer Schauspieler in Auschwitz zugrunde gegangen und hat zuvor seinen Nachfahren den Auftrag gegeben, unablässig für die Freiheit zu kämpfen. Erst Jahrzehnte später konnte sich ein Nachfahre auf diesen Auftrag besinnen und dieser Nachfahre hat einen großen jüdischen Ehrgeiz daran gesetzt, ihn auf eine angemessene und würdige Art zu erfüllen.“
David wunderte sich plötzlich selber über seine Worte, die ihm - noch immer im Bett liegend - fast ganz von allein über die Lippen gekommen waren, was auch daran lag, dass der berühmte Leo Abrahams, der oberste Kopf von Independent Internet, selber Jude war. Er hatte durch die wenigen Sätze bereits ziemlich viel über sich selbst verraten, aber aus irgendeinem Grund hatte er Emersons Stimme sofort Vertrauen geschenkt. Natürlich hätte die Einladung in das „Maison Rouge“ auch eine groß angelegte Täuschung sein können, die von irgendeinem der Geheimdienste eingefädelt worden war, nachdem man seine Email an Independent Internet abgefangen hatte.
„Ich danke Ihnen sehr für diese ungewöhnliche Mitteilung, Mr. Burke. Ich versichere Ihnen, wir nehmen alles, was Sie betrifft, sehr ernst und deshalb werde ich Ihre Nachricht noch heute weiterleiten. Für den nächsten Schritt müssen Sie uns jedoch ein bisschen Zeit geben, bis wir uns über Sie etwas mehr im Klaren sind. Lassen Sie es sich solange in ihrem Hotel gut gehen – die Rechnung zahlen selbstverständlich wir!“
Emerson redete mit einer Aussprache und Höflichkeit, die höhere Bildung durchblicken ließ, weshalb David vermutete, es mit einem leitenden Angestellten von „Independent Internet“ zu tun zu haben. Er hielt es plötzlich für nötig, noch eine ernsthafte Warnung auszusprechen.
„Falls Sie Nachforschungen über mich anstellen wollen, sollten Sie das entweder sehr, sehr vorsichtig tun oder es am besten gleich unterlassen. Ich fühle mich dazu verpflichtet Sie darüber zu informieren, dass ich ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter bin. Denken Sie bitte immer daran, Mr. Emerson, denn Sie könnten mit Ihren Nachforschungen einen schlafenden Riesen wecken. Eigentlich dürften wir nicht einmal telefonieren! Für wie sicher halten Sie diese Leitung?“
„Eine sicherere Leitung gibt es in New York nicht. Ich halte sie für so sicher, dass das Spiel mit Decknamen eigentlich überflüssig ist. Ich fühle mich sogar frei genug Ihnen zu verraten, dass wir diese Leitung selbst installiert haben, weil das Hotel zum Firmenbesitz zählt. Diese erste, kleine Information haben Sie sich durch Ihr Vertrauen in uns bereits verdient, Mr. Burke“, verriet „Emerson“ mit unverhohlenem Stolz.
„Wenn Sie so sicher sind, dass man an diesem Apparat frei reden kann, möchte ich Ihnen folgendes sagen: Mich wundert ein wenig, wie sehr Sie auf Ihre interne Sicherheit vertrauen. Wie ich vor einigen Monaten in der Zeitung lesen musste, wurde ihrem größten Computerzentrum durch die NSA das Regin-Spionagesystem untergeschoben. Wenn ich mich recht entsinne, hat daraufhin Ihr Chef in aller Öffentlichkeit erwogen, seinen Firmensitz in das Ausland zu verlegen. Er muss wirklich sehr erbost gewesen sein – jeder vernünftige Mensch kann das natürlich nachvollziehen!“
„Verfügen Sie diesbezüglich über spezielle Informationen?“
Der anonyme Anrufer hatte plötzlich eine ungewöhnliche Schärfe in seiner Stimme und zeigte sich an dieser Frage ganz besonders interessiert.
„Nein, nein, beruhigen Sie sich, Mr. Emerson. In dieser Sache bin ich nur der kleine Leser einer Zeitung, der wie Millionen anderer braver Bürger die Meldungen der Massenmedien als Basis seiner Informationen nehmen muss. Ich wollte nur ein passendes Beispiel dafür finden, wie schlecht es mit der Sicherheit heutzutage leider oft bestellt ist.“
Erst jetzt verließ David endgültig das Bett und ließ sich auf einem Sessel neben dem Telefon nieder, um fortzufahren:
„Leider kann man in einer Welt, die längst von unzähligen geheimen Machenschaften unterwandert ist, absolut niemandem mehr vertrauen, und selbst die, die für die Freiheit einstehen, müssen untereinander misstrauisch sein. Es wäre doch schön, wenn wir einfach aufeinander zugehen könnten, dann bräuchte ich nicht lange in diesem Hotel zu sitzen und könnte bald wieder nach Hause fahren!“
„Haben Sie schon einmal über das alte Wort Divide et Impera nachgedacht, Mr. Burke? Spalte und Herrsche lautet die Devise all der Kräfte auf dieser Erde, welche die Freiheit der Menschen zerstören! Meiner persönlichen Überzeugung nach ist es in der Summe nichts Anderes als die Macht Satans, die genau diese Spaltung der Menschen untereinander bewirkt und sie dadurch viel zu oft zu Feinden macht, die bereitwillig in eine Menge kleiner und großer Kriege ziehen. Wobei es natürlich Definitionssache ist, was man genau unter Satan verstehen will…
Aber verzeihen Sie mir bitte, wenn ich bereits am frühen Vormittag etwas philosophisch werde. Es ist manchmal so meine Art.“
„Sie scheinen ein nachdenklicher Mann zu sein und Prinzipien zu haben“, wunderte sich David über Emerons tiefsinnigen Ton. „Ich hoffe nur, dass sich mir Ihr Chef ebenfalls als Mann mit Prinzipien und höheren Überzeugungen erweist. Das könnte manches zwischen uns vereinfachen und wir bräuchten uns nicht so zu verhalten, als ob wir Gegner wären.“
„Mein Chef ist ein wandelndes, lebendiges Prinzip, Mr. Burke. Dieser Mann verkörpert alles an höheren Werten, was Andere, die auf diese Art groß im Geschäft sind, längst über Bord geworfen haben. Sie haben sich also genau an die richtige Adresse gewandt und natürlich glaube ich nicht, dass dies aus Zufall geschehen ist.
Aber nun frühstücken Sie erst einmal! Heute Nachmittag werden wir Ihnen dann eine junge Dame vorbeischicken, die sich mit Ihnen ein bisschen die Zeit vertreiben wird. Vielleicht haben Sie Lust mit ihr in ein Theater am Broadway zu gehen oder sonst etwas zu tun. Sie sollen sich bei uns wohl fühlen, Mr. Burke. Diese Dame wird für ein oder zwei Tage unsere Vertreterin sein und am Ende hoffentlich der Ansicht sein, dass man Ihnen voll vertrauen kann.“
Emerson klang plötzlich aalglatt und geschäftsmäßig; es passte nicht recht zu dem, was er vorhin im Zusammenhang mit „Divide et Impera“ gesagt hatte. David ahnte sofort, was dieser Besuch zu bedeuten hatte: Diese „Vertreterin“ war wahrscheinlich eine attraktive, clevere, junge Dame, die seine Glaubwürdigkeit mit ihren eigenen Methoden überprüfen würde, während man bei Independent Internet noch solange recherchierte, bis man mindestens seine richtigen Namen herausgefunden hatte.
„Ich werde auf keinen Fall darauf verzichten, Ihren Chef persönlich zu sehen!“, insistierte er nachdrücklich auf seiner wichtigsten Bedingung.
„Der Besuch unserer Vertreterin ist unverzichtbar für uns, das müssen Sie verstehen. Sie arbeitet übrigens als unabhängige Person, weshalb wir für ihr Tun keinerlei Verantwortung übernehmen. Sie wird heute gegen 3 Uhr in der Hotelhalle auf Sie warten und sich zu erkennen geben. Ich selber rufe Sie zur gegebenen Zeit wieder auf diesem Telefon an. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Mr. Burke!“
David konnte gerade noch eine kurze Floskel zum Abschied sagen, da hatte der unbekannte Anrufer schon wieder aufgelegt. Plötzlich war alles ziemlich schnell gegangen und er war mit vielen neuen Gedanken mit sich allein.
Nach längerem Nachdenken zog er sich an und ging hinunter in das kleine Restaurant. Als er beim Frühstück saß, reifte in ihm der Entschluss, die vier Festplatten, die sich in seinem Koffer befanden, im Safe des Hotels einschließen zu lassen. Falls ihm in New York irgendetwas zustoßen sollte, würden sie so früher oder später in die Hände von Independent Internet gelangen.
Im Grunde hätte es genügt, danach einfach wieder nach Hause in sein Strandhaus auf Fenwick Island zu fahren, dort das Ende einer schönen Sommersaison zu genießen und nur noch eine Email an Emerson zu senden, in der er den Safe des „Maison Rouge“ als das Versteck seiner brisanten „Ware“ aus Langley verriet. Es war die Ahnung, die Hilfe eines mächtigen Verbündeten wie Leo Abrahams vielleicht irgendwann einmal nötig zu haben, die ihn davon abhielt.
Hätte sich diese Ahnung plötzlich in einen klaren Blick in die unmittelbare Zukunft verwandelt, wäre er womöglich direkt nach dem Frühstück mit seinem Wagen zur Verrazano-Narrows-Bridge zurückgefahren und hätte seinen Koffer mitsamt des brisanten Inhalts an der Mündung des Hudson River tief in das Meer versenkt…
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Die attraktive Frau, die pünktlich um 15 Uhr kerzengerade auf dem einzigen Sofa in der Hotellobby des „Maison Rouge“ saß, zog mit ihren langen blonden Haaren und ihrem schlichten, weißen Baumwollkostüm schon seit ein paar Minuten die bewundernden Blicke aller vorbeigehenden Männer auf sich. Sie wirkte trotz einer Spur von Vornehmheit durch ihre helle und frische Ausstrahlung für New Yorker Verhältnisse ziemlich natürlich und hatte kaum etwas von der kühlen Unnahbarkeit an sich, hinter der hübsche Frauen gern ihr wahres Wesen verbargen. Dabei schien sie so seriös zu sein, als könnte sie eine leitende Angestellte oder sogar eine wichtige Managerin bei „Independent Internet“ sein.
David schätzte sie sofort als eine vielseitig begabte Persönlichkeit ein, die über erheblich mehr Qualitäten als nur ihr Aussehen verfügte, während sie wiederum gleich erkannte, mit was für einem Typ von Mann sie es bei ihm zu tun bekam, als er in seinem alten, braunen Tweedjackett langsam die Treppe hinunter schritt.
Als er sich als „Albert Burke“ vorstellte, lächelte sie mit satter Süffisanz und meinte:
„Mein Name ist Lydia Abramovitch. Wir beide können untereinander offen sein. Ein paar hochfliegende Spatzen haben es bereits sehr laut von den Dächern Manhattans herunter gepfiffen, dass Sie Dr. David Dembski sind, noch bevor ein erster Bericht über Sie heute Morgen auf meinem Computer eingetroffen ist. Aber freuen Sie sich darüber, denn ein charmanter Doktor ist mir allemal lieber als ein gewöhnlicher Mr. Burke, der sich vielleicht nicht richtig zu benehmen weiß…“
Bereits ihre ersten Worte hatten eine seltsame Wirkung auf ihn. Obwohl sie aus dem Mund einer Anderen etwas frech geklungen hätten, fühlte er sich durch ihr Lob irgendwie ermutigt, so als wäre er einer ihrer unzähligen Verehrer, dessen Chancen sie zu erobern um ein gutes Stück gestiegen waren. Natürlich wirkte hier bereits die angewandte, weibliche Psychologie, mit der Abramovitch seit Jahren erfolgreich operierte und schon ganz andere als ihn um den Finger gewickelt hatte.
„Ich möchte Sie der Form halber fragen, was genau Ihr Auftrag ist. Es wäre gut das gleich jetzt von Ihnen zu erfahren, damit wir nicht etwa die ganze Zeit aneinander vorbeireden“, verlegte er sich darauf sofort konkret zu werden. Er fürchtete ernsthaft in einem allzu lockeren Gespräch irgendwann die Kontrolle zu verlieren und von ganz alleine damit zu beginnen, der überaus attraktiven Frau übertriebene Komplimente zu machen.
„Zunächst lautet der Auftrag vor allem, Sie zu begleiten und Ihnen einen vergnüglichen Tag zu bereiten. Kommen Sie! Draußen wartet ein Wagen extra nur für Sie“, entgegnete sie mit entwaffnendem Charme und machte eine auffordernde Geste zum Ausgang hin.
Aus ihrem Mund klang diese Ankündigung äußerst viel versprechend und großzügig, weshalb er ihr ohne zu zögern nach draußen folgte und mit ihr in eine der typischen langen Mietlimousinen mit Chauffeur einstieg, wie man sie in den großen, teuren Hotels bekam.
„Um Ihnen meinen Auftrag näher auszuführen…“, begann sie das Gespräch erst fortzuführen, nachdem sie eine Weile gefahren waren und sie einen Knopf betätigt hatte, durch den die Trennscheibe zum Fahrer automatisch hochfuhr, „…möchte ich Sie zunächst ein wenig über die Verhältnisse in New York aufklären, Dr. Dembski. Da Sie früher in Langley waren, können Sie nicht völlig naiv sein und trotzdem werden Sie vielleicht nicht wissen, wie sehr diese Stadt von ihren eigenen Gesetzen regiert wird. Geheimdienste, die vom Staat finanziert werden, sind eine Sache, das private Kapital und die Geschäfte kleiner und großer Fische jedoch eine ganz andere. Wie überall gibt es natürlich auch in New York die Guten und die Bösen und ich muss Ihnen sicher nicht extra sagen, dass Leo Abrahams zu den Guten zählt, die ihr Kapital auf ehrliche Art aufgebaut haben und für die Prinzipien eines freien und unabhängigen Marktes einstehen.
Mein Auftrag lautet unter anderem den guten Ruf der Firma zu schützen, nicht zuletzt weil sie weltweit tausende Angestellte ernährt!“
Als der vornehme, weiße Wagen die Auffahrt auf die stark befahrene Interstate 278 nahm, unterbrach sie sich eine Weile, um dann fortzufahren:
„Der Auftrag Ihre, sagen wir, Geschenke aus Langley entgegenzunehmen und an geeignete Stellen weiterzugeben, wurde mir übertragen, da ich als selbstständige Privatperson juristisch unabhängig bin. Ich übernehme das volle Risiko und bekomme guten Lohn dafür, und nun liegt es an Ihnen, ob Sie damit einverstanden sind und alles in meine Hände legen. Man könnte sagen, ich bin die Firewall von Independent Internet, damit man sich dort nicht mit dem schlimmen Virus infiziert, den man Hochverrat nennt!“
„Sie klingen sehr geschäftsmäßig, Miss Abramovitch. Sie möchten mit etwas Handel treiben, bei dem es für mich um höhere Ideale, um den Kampf für die Freiheit geht“, wandte David voller Skepsis ein, obwohl alles, was sie sagte, plausibel klang.
„Mein persönliches Risiko wird bald nicht mehr geringer als Ihres sein und wenn ich von einem reichen Mann dafür entsprechend belohnt werde, muss dies doch für niemanden ein Schaden sein. Wie viel haben Sie im Monat bei der CIA dafür kassiert, dass Sie bei einer Vereinigung mitgewirkt haben, die dem Kampf für die Freiheit, von dem Sie da so großspurig reden, in vielen Fällen eher entgegengewirkt hat?“
Ihre kleine Stichelei führte zu einem angespannten Schweigen, bis sie die 495 erreicht hatten und bald darauf in den Hugh L. Carey Tunnel nach Manhattan hineingefahren waren. Das fahle Licht des Tunnels verführte ihn dazu, sich unauffällig die zarte und weiße Haut ihrer Schenkel unterhalb ihres Rocksaums anzusehen, woraufhin ihm die aufwändige Stickerei des Saums an diesem Tag so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte.
Als sie sich hinter dem Tunnel auf den FDR Drive einfädelten, um am rechten Rand der Halbinsel Richtung Norden zu fahren, erinnerte sie ihn daran, dass dieser Ausflug der Überprüfung seiner und nicht ihrer Glaubwürdigkeit diente.
„Sie haben den Wunsch geäußert Leo Abrahams persönlich zu sehen, Dr. Dembski. Glauben Sie denn ernsthaft, jeder könnte einfach so in den Independent-Internet-Tower spazieren, in den 100. Stock zur Chefetage hochfahren und ihm irgendeine undurchsichtige Geschichte präsentieren? Aus Ihrem gesamten Verhalten spricht, dass Sie kein richtiger Profi sind, und das allein ist der Grund, warum wir Ihnen etwas Vertrauen schenken. Mr. Abrahams würde nämlich normalerweise niemals freiwillig mit jemandem sprechen, der in irgendeiner Weise mit der CIA zu tun hat.
Er gehört übrigens zu den Unterzeichnern des bekannten Pamphletes, das damals das Vorgehen der Bush-Administration und der Geheimdienste seit 9/11 verurteilt hat und das von vielen Prominenten unterstützt worden ist.“
Der letzte Satz beeindruckte David, denn wenn jemand wie Abrahams ein solches Pamphlet unterschrieben hatte, war das ein öffentliches Bekenntnis, das Folgen haben konnte. Prominente Hollywood-Schauspieler nahmen einen gesellschaftlichen Sonderstatus ein und hatten politisch nicht viel zu verlieren, ein großer Geschäftsmann aber besaß viele Angriffsflächen und musste mit Schikanen wie etwa dem Regin-Spionagesystem rechnen.
„Sobald ich mich entschlossen habe, Ihnen die Geschenke – wie Sie es nennen – zu überreichen, können Sie ihren Inhalt sofort prüfen. Sie werden schnell feststellen, wie sehr dieser für sich selber spricht und keine CIA-Finte sein kann. Mr. Abrahams bleibt von all dem völlig unberührt. Ich möchte bloß einmal dem Mann in die Augen sehen, der sich in Zukunft für die Verbreitung einiger schwerwiegender Geheimnisse verantwortlich zeigt, bevor ich mich wieder zurückziehe und alles Weitere nur noch in den Medien verfolge.“
„Wie, Sie möchten sich elegant aus der Affäre ziehen und das Risiko anderen überlassen. David?“, ging sie plötzlich dazu über, ihn mit einer verführerischen Vertraulichkeit beim Vornamen zu nennen. Er ließ sich von ihrem spöttischen Lächeln nicht beirren und entgegnete:
„Sie wissen viele Dinge nicht und sollten nicht voreilig urteilen. Haben Sie schon einmal etwas von dem GOLIATH-Computersystem der CIA gehört? Dieses System führt ständig ein gigantisches Meer von Informationen zusammen und kann eines Tages Schlüsse ziehen, die plötzlich zu einem Verhör und einer Verhaftung führen.
Ich genieße einen gewissen Schutz, solange mein Partner noch an der Quelle sitzt und einige Manipulationen vornehmen kann. Aber die Risiken sind schon jetzt zu groß geworden, um sich noch wirklich sicher zu fühlen.“
„Wir alle tragen unsere Risiken, David.“
„Während Sie noch immer irgendwo in New York in einem komfortablen Apartment sitzen und all die Geldscheine zählen, die Ihnen Abrahams für die verschiedensten Aufträge zusteckt, könnte ich eines Tages am Fließband einer Fabrik in Area Zero stehen und jahrelang in die grauen und hoffnungslosen Gesichter namenloser Häftlinge sehen…“, malte er ein düsteres Bild seiner möglichen Zukunft und spielte mit „Area Zero“ auf ein amerikanisches Sondergefängnis an, das sich an der Grenze zu Mexiko befand und ähnlich wie Guantanamo einer eigenen Hoheitsregelung unterlag.
„Na, na, nun übertreiben Sie aber ein wenig, mein lieber David! So schlimm wird es schon nicht werden. Selbst wenn man Sie jemals verurteilen sollte, lässt man Sie doch eines Tages wieder frei. Noch leben wir nicht im George-Orwell-Staat! Oder gehören Sie zu den naiven Menschen, die denken, in anderen Ländern wäre es besser?“
Sie machte eine affektierte Handbewegung, bei der der teure Silberschmuck an ihrem Handgelenk einen besonders verführerischen Kontrast zu ihrer schneeweißen Haut einging. Als sie ihm dann noch kurz sanft und tröstend über seine Schulter strich, fühlte er unter ihrer Hand eine seltsame Erregung entstehen. Sie öffnete die kleine Bar der Limousine und schenkte roten, italienischen Likör in zwei Gläser ein. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, erklärte er über das GOLIATH-Computersystem weiter:
„Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, in demselben Land, ja sogar in derselben Stadt wie mit einem gigantischen Rechner zu leben, der einem jederzeit durch einen plötzlichen und unvorhersehbaren Informationszufluss zur Gefahr werden kann und Agenten wie menschliche Roboter auf einen hetzt! Bei all dem muss man allgemein auch bedenken, dass die Fähigkeiten der Computer ständig erweitert werden und exponentiell in immer kürzeren Zeiträumen steigen.“
„GOLIATH ist jedem in unseren Kreisen ein Begriff. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, beweist nur, wie wichtig es ist, Independent Internet vor der Macht der Geheimdienste zu beschützen.
Ich hoffe nur, Sie haben uns nicht bereits jetzt eine Menge Ärger mit nach New York gebracht! Bei Menschen wie Ihnen muss man auf der Hut sein, David, sie wissen zwar viel, verstehen aber nicht immer vorsichtig genug zu sein…“
Was für einen Moment vorwurfsvoll klang, wurde durch einen gutmütigen und freundlichen Ton in ihrer Stimme wieder ausgeglichen, in dem unterschwellig eine sehr merkwürdige Ironie anklang. Es war eine Ironie, die er zu diesem Zeitpunkt unmöglich verstehen konnte.
Sie waren inzwischen am UN-Hauptquartier angelangt und bogen vor dem Gebäude vom FDR Drive in die 42nd Street ab, auf der sie bald im stockenden Verkehr zum Stehen kamen. Durch den Stillstand des Wagens wirkte die Nähe zwischen ihnen plötzlich um einiges intimer und David bemerkte, wie er die ungewöhnlich attraktive Frau neben sich langsam ernsthaft zu begehren begann. Glücklicherweise dauerte die Stockung nicht allzu lang an, weshalb sich sein Gemüt durch das Beobachten der an ihnen vorbeiziehenden Gebäude, Menschen und Straßen schnell wieder abkühlen konnte. Sie bogen in die 7th Avenue ein und befanden sich irgendwann auf der Höhe des Times Square, als Lydia dem Fahrer durch eine Sprechanlage die Anweisung gab, in der Nähe eines bestimmten Gebäudes anzuhalten.
„Ich möchte Sie in einen Club einladen, in dem man hervorragend sitzen und das Leben in den Straßen aus angemessener Distanz beobachten kann“, erklärte sie ihr Vorhaben, während sie aus der Limousine stiegen. Sie führte ihn über die Straße und dann in das Foyer eines fünfzigstöckigen Wolkenkratzergebäudes hinein, dessen erste drei Etagen durch einen offenen Aufzug zu erreichen waren. Als sie schließlich im zweiten Stock vor einer Glastür standen, auf der „High Times Club“ zu lesen war, ahnte David, dass er in diesem Club in den exklusiven Zirkel reicher Snobs geriet. Lydia zog einen Mitgliedsausweis durch einen Scanner, woraufhin sie durch die sich automatisch öffnende Tür in eine mit Marmor ausgekleidete Vorhalle gelangten, von der ein breiter Korridor in den luxuriös eingerichteten Hauptraum führte. Die halbkreisförmig arrangierten weißen Ledersessel, auf denen sie nahe der überaus langen, im Mittelpunkt des riesigen Raumes befindlichen Bar Platz nahmen, standen direkt an einer der voll verglasten Wände, sodass man auf die zahlreichen, rund um den Times Square flanierenden Touristen von einer erhabenen Distanz wie auf einen großen menschlichen Zoo herabsah. Die wenigen Gäste, die um diese Zeit in dem Club verkehrten, verteilten sich weit verstreut im Raum und hatten scheinbar nicht viel mehr zu tun, als bereits tagsüber raffinierte Cocktails zu trinken und hin und wieder ein paar Telefongespräche zu führen.
Nach einem Drink und etwas harmlosem Geplänkel kam Lydia bald wieder auf den eigentlichen Anlass ihrer Begegnung zu sprechen.
„Ich möchte es Ihnen ganz direkt sagen, David: Ich habe die Anweisung erhalten, das Spiel nach unseren Regeln zu spielen oder die Sache einfach fallen zu lassen. Es liegt nun an Ihnen, ob Sie sich darauf einlassen, oder Ihre Geschenke wieder mit nach Washington nehmen. Ich rate Ihnen mir entgegenzukommen, damit Ihre Mühe nicht vollkommen umsonst gewesen ist!“
„Ich wundere mich, dass Sie plötzlich Bedingungen stellen. Von was für Regeln reden Sie da?“
„Eigentlich ist es nur eine einzige Regel und die ist sehr simpel: Da Mr. Abrahams zurzeit schwierige Verhandlungen wegen der Übernahme eines seiner bedeutendsten Geschäftsbereiche durch den LOGO-Konzern führt, ist es unmöglich, ihn persönlich zu treffen. Sie müssen mit mir Vorlieb nehmen, da ich in der Angelegenheit zu seiner Vertreterin erklärt worden bin.“
„Darauf lasse ich mich nicht ein. Das, was ich anzubieten habe, könnte für einen Mann wie Abrahams eines Tages einen großen Wert bekommen, weshalb man es meiner Meinung nach mit etwas mehr Freundlichkeit entgegennehmen muss“, wich er von seiner Hauptbedingung um keinen Deut ab.
„Es ist, wie ich sage und nicht zu ändern. Mr. Abrahams ist mit den Vorbereitungen für die bald beginnenden Übernahmeverhandelungen sehr beschäftigt. Wie Sie sich denken können, ist LOGO kein leichter Verhandlungspartner. Hier geht es um Milliarden und nicht um ein paar Dateien, die vielleicht nach einem kurzen Aufruhr schon bald niemanden mehr interessieren werden!“
Die unüberhörbare Ungeduld und der Anflug einer latenten Aggressivität, die plötzlich an der schönen Abramvotich zu bemerken waren, gefiel David ganz und gar nicht. Über die Pläne von LOGO hatte er in der Zeitung gelesen; es war allgemein bekannt, dass der mächtigste aller Internetkonzerne, der nicht nur in den USA, sondern weltweit das unangreifbare Monopol anstrebte, den alten Abrahams sehr weit in die Ecke gedrängt hatte, weshalb dieser bereits vor ein paar Jahren damit begonnen hatte, einen massiven Umbau aller Geschäftsbereiche von „Independent Internet“ vorzunehmen.
„Wir haben vorhin über den treuesten Mitarbeiter der CIA, GOLIATH, gesprochen. Vielleicht haben Sie noch nie etwas über seinen Bruder BRAVEHEART gehört, der zu einem ebenso treuen Diener der NSA geworden ist.
Wenn die Welt erfährt, was auf diesem Rechner alles gespeichert wird, können alle früheren Whistleblower wieder in die USA zurückkehren oder frei gelassen werden, da ihre Enthüllungen im Verhältnis dazu nicht mehr von Interesse sind.
Ich bin nicht auf Mr. Abrahams angewiesen, es gibt bestimmt genügend andere Menschen, die hierüber etwas wissen wollen!“
„Mr. Abrahams ist zurzeit sehr misstrauisch, das sollten Sie verstehen, David. Man könnte es schließlich nicht nur als einen reinen Zufall interpretieren, dass Sie ausgerechnet jetzt auf der Bildfläche erschienen sind, wo gerade die Verhandlungen mit LOGO begonnen haben. Es könnte sich um ein abgekartetes Spiel handeln, durch das ihm irgendein unvorhersehbarer Nachteil entsteht.
Vielleicht wissen Sie nicht genug über die Gesetze der Macht, David. Sie scheint zwar naturgemäß mächtig zu sein, aber in ihrem innersten Gefüge ist sie so sensibel wie eine Feder, die in einen Windstoß gerät. Sie kann jederzeit aus den Fugen geraten und muss mit allen Mitteln beschützt werden. Denken Sie darüber nach und bringen Sie ein wenig Verständnis für Mr. Abrahams besondere Lage auf! Während Sie das tun, werde ich uns noch etwas zu trinken bestellen…“
Als sie sich erhob und zur Bar begab, konnte er kurz darauf beobachten, wie sie in einem Kosmetikraum verschwand. In einem plötzlichen Anfall von Misstrauen begann er die Handtasche zu durchsuchen, die sie auf ihrem Sessel vergessen hatte, und fand neben allerlei bedeutungslosem Krimskrams vor allem Bargeld, einen Schlüssel und den Mitgliedsausweis darin, mit dem sie sich Eintritt in den Club verschafft hatte. Der Ausweis erwies sich als Volltreffer, da auf ihm der Name „Patricia Stratford“ sowie eine Mitgliedsnummer zu lesen war, die er sich schnell notierte. Zwar musste „Stratford“ nicht unbedingt echter als „Abramovitch“ sein, doch stärkte dieser zweite Name paradoxerweise sogar sein Vertrauen, da er den ersten ohnehin für falsch gehalten hatte. Als Lydia wenige Minuten später wiederkam, unterbreitete sie ihm sofort einen Vorschlag. Sie wollte es so wirken lassen, als wären ihre Worte das Resultat intensiven Nachdenkens, aber in Wahrheit hatte sie in der Zwischenzeit mit jemandem telefoniert.
„Wir könnten sofort nach Yonkers in ein Computerlabor fahren und eine Probe der Dateien analysieren. Danach kann Mr. Abrahams erneut entscheiden, ob er Sie sprechen will. Es ist der einzige Kompromiss, den ich Ihnen anbieten kann.“
Da er bereits vor drei Wochen eine Datenprobe zu Independent Internet geschickt hatte, schien es ihm ziemlich kleinlich zu sein, eine weitere Untersuchung durchzuführen. Er war deshalb fest entschlossen, zuerst noch einmal mit „Emerson“ zu sprechen.
Als er entgegnete, „ach, wissen Sie, Lydia, ich würde lieber noch einmal in Ruhe über alles nachdenken. Ich finde das Maison Rouge sehr gemütlich und könnte wochenlang dort bleiben“, ereignete sich in kaum 50 Yards Entfernung etwas, das mit ihrem Gespräch in direktem Zusammenhang stand, von ihnen aber nicht bemerkt werden konnte:
Der Besitzer des High Times Clubs, der halbseidene Clyde Taylor, erhielt einen Anruf von einem gewissen Walter Silverman, den er nur mit seinem einschlägigen Spitznamen „Silverboy“ ansprach. Taylor wurde in seinem Büro von einer großspurig wirkenden Einrichtung aus schweren Teakmöbeln umgeben und saß an einem wuchtigen Schreibtisch mit mehreren Bildschirmen, die wechselnde Ansichten der Clubräume zeigten. Als sich Silverman meldete, war Taylor über den Anruf des Ermittlers, der in der Sicherheitsabteilung von Independent Internet angestellt war, nicht begeistert. Der dicke, unsympathische Kerl hatte ihn schon immer abgestoßen, auch wenn er an ihm regelmäßig den einen oder anderen schnellen Dollar verdienen konnte.
„Was liegt an, Silverboy?“, fragte er in dem kalten und harten Ton, den er sich in seinem halb kriminellen Geschäftsmilieu angewöhnt hatte.
„Bei Ihnen müsste im Moment Agneschka sitzen. Ich nehme an, Sie wissen, wie sie aussieht“, entgegnete Silverman scheinbar beiläufig, womit er von Anfang an aus Gründen einer geschickten Preispolitik signalisieren wollte, kein übertrieben großes Interesse an dem kleinen Auftrag zu haben, der sich durch seinen Anruf ergab.
„Das Aussehen einer solchen Frau vergisst man nicht.“
Taylor begann sich bei dieser Feststellung bereits durch eine Reihe von Kameras zu schalten, die überall in den Clubräumen unsichtbar installiert waren. Währenddessen fuhr „Silverboy“ fort:
„Sie müsste mit einem Mann zusammensitzen, der etwa Mitte 60 ist – mehr weiß ich über ihn nicht.“
Es war eine glatte Lüge, denn er hatte bereits mehrere Aufnahmen von Dembski, die von einem seiner Mitarbeiter in der Nähe des „Maison Rouge“ aufgenommen worden waren. Außerdem hatte man ihn beobachtet, als er etwas aus seinem geparkten Wagen geholt hatte, weswegen man sich bei Independent Internet mit Hilfe des Kennzeichens über seine Identität inzwischen fast sicher war. All dies war jedoch Teil seiner offiziellen Aufgabe gewesen, während es nun um etwas Anderes ging.
Taylor hatte sich inzwischen durch die verschiedenen Kamerapositionen gescrollt und Lydia Abramovitch – alias Patricia Stratford alias Agneschka – tatsächlich bald gefunden, da es um diese Zeit in dem Club noch nicht sehr betriebsam war – es war erst etwa 17 Uhr. Er zoomte Lydia und David mit einer kleinen, beweglichen Kamera heran, die unter der Deckenverkleidung verborgen war, und meinte:
„Falls ich Aufnahmen von dem Mann machen soll, müsste ich mich beeilen, da er offenbar gehen will. Es ist ein untersetzter Kerl mit grauem Bart und Haaren und zieht sich gerade sein Sakko an. Hat in der Art etwas von einem Professor an sich…“, kommentierte er gelangweilt und war längst dabei, Davids Aufbruch aus verschiedenen Blickwinkeln aufzunehmen.
Während Taylor weiter das kleine Schaltbrett für die Steuerung der Kameras bediente, das für ihn seit Jahren viele tausend Dollar an zusätzlichen Einnahmen generierte, war David tatsächlich dabei sich von Lydia zu verabschieden, auch wenn die ehrgeizige Privatagentin dies um keinen Preis zulassen wollte. Sie war daran gewöhnt ihre Aufträge erfolgreich zu Ende zu führen und hatte sich fest vorgenommen, die „Geschenke aus Langley“ noch an diesem Tag entgegenzunehmen oder zumindest Proben davon einer genaueren Analyse zu unterziehen. Sie hatte nicht mit Davids jüdischem Dickkopf gerechnet, der sich unbedingt Leo Abrahams’ persönlicher Protektion versichern wollte. Nachdem er ihr Angebot, mit ihr in der Limousine zurück nach Brooklyn zu fahren, mehrmals abgelehnt hatte, wusste sie nicht mehr, womit sie ihn noch zurückhalten konnte.
Als er sich von ihr mit den Worten verabschiedete, „Sie sind eine sehr bemerkenswerte Frau, Lydia, und ich hoffe, dass wir uns noch einmal unter anderen Umständen wieder sehen“, stand er mitten im Visier von Taylors Kamera und wurde in einer Reihe Großaufnahmen direkt in einen Datenordner gesteckt, der wenige Minuten später den Weg durch das Internet zu einer von „Silverboys“ ständig wechselnden Emailadressen nahm.
Taylor beobachtete, wie David alleine in Richtung des Ausgangs ging und informierte Silverman darüber am Telefon:
„Dein Mann geht fort, Silverboy. Kaum zu glauben, dass er eine solche Frau einfach sitzen lässt. Vielleicht werde ich gleich selbst einmal zu ihr hinübergehen und sie zu einem Drink einladen. Ich kriege dieses Mal 1000 Dollar für das ganze Bilderpaket.“
„1000 Dollar!? Ich werde mir gut überlegen, überhaupt noch einmal anzurufen. Das letzte Mal habe ich für etwas Vergleichbares 500 bezahlt!“, beschwerte sich Silverman fassungslos.
„Da hatte ich nur eine Person auf dem Bild. Ich möchte die Aufnahmen nicht erst noch bearbeiten und Agneschka herausschneiden“, erklärte Taylor ungerührt. Ihm fiel immer irgendein Grund für einen höheren Preis ein, da er für alles, was im „High Times“ vor sich ging, das uneingeschränkte Monopol besaß. Außerdem hatte er ein untrügliches Gespür dafür, wie groß das Interesse seines „Klienten“ wirklich war, was in diesem Fall den Tarif um 100 Prozent in die Höhe schnellen ließ.
Die sichere Intuition, mit der der erfahrene Taylor den Preis taxierte, erschrak Silverman, da er nicht nur Interesse an einer Aufnahme des Whistleblowers aus Washington, sondern auch an einer Agneschkas hatte, wie sie mit diesem beim Gespräch zusammen saß – wovon jedoch Taylor aus bestimmten Gründen nichts wissen sollte.
„Ich brauche die Bilder nicht unbedingt. Was würde mich nur das Telefongespräch kosten, wenn ich auf sie verzichte?“, versuchte er so zu tun, als ob die Aufnahmen nicht wirklich wichtig wären.
Taylor lachte auf und für einen Moment floss eine tiefe Bosheit mit in sein Lachen ein.
„Nur der Anruf kostet ebenfalls 1000 Dollar. Ich würde empfehlen, für den Preis die Bilder gratis dazu zu nehmen. Schließlich soll mir niemand Geiz und mangelnde Kooperation nachsagen. Bezahlung wie üblich, das Paket ist in wenigen Minuten unterwegs.
Übrigens solltest du auf deine Kollegin Abramovitch gut achten, da sie, wie ich höre, ziemlich gerissen ist. Wenn sie darauf kommt, wie gut du im Geschäft bist, sind deine Tage bei Independent Internet gezählt.“
Silverboy ließ daraufhin nur ein kurzes, unwilliges Grunzen hören und verabschiedete sich mit falscher Höflichkeit von dem gefährlichen und mächtigen Taylor. Er hatte von vornherein mit einem übertrieben hohen Preis gerechnet und rief den geldgierigen Clubbesitzer nur noch an, wenn der Nutzen das Risiko und die hohen Kosten klar überstieg.
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Hätte David Gelegenheit gehabt, sich über den „High Times Club“ zu informieren, wäre ihm klar gewesen, wie sehr er sich dort in der Höhle des Löwen befunden hatte, und er hätte sich nicht mehr so sehr darüber gewundert, was in der folgenden Nacht in seinem Hotel geschah.
Dieses Wundern setzte erst Stunden nach seinem ersten Erwachen am frühen Morgen ein, da ihm zunächst jede Orientierung fehlte. Sein Erinnerungsvermögen war vollkommen ausgeschaltet, wodurch er in einem inneren Vakuum gefangen war und ihm seine Umwelt absolut fremd erschien.
Er lag schwer wie ein Felsstein auf seiner Matratze und konnte sich nicht einen Millimeter bewegen. Seine Glieder taten weh und er fühlte sich, als hätte er eine schwere Grippe, die ihn auf lange Zeit am Bett fest hielt. Er dämmerte längere Zeit halb bewusstlos vor sich hin und als er zwei Stunden später wieder die Augen aufschlug, fiel ihm noch immer nicht ein, was mit ihm geschehen war und warum er sich in diesem Hotelzimmer befand. Als er mit größter Mühe seinen Oberkörper aufrichtete, um sich fassungslos das Durcheinander in dem Zimmer anzusehen, zersprang ihm fast der Schädel vor Schmerz. Er konnte den Anblick zuerst gar nicht begreifen, bis er sich langsam wieder an den Grund erinnerte, warum er nach New York gekommen war. Wäre ihm nicht nach und nach eingefallen, in dem kleinen Hotel „La Maison Rouge“ in Brooklyn zu sein, wo irgendwann das schwarze Telefon auf seinem Nachttisch klingeln und sich am anderen Ende der Leitung ein gewisser Mr. Emerson melden würde, hätte ihn dieser Zustand der Orientierungs- und Erinnerungslosigkeit bald verrückt gemacht.
Nachdem er sich trotz seiner Benommenheit und seines Kopfschmerzes im Zeitlupentempo an der Bettkante aufgesetzt und angezogen hatte, setzte er sich aufrecht in einen Sessel, wodurch er nach und nach richtig zu sich kam. Es dauerte insgesamt fast zwei Stunden, bis er in der Lage war langsam in die Empfangshalle hinunterzugehen, in der zu seiner großen Erleichterung nichts Auffälliges zu bemerken war. Er zwang sich den ihm unendlich lang vorkommenden Weg zur übernächsten Querstrasse zu gehen, um seinen dort geparkten Wagen zu kontrollieren. Der weiße BMW war offensichtlich durchsucht worden, da seine Zentralverriegelung geöffnet war, wenn auch keine weiteren Veränderungen an ihm zu bemerken waren. Als er nach geraumer Zeit wieder das Hotel betrat, tat er das, was er eigentlich als Erstes hätte tun sollen – er ließ den Inhalt seines Safes überprüfen. Da alles seine Ordnung hatte und die Tasche mit den vier Festplatten noch immer an Ort und Stelle war, ging er erleichtert auf sein Zimmer zurück, wo er nach irgendwelchen Hinweisen und versteckten Spuren zu suchen begann. Als er dabei die Türklinke und das Türschloss genauer unter die Lupe nahm, kündigte sich durch lautes Klingeln endlich der Anruf an, auf den er bereits sehnsüchtig gewartet hatte.
„Mr. Burke? Hier Emerson. Ich wünsche einen guten Morgen“, klang es wieder so nüchtern und dienstbeflissen durch die Leitung, als wäre das Hotel direkt an die Büros des Independent-Internet-Towers angeschlossen und als ob zwischenzeitlich nicht das Geringste geschehen wäre.
„Endlich rufen Sie an! Wir haben einiges zu besprechen! Die Begegnung mit Ihrer Miss Abramovitch hat mir alles Andere als Glück gebracht!“
Davids Stimme geriet vor Aufregung ins Stolpern und Emerson schnitt ihm voller Ungeduld das Wort ab:
„Die Begegnung mit Miss Abramovitch!? Ist sie etwa gestern tatsächlich bei Ihnen im Hotel erschienen?“
„Ja… aber natürlich ja… sogar mit absoluter Pünktlichkeit… Eine äußerst bemerkenswerte Frau, aber leider konnte ich mir mit ihr nicht einig werden. Hat Sie Ihnen noch nichts von dem Ergebnis unserer Unterhaltung mitgeteilt?“
Er war noch immer so benommen, dass er das Wichtigste noch gar nicht sofort begriffen hatte.
„Sie haben ihr also noch nichts übergeben oder ihr etwa den Aufbewahrungsort Ihrer Datenträger genannt?“, wollte Emerson mit noch größerer Ungeduld wissen.
„Nein, ich bestand darauf, zuerst mit Mr. Abrahams persönlich zu sprechen. Ich dachte, das wüssten Sie bereits.“
„Sehr gut, Mr. Burke, dann bin ich sehr erleichtert. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu und erschrecken Sie sich nicht: Die echte Lydia Abramovitch wurde gestern Mittag von zwei Unbekannten in ihrer Wohnung festgehalten und betäubt und wachte heute Morgen mit einem brummenden Schädel auf!“
„Warten Sie einen Moment, Mr. Emerson, warten Sie! Ich muss kurz nachdenken, denn das gleiche Brummen habe ich auch!“, stieß David erregt hervor, während seine Gedanken ins Rotieren gerieten. Er konnte die Konsequenzen aus dieser Information natürlich noch nicht gleich vollständig überblicken, erkannte aber sofort, dass dadurch zumindest ein bestimmter Verdacht hinfällig wurde. Schließlich klärte er den Anderen auf:
„Irgendwer hat mir heute Nacht einen Besuch abgestattet, mich betäubt und danach alles gründlich durchsucht. Ich dachte zuerst, Ihre Abramovitch steckt dahinter, weil ihr die Übergabe nicht schnell genug verläuft und sie Angst bekommen hat, mein Zögern könnte sie um ihr Honorar bringen.
Die CIA wird es ebenso wenig gewesen sein, da die falsche Abramovitch unmöglich eine amerikanische Agentin sein kann - das habe ich im Gespür. Eine Frau wie sie handelt entweder auf eigene Rechnung oder wurde von einer fremden Macht geschickt.“
„Dann kann ich wirklich nur hoffen, Ihr Gespür trügt Sie nicht und resultiert aus ausreichender Erfahrung, denn sobald die CIA im Spiel ist, brechen wir von unserer Seite sofort den Kontakt zu Ihnen ab.
Wir glauben, dass der Überfall auf unsere Mitarbeiterin auf das Konto der Russen geht, auch wenn man sich darüber natürlich nicht sicher sein kann. Es hat in den letzten Jahren in New York immer wieder Vorfälle gegeben, die den Verdacht nahe legen“, klärte ihn Emerson in einer so betont nüchternen und unaufgeregten Art auf, als würde er selber Mitarbeiter einer Art von Geheimdienst sein. Als David in diesem Moment in seiner Hosentasche den Zettel mit der Nummer wieder fand, die er sich tags zuvor in dem Club notiert hatte, entgegnete er:
„Abramovitchs Doppelgängerin ist mit mir in den High Times Club am Times Square gefahren und hatte einen Clubausweis mit dem Namen Patricia Stratford dabei. Ich werde Ihnen die Mitgliedsnummer nennen, vielleicht können Sie ja irgendetwas herausfinden. Sie lautet HTC 1000 11 123.“
„Wir werden eine kleine Untersuchung in Auftrag geben, Mr. Burke, das verspreche ich Ihnen. Falls wir dazu weitere Informationen von Ihnen benötigen, könnte sich ein Mr. Walter Silverman bei Ihnen melden. Er arbeitet für unsere Sicherheitsabteilung und wird für den Fall zuständig sein.
Wir sollten die Übergabe solange verschieben, bis wir neue Erkenntnisse haben. Das Beste wird sein, wenn Sie einfach im Hotel bleiben und nichts Besonderes unternehmen. Ich frage Sie nun, ob das, was Sie für uns aus Washington mitgebracht haben, an einem sicheren Ort verwahrt ist. Aber nennen Sie mir diesen Ort bitte nicht am Telefon!“
„Sie bringen mich da auf etwas, was Sie mir bei unserem ersten Telefongespräch gesagt haben: Eine sicherere Leitung gibt es in New York nicht, haben Sie geprahlt. In Wahrheit könnte diese Leitung allerdings so löchrig wie ein durchrostetes Eisenrohr sein. Ich frage mich nämlich, auf welchem anderen Weg bestimmte Dinge nach außen gedrungen sein könnten. Insofern haben wir gerade schon viel zu viel gesagt.
Zu den Festplatten ist zu sagen: Natürlich befinden sie sich an einem sicheren Ort!“
„Das mit dem Telefon werde ich überprüfen lassen“, entgegnete Emerson zerknirscht. Dann klang gleich wieder die beruhigende Nüchternheit in seiner Stimme durch, die zu verraten schien, dass der ganze Vorfall für ihn nicht weltbewegend war.
„Gehen Sie jetzt frühstücken, Mr. Burke. Und regen Sie sich nicht weiter auf. Meiner Ansicht nach war all das nur ein kleiner Streich, wie man ihn von den Brüdern des Ostens längst gewohnt ist.“
„Ich verstehe gar nicht, warum diese Brüder so ungeduldig sind. Vielleicht hätte die Welt doch sowieso bald alles erfahren, was auf diesen Festplatten gespeichert ist.“
„Das steht zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs fest. Solche Angelegenheiten sind stets von großer Unsicherheit und vielen unvorhergesehenen Wendungen geprägt. Die Aussicht, dass vielleicht bald, irgendwann oder auch niemals ein gewisser amerikanischer Whistleblower seine Geheimnisse laut genug bis nach Moskau herüber pfeift, hätte wohl auch umgekehrt niemanden bei uns je ausgereicht...“