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Während Dembski im „Maison Rouge“ eine Tablette gegen seinen starken Kopfschmerz nahm, schloss Mr. „Emerson“, der als Sohn irischer Einwanderer in Wahrheit Tosh O’Brian hieß, in der Tiefgarage des Independent-Internet-Towers die Tür seines schwarzen Cadillacs auf. O’Brian hatte sich bei Independent Internet (I.I.) zu der rechten Hand von Leo Abrahams hochgearbeitet, in welcher Funktion er viele verschiedene Aufgaben zu bewältigen hatte und nicht allein auf ein fest umrissenes Arbeitsfeld beschränkt war.

Da Freitagvormittag war und er jeden Freitag auf Abrahams’ Landsitz auf Long Island herausfuhr, um diesem den Bericht der Woche zu überbringen und mit ihm die Aufgaben für die folgende Woche zu besprechen, hatte er während der eineinhalb- bis zweistündigen Fahrt ein wenig Zeit für sich, die er als eine willkommene Abwechslung genießen konnte.

Tosh war ein Meister darin, alle nervenaufreibenden Aufgaben und bedeutenden Arbeiten so geschickt und ruhig an Untergebene zu delegieren, dass ihm auch in den geschäftigsten Zeiten genügend Gelegenheiten blieben, einen Teil seines hohen Gehaltes auch wirklich auszugeben und Freude daran zu finden. Während manche in ihm einen ungewöhnlich intelligenten Lebenskünstler sahen, hatte Leo ihn manchmal mit einem genialen Dirigenten verglichen, der über dem Schaffen seiner Mitarbeiter wie ein Geist über dem Klang der Noten schwebte, denen er nur hin und wieder eines von oben mit seinem Taktstock verpassen musste, während die Musiker des Orchesters ordentlich ins Schwitzen gerieten. Er stand in der Hierarchie weit genug oben, um für die Fahrt eine Limousine mit Chauffeur zu beanspruchen, aber als Individualist zog er es vor, langsam mit seinem liebevoll gepflegten, betagten V8-Caddy blubbernd durch die Straßen von New York zu cruisen, eine sündhaft teure Zigarre dabei zu rauchen und einige noch unbekannte Feinheiten in den Klanglinien einer seiner Lieblingssymphonien zu entdecken, deren neu eingespielte Fassung ihm seine Frau Eleanor gerade zum 65. Geburtstag geschenkt hatte.

Während der Fahrt kamen ihm nicht nur verschiedene Einzelheiten seiner wöchentlichen Präsentation bei Leo Abrahams in den Sinn, sondern er musste natürlich auch an „Mr. Burke“ denken, dessen richtigen Namen sie inzwischen herausgefunden hatten. Am liebsten wäre er auf seinem Weg nach Long Island im „Maison Rouge“ in Williamsburg vorbeigefahren und hätte endlich den Mann persönlich kennen gelernt, der auf so leichtfertige Weise seinen gut dotierten Ruhestand aufs Spiel setzte und offenbar seinem lang verstorbenen Großvater einen unauflösbaren jüdischen Ehrenschwur geleistet hatte. Er hatte diesen Dembski anfangs für verrückt gehalten, aber inzwischen glaubte er, es bei ihm mit einem intelligenten Mann zu tun zu haben, der nur noch nicht sehr erfahren in der hohen Kunst der Geheimhaltung war. Tosh O’Brian hatte in seinem früheren Leben selber einiges über diese Kunst gelernt und war daher zunächst zum Leiter der Sicherheitsabteilung bei I.I. aufgestiegen, bevor er sich auch als ein findiger Manager erwiesen hatte.

Er hielt nicht an dem Hotel an diesem Tag und besuchte dafür das unscheinbare Kirchengebäude einer kleinen Baptistengemeinde in Jericho, das genau an seiner Strecke lag und in dem er jede Woche in Leos Namen dem Pfarrer tausend Dollar für Bedürftige übergab. Für Leo, dem es als Jude wichtig war, auch eine Brücke zur Christenheit zu schlagen, war Gott selbstverständlich größer als der jeweilige Glaube verschiedener Religionen und Konfessionen, weshalb er sich mit seinen 79 Jahren längst zu einem überreligiösen, alles verbindenden Pantheismus aufgeschwungen hatte, der in seinen Augen der höheren Vernunft entsprach.

Für Tosh lag ein symbolischer Zusammenhang darin, dass er – nachdem er auf seiner wöchentlichen Strecke den traditionellen Obolus für die Armen entrichtet hatte – noch auf dem Parkplatz des Gemeindehauses einen ersten Blick in die Zahlen warf, die ihm die Chef-Controllerin Agnes Bloomingdale bereits in der Nacht zugemailt hatte. Das Zahlenwerk sah auf den ersten Blick sehr solide aus, wenn auch – wie üblich – die Telefonsparte große Verluste generierte und nach Toshs Überzeugung am besten verkauft werden sollte. Sie brauchten dringend frisches Kapital, um all die vielen, kleinen Neuerwerbungen verdauen zu können, die Leo manchmal fast so ungerührt und gewohnheitsmäßig auf seine Einkaufsliste setzte, wie eine Hausfrau kurz bevor sie zum nächsten Supermarkt ging.

Als Tosh am Mittag an der Toreinfahrt des Anwesens „Abrahams Gardens“ vorfuhr, das sich am Rande eines kleinen Naturparks in der unmittelbaren Nähe des Ozeans befand, tippte er seinen persönlichen Sicherheitscode in ein Zahlenfeld ein und wartete, bis sich das automatische Tor leise surrend öffnete. Danach fuhr er den breiten Kiesweg durch ein kleines Kiefernwäldchen hoch und kam schließlich auf einem großen, kreisrunden Rondell vor dem Hauptgebäude zum Stehen.

Wer in „Abrahams Gardens“ ein nach englischem Vorbild kopiertes, prächtiges Herrenhaus erwartet hätte, wurde auf den ersten Blick enttäuscht, weil es sich um ein Gebäude im Stil der allerneuesten Sicherheitsarchitektur handelte, das gegen alle Arten eines feindlichen Angriffs gewappnet war. Trotz der imposanten Auffahrt und der exponierten Lage des aus drei schlichten Kuben bestehenden, auf einem kleinen Hügel liegenden Hauses sah es im Verhältnis zu dem großen, amerikanischen Mythos „Abrahams“ beinahe etwas bescheiden aus und spiegelte weniger das Repräsentations- als das Sicherheitsbedürfnis eines Menschen wider, auf den bereits zwei Anschläge verübt worden waren. Die drei ineinander verschlungenen Gebäudekuben verbanden den Anspruch von Sicherheit und Ästhetik auf gelungene Weise und wirkten durch die ungewöhnliche und futuristische Kombination von rötlichem und anthrazitfarbenem Sand- und Lavagestein, als wären sie von einem fremden Planeten auf die Erde heruntergefallen. Jeder der Kuben besaß drei Stockwerke, von denen das mittlere durch eine Galerie verbunden war und durch große, gepanzerte Fensterflächen einen weiten Blick in die parkähnliche Landschaft bot.

Als Tosh auf die weit verzweigte Terrassenanlage des Gebäudes trat, sah er, wie Leo auf einer freien Rasenfläche beim Mittagessen saß. Dabei wurde er von seinem jungen, französischen Koch bedient und hatte wegen der kräftigen Septembersonne Schutz unter einem riesigen Sonnenschirm gesucht. Leos chinesische Hausdame Li Lin führte Tosh mit einem exakten Schrittmaß, das so theatralisch wie in einer Peking-Oper wirkte, an den langen Holztisch, auf dem bereits wie üblich ein Gedeck für ihn vorbereitet worden war.

Außer zwei Sicherheitsleuten, die sich im Nebentrakt hinter einer großen Glaswand befanden und das Gelände rund um die Uhr überwachten, sah man niemanden, da Leos Frau Sue-Anne vor zwei Jahren gestorben war und sich sein Sohn Theodore zurzeit meist in Los Angeles aufhielt. Leo war trotz seines hohen Alters nichts Greisenhaftes anzusehen, da er sich unter dem Einfluss seiner Hausdame und eines speziellen Lehrers jeden Morgen verschiedenen asiatischen Bewegungstechniken widmete, durch die er sich eine sportliche Statur und eine straffe Haut bewahrt hatte. Er hatte grazile Hände, einen langen, schmalen Kopf mit hoher Stirn und einen cäsarischen Haarkranz um die feine Halbglatze, die von einer Vielzahl von Leber- und Pigmentflecken übersät war. Durch seine überlegen wirkende, große und schlanke Gestalt bekam man den Eindruck, dass sich in ihm das alte Sprichwort „Mens sana in corpore sano“ bestätigte, was sich indirekt auch in dem gesunden Ebenmaß aller Formen seines durchdacht angelegten Landsitzes widerzuspiegeln schien. Jeder konnte an ihm sofort eine ungewöhnliche geistige Kraft und eine fein „durchgetaktete“ Exaktheit spüren, die sich durch Vieles an ihm und um ihn herum ausdrückte und dem besonderen mentalen Energiestrahl entsprach, der aus seinem innersten Wesen bis in die verschiedensten Winkel seines ganzen Unternehmens reichte.

Als Tosh den gewohnten Platz an Leos rechter Seite einnahm und sofort den schwarzen Koffer öffnete, in dem sich die Papiere mit den Zahlen der Woche befanden, stellte er in einem vertraulichen Tonfall die gleiche Frage, die er jede Woche als erstes stellte und die Leos peinlich genau dokumentierten Gesundheitszustand betraf:

„Wie sind die Werte diese Woche?“, lautete sie und wie so oft nahm er daraufhin das vorbereitete Glas mit dem üblichen Aperitif zu sich.

„Der Blutdruck geht ein bisschen hoch, aber ansonsten hervorragend! Auch du solltest mal mit Han Shan in den Gymnastikraum gehen, dann würde es deinem Rücken bald wieder besser gehen. Der Mann ist ein echtes Wundertier!

Worum es bei mir allerdings etwas schlecht bestellt ist, sind meine Rechenkünste. Einige Zahlen, die Bloomingdale mir gesendet hat, möchte ich am liebsten gar nicht verstehen, ich habe sie mir heute früh angesehen“, kam Leo sofort recht eloquent zur Sache, wie es seine Art war. Herrisch wurde er dabei allerdings nie und obwohl er über die schlechten Zahlen wirklich ungehalten war, konnte er sie jemandem wie Tosh nicht persönlich zum Vorwurf machen. Der begann sofort geschäftig mit seinen Papieren zu hantieren, war aber nicht im Mindesten nervös dabei. Bald hatte er das Blatt mit einer bestimmten Übersicht gefunden und präsentierte sie ihm.

„Ich nehme natürlich an, du spielst mal wieder auf die Telefonsparte an. Ich kann es nun einmal nicht ändern, es ist und bleibt ein Trauerspiel. Wahrscheinlich muss ich dir erst Woche für Woche ähnliche Zahlen vorlegen, bis du dich endlich zum Verkauf entschließen kannst.“

Tosh knüpfte mit diesen Worten an eine Empfehlung an, die er schon seit zwei Jahren immer wieder vorgebracht hatte. In diesem Moment servierte ihm der Koch eine Suppe, woraufhin er sein elegantes Jackett aufknüpfte und zum Essen näher an den Tisch heranrückte.

„Im Moment liegt einiges an, Toshi-Tosh“, sprach Leo seinen alten Gefährten nun mit seinem intimsten Spitznamen an, um ihn sanft auf bedeutende Neuigkeiten vorzubereiten. „Ich hoffe, du hast die Kraft eine wichtige Neuerwerbung mitzuorganisieren, ansonsten gebe ich die Sache komplett an Longfield-Whitehouse ab. Ein paar von denen, besonders dieser Snyder, können ein so unglaublich feines Garn einfädeln, dass es die Konkurrenz überhaupt erst im letzten Moment sehen kann!“

„Toshi-Tosh“ fühlte sich durch dieses Loblied auf Snyder für einen Moment in seinen eigenen Fähigkeiten zurückgesetzt und antwortete kühl:

„Wenn er so gut ist, solltest du ihn tatsächlich nehmen, ich habe im Moment genug mit dem Umzug der Immobilienabteilung zu tun. Und außerdem ist da ja noch die Geschichte mit diesem Mr. Burke und den gehackten NSA-Dateien. Wenn wir da nicht gut aufpassen, kann uns das Ding am Ende gehörig um die Ohren fliegen und du kannst mehr als nur die Telefonsparte zuschließen!“

Er unterstrich diese Warnung mit einer kurzen Gedankenpause und einem ernsten Blick und fuhr dann fort:

„Wir haben über das Autokennzeichen inzwischen herausgefunden, dass Albert Burke in Wahrheit wahrscheinlich Dr. David Dembski heißt und bis vor kurzem Vorsitzender der ethischen Kommission der CIA gewesen ist. Ich bin eigentlich dafür den Mann wieder nach Hause zu schicken, nachdem was gestern und heute Nacht geschehen ist. Es wurde nämlich nicht nur unsere Abramovitch überfallen, sondern er selber hat auch Besuch gekriegt. Alles trägt dieselbe Handschrift, die für meinen Geschmack sehr deutlich etwas von kyrillischen Schriftzeichen an sich hat!“

„Gleich kommen Abramovitch und Silverman, dann werden wir ausführlich darüber reden. Ich habe sie auf 13.30 Uhr bestellt. Bis dahin kannst du in Ruhe essen“, enthüllte Abrahams mit seiner typischen stoischen Ruhe. Natürlich hatte er sich längst seine Gedanken über die Sache gemacht.

„Hältst du diesen Silverman wirklich für fähig? Er war früher nichts als ein kleiner Fisch, ein unbedeutender Polizist und danach ein Privatdetektiv, der nur einfache Fälle bearbeitet hat. Ich traue ihm irgendwie nicht“, erklärte Tosh abschätzig und lobte dann lautstark die hervorragende Fischsuppe, die ihm der aus Frankreich stammende Koch vorgesetzt hatte.

„Silverman ist Silverman, fähig oder nicht. Wir werden ja sehen, was passiert. Ich denke nicht, dass es für uns ein unkalkulierbares Risiko gibt, solange nicht ein Byte dieser Dateien auf unser Stamm-System gerät, dann hätte nämlich eine alte Troja-Taktik gesiegt. Aber selbst in diesem Fall gibt es noch etwas, was uns beschützen wird. Laut Laborauskunft ist die Datenprobe, die uns dieser Burke - oder Dembski – vor drei Wochen geschickt hat, natürlich von vorne bis hinten mit so genannter elektronischer DNA infiziert. Das hat mir Abramovitch mitgeteilt.

Wenn wir uns das einfangen, könnte das früher oder später Spuren bis zum Computer des Reinigungsdienstes von Xiang-Internet in Taiwan nach sich ziehen“, meinte Leo mit fröhlichem Lächeln, so als hätte er nebenbei eine lustige Geschichte erzählt.

„Reinigungsdienst von Xiang-Internet?“, fragte Tosh mit gequältem Blick, so als redete sein Gegenüber kompletten Unsinn.

„Gehört zum Betrieb, Toshi. Habe ich vor kurzem zufällig einmal nachgesehen. Arbeitet sogar mit Gewinn und ist ein geglückter Frühversuch Theodores gewesen. Manchmal konnte der Junge offenbar sogar Bilanzen lesen!“

Jeder wusste, dass Leo zugleich sehr stolz auf seinen Sohn war, wie auch massive Zweifel an seinen Fähigkeiten hatte. Er war sozusagen nur notgedrungen sein Lieblingssohn, da er eben keinen anderen hatte.

„Und was macht er im Moment?“

„Er ist mit Dr. Wheeler und noch jemandem vom Vorstand mit dem Jet nach L.A. geflogen, um über den Kauf des Freedom-Towers zu verhandeln.“

„Was? Davon hast du mir nichts erzählt! Meinst du nicht, ich sollte über so etwas informiert werden? Die Sache rechnet sich nicht und könnte herbe Verluste nach sich ziehen!“, reagierte Tosh entsetzt, da er geglaubt hatte, die Sache wäre längst vom Tisch.

„Du kannst dich beruhigen, Toshi. Ich habe ihn einfach blind loslaufen lassen und keinerlei Befugnisse mitgegeben. Ich hoffe, er wird daraus lernen, wie schnell man sich trotz halbwegs gefüllter Kassen überheben kann. Ich habe die Sache von Bloomingdale durchrechnen lassen und ihm die Papiere auf den Tisch gelegt. Wenn er zurück kommt, bin ich auf sein Gesicht gespannt, wenn er die miesen Aussichten des Projektes erkennt“, erklärte Leo mit gewitztem Blick, so als würde es sich bei der Geschäftsreise um ein wohl kalkuliertes pädagogisches Experiment handeln, das sich auf seine Weise rechnete, indem sein Sohn in Zukunft bei allen Geschäften sehr viel genauer hinsehen würde.

„Du solltest ihn nicht zu sehr demütigen. Irgendwann muss er stark genug sein, um das Unternehmen zu führen“, gab Tosh mit milder Stimme zu bedenken und dachte dabei an seine eigenen Kinder. Kurz darauf fragte er in einem ganz anderen, neugierigen Ton, um endlich weitere Details über die großartige Neuerwerbung zu erfahren:

„Erzähl’ mir doch endlich, was Snyder für dich einfädeln soll!“

„Nun, nachdem du nun Woche für Woche hier heraus kommst, um Jacques’ exquisites Essen zu genießen, und du mir dafür nur diese miesen Zahlen vorlegst, bin ich inzwischen kurz davor, nicht nur das Internet, sondern auch das leidige Telefon endlich zu verkaufen und dafür in krisenunabhängige Basiswerte zu gehen. Ich sage nur: Meerentsalzungsanlagen und Wasserpipelines! Was fällt dir dazu ein, Toshi?“

Letzteres sagte Leo Abrahams mit einem solchen Triumph in der Stimme, als müsste es mehr als nur um eine große Sache, nämlich mindestens um ein Mega-Projekt gehen, das die ganze Firma umkrempeln würde.

„Ich muss sofort an die East-West-Water Holding und die Dürre in Kalifornien denken“, erwiderte Tosh ohne langes Nachdenken und bewies wieder einmal, was für eine gut geschärfte Rundumsicht er auf die verschiedensten Bereiche des amerikanischen Marktes hatte.

„Du hast wie immer sofort ins Schwarze getroffen! Aber du musst mir versprechen, darüber bis zuletzt absolutes Stillschweigen zu bewahren. Ich möchte dies sogar von oben bis unten mit dem Stempel Top Secret versehen und die ganze Sicherheitsabteilung entsprechend alarmieren.

Vielleicht könntest du Snyder ein wenig über die Schulter schauen. Ich will, dass mir nichts und niemand dieses Geschäft vermasselt, durch das ich in spätestens zehn Jahren größter Wasserlieferant für den gesamten, langsam verdorrenden Westen bin. Was, Tosh, das frage ich dich, nützt dem Menschen sein Auto, Fernsehen, Telefon oder Internet, wenn er nicht einmal mehr Wasser hat? Aufgrund der Klimaveränderung wird alles, was auch nur im Entferntesten mit Geo-Engineering zu tun hat, zu den größten Wachstumsmärkten der Zukunft zählen. Ich möchte das Wassergeschäft noch aufblühen sehen, bevor ich mich in den Ruhestand zurückziehe!“

Tosh musste über die beinahe kindliche Begeisterung, mit der Leo ihn in seine Pläne einweihte, mit einer Mischung aus Anerkennung und leichter Belustigung lachen. Soweit er die Möglichkeiten dieses Geschäfts auf Anhieb ohne nähere Analyse überschlagen konnte, versprachen sie tatsächlich rosige Aussichten. Da die Grundversorgung mit Wasser allerdings einige soziale Brisanz an sich trug, würde Geheimhaltung allein nicht genügen, da mit starkem politischen Interesse und großer Konkurrenz zu rechnen war.

„Wer sind die ärgsten Feinde?“, fragte er also sofort sehr nüchtern und berechnend, als wäre vollkommen klar, dass genau diese Frage als erstes gestellt werden musste.

„Diejenigen, die wie ich sehr langfristig denken“, erwiderte Leo in einer enigmatischen Art, die für ihn typisch war. Tosh musste nur kurz überlegen, um darauf zu kommen, wer diejenigen waren.

„Die Chinesen!“

„Richtig! Ein mögliches Joint Venture zwischen Min-Lo und der kanadischen Honeymoon. Wenigstens haben das einige Schnüffelnasen um Walter Silverman schon im letzten Jahr herausgefunden. Du siehst also, Toshi, dieser Silverman ist gar nicht so schlecht, wie er mit seiner Glatze und seinem dicken Bauch aussieht.“

„Und wieso denkst du, kann man Snyder in der Sache voll vertrauen?“

„Er hat sich bereits einige Male mir gegenüber als sehr loyal erwiesen. Es scheint da gewisse Sympathien zu geben. Der wichtigste Faktor bei ihm aber heißt Patriotismus. Ich weiß, wie sehr er patriotisch denkt, und ich werde mir dies zunutze machen, indem er mit all seinem Geschick dafür sorgen darf, dass eines der größten und aussichtsreichsten Wasserversorgungsprojekte in amerikanischen Händen bleibt.“

„Gab es bereits Kontakt mit der Politik, kommt von irgendwoher Unterstützung?“

„Die Politik hält sich offiziell zurück und du wirst bestimmt nicht gerne hören, wer von nun an unsere neuen Freunde sind!“

Plötzlich beschäftigte Leo sich intensiv mit seinem Essen, da er etwas Zeit gewinnen wollte, um seinen Freund und wichtigsten Manager auf eine sehr schwerwiegende Neuigkeit vorzubereiten. Dabei wusste er selbst noch nicht, dass es eine Neuigkeit war, die schon sehr bald in engem Zusammenhang mit den Vorgängen um Dembski stehen würde. Nach einer Weile enthüllte er dann endlich:

„Es gibt da einen Deal, über den ich nur spreche, weil deine spezielle Erfahrung benötigt wird. Vielleicht wirst du es nur schwer glauben, aber ich habe mich im Sommer persönlich mit Marc Rutherford, dem Direktor der Intelligence Community, in New York getroffen und etwas vereinbart, was uns bei unseren Verhandlungen sehr zugute kommt.“

„Rutherford!?“, wiederholte Tosh voller Unglauben mit scharfer Stimme. „Bist du verrückt? Manche sagen, dass seine Macht in Vielem nicht unter der des Präsidenten steht!“

„Vielleicht sogar noch darüber! Dementsprechend artig habe ich mich benommen. Mit ein wenig Geschick werden so aus Feinden plötzlich Freunde gemacht. Verurteile mich nicht, wenn ich dir beichten muss, wie sehr dieser Deal erheblich mehr als bloß unlauterer Wettbewerb ist....“, deutete Leo mit ernster Miene den gefährlich schmalen Grat zwischen der Wahrung ethischer Grundsätze und der reinen Verfolgung von Firmeninteressen an, den er durch die geheime Absprache betreten hatte.

„Du solltest vorsichtig sein, denn sobald du solche Spiele anfängst, kann sich das Blatt irgendwann auch gegen dich wenden! Welches Interesse besteht seitens der betreffenden Kreise in der Intelligence Community?“

Tosh, der von Haus aus Ingenieur und im weitesten Sinne Techniker war, hatte seine Laufbahn einst selber bei einem der Geheimdienste begonnen, weshalb er aus verschiedenen Gründen – Gründen, die Laien nicht nachvollziehen konnten - bestürzt über Leos Enthüllung war.

„Ich hoffe, es wird sich nur um national-strategische Interessen der harmloseren Art handeln, die im besten Fall vom Kongress und Weißen Haus unterstützt werden. Für die Politik ist es einfacher einem privaten Unternehmen die Arbeit zu überlassen, als offen eine staatliche Intervention durchzuführen oder die Chinesen mit noch brutaleren Methoden vom Markt zu drängen. Wahrscheinlich glauben ein paar Leute im Pentagon, man könnte uns im Kriegsfall Gift ins Trinkwasser schütten oder wir würden durch die Besitztümer fremder Mächte auf unserem Boden Schritt für Schritt die Kontrolle über unsere eigene Infrastruktur verlieren.

Der Deal ist übrigens ganz simpel, ich verrate ihn dir: Es wird keine weiteren Anfeindungen gegen Independent Internet geben, wenn wir nach und nach die restlichen Teile unseres Internetgeschäftes freiwillig an LOGO übergeben und dafür in Projekte gehen, die von einigen eingeweihten Köpfen der Intelligence Community für uns bestimmt und protektioniert werden“, führte Leo in einer für Toshs Geschmack viel zu leichten, ja geradezu leichtfertigen Art aus, was in seinen Augen bewies, dass er die wahren Dimensionen und möglichen Folgen dieses Deals bei weitem noch nicht ausreichend durchdacht hatte.

„All das könnte man auch verbotene Staatswirtschaft oder Manipulation des freien Marktes nennen, Leo! Ich frage mich, warum du dich darauf einlässt und warum du plötzlich dein Grundprinzip von Unabhängigkeit und Freiheit aufgibst! Was denkst du, hätte dein Vater darüber gesagt?“

„Mein Vater und mein Großvater haben niemals das Geschäft in dieser Größe, mit solchen großen Chancen und Risiken gesehen! Ich habe mich entschlossen, I.I. lieber an die Leine zu legen, als den schleichenden Untergang weiter mit anzusehen! Es ist immer noch besser, unter eingeschränkten Bedingungen weiterhin einen respektablen Einfluss auf den amerikanischen Markt zu haben, als ihn sich durch seine eigenen Prinzipien ganz zu zerstören.

Das Blatt wird sich bestimmt eines Tages wieder wenden und vielleicht wird Theodore einmal eine neue, blühende Zeit erleben, in der I.I. wieder zu seiner alten Größe und seinen goldensten Prinzipien zurückfindet!“

Es so sah aus, als würde Leo wirklich glauben, was er da sagte; vielleicht war es aber auch nur eine Hoffnung, an die er sich klammerte, um für sein Lebenswerk eine neue, zukünftige Größe herbeizusehnen. Tosh musste nun an alles, was ihm je über LOGO zu Ohren gekommen war, auf einmal denken und wusste gar nicht, wo er mit seinen Einwänden beginnen sollte, damit I.I. nicht schon bald den ersten Schritt in die Richtung desselben Schicksals tat.

„Du weißt, wie sehr LOGO durch den Einfluss der Geheimdienste quasi unter halbstaatlicher Kontrolle steht; wie lange kann es da dauern, bis das Gleiche für uns selber gilt? Du wirst immer weniger Spielraum für eigene Entscheidungen bekommen und Theodore wird irgendwann nur noch eine hohle Puppe, ein Schauspieler auf dem Chefsessel sein, der der Öffentlichkeit das Märchen freier Märkte vorspielt. Ich kann nicht verstehen, wie du...“

Tosh wurde unterbrochen, da Li Lin an den Tisch trat und sie über Lydia Abramovitchs und Walter Silvermans Anfkunft unterrichtete. Leo ließ die beiden wichtigen Mitarbeiter sofort durch die Hausdame herbei bitten und wies sie an, Getränke und etwas zu Essen für sie anzurichten.

Die echte Lydia Abramovitch, die die besonders heiklen Aufgaben in der Sicherheitsabteilung von I.I. übernahm, reichte nicht ganz an die strahlende Attraktivität ihrer rätselhaften Doppelgängerin „Agneschka“ heran, aber konnte sich mit ihren halblangen, schwarzen Haaren im Pagen-Schnitt und ihrem intelligenten und hübschen Gesicht absolut sehen lassen und hätte auf Dembski sicherlich eine ebenso betörende Wirkung gehabt. Walter Silverman, der mit seinem enormen Bauch und der ausgeprägten Halbglatze etwas Gemütliches und Gutmütiges, aber auch etwas Ungehobeltes und Verschlagenes an sich hatte, hatte sich für den Besuch bei dem großen Abrahams, den nicht viele Mitarbeiter persönlich zu Gesicht bekamen, extra sein bestes Jackett angezogen. Das schicke Kleidungsstück verfehlte jedoch seine beabsichtigte Wirkung, da es nicht vollständig über seinen Bauch reichte und eine unfreiwillige Komik ausstrahlte.

„Miss Abramovitch, wenn ich Sie nicht hätte, Sie sind die Allerbeste! Vor was für einem Unheil haben Sie uns schon oft bewahrt!“, rief Leo bei der Ankunft der Beiden aus und stand sogar auf, um der hübschen Sicherheitsfrau den Stuhl zurechtzurücken, was er sonst niemals tat. Er hätte mindestens 20 bis 30 Jahre jünger sein müssen, um eine echte männliche Schwäche für sie zu entwickeln, und so behandelte er sie nur mit einer besonderen, altväterlichen Höflichkeit, da sie einmal in der Vereitelung eines Anschlages auf sein Leben eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Silverman bekam hingegen nur ein kurzes, freundliches Wort und wurde angewiesen Platz zu nehmen.

„Wie geht es Ihnen, Miss Abramovitch? Haben Sie sich von dem Vorfall inzwischen etwas erholt? Konnten Ihre Kollegen bereits irgendetwas herausfinden?“, erkundigte sich Leo mit aufrichtiger Anteilnahme, da ihm die attraktive und äußerst fähige Abramovitch schon immer sehr am Herzen gelegen hatte.

„Bis auf die Kopfschmerzen, die ich wahrscheinlich mit diesem Mr. Burke - oder Dembski - gemeinsam habe, geht es mir gut. Allerdings war es mir natürlich noch nicht möglich, irgendetwas über die Sache herauszufinden. Sie müssen sich also zunächst an unseren Mr. Silverman wenden, weshalb er ja mit mir hergekommen ist. Er hat meiner Meinung nach erstaunlich gute und schnelle Arbeit geleistet“, erwiderte Abramovitch, die sonst extrem selbstbewusst auftrat und der man nachsagte, dass sie lesbisch war, sehr viel zurückhaltender und gedämpfter als üblich. Wie sehr ihr die Sache noch immer in den Gliedern saß, hätte sie wegen ihres ausgeprägten Egos niemals offen zugegeben.

„So, hat er das… Na, dann geben Sie mir mal eine kurze Zusammenfassung, Mr. Silverman!“, wandte sich Leo daraufhin sofort an den dicken Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung.

„Nun, ein guter Informant hat uns etwas zugesteckt, was die wahrscheinlichen Urheber der Aktion bereits heute in unser Blickfeld rücken lässt“, begann Silverman beeinflusst von der Kulisse des noblen Landsitzes mit einer seltsam aufgesetzten, geheimnisvoll klingenden Vornehmheit vor seinem obersten Chef zu sprechen, so als wäre er ein Meisterdetektiv wie Hercules Poirot oder Sherlock Holmes, der in dem kurzen Zeitraum der Untersuchung bereits überdurchschnittlich viel herausgefunden hatte.

„Der High Times Club, in dem dieser Dembski laut eigener Aussage mit Miss Abramovitchs Doppelgängerin gewesen ist, scheint eine wichtige Drehscheibe für verschiedenste Geheimdienstaktivitäten zu sein und führt direkt auf allerhöchstem Niveau in das Russenmilieu hinein. Der Besitzer, ein zwielichtiger Kerl namens Clyde Taylor, ist ganz offensichtlich nur ein gut gedeckter Strohmann, der über zwei weitere Etablissements ähnlicher Art in Manhattan verfügt.

Mein Informant konnte mir mit großer Sicherheit belegen, dass der wahre Besitzer des High Times der russische Oligarch Sergej Romanov ist, der seit jeher dem russischen FSB nahe steht. Diese Tatsache ist in bestimmten Kreisen offenbar kein Geheimnis, denn ich habe von dem Spitznamen des Clubs gehört, der angeblich als Treffpunkt für die Unterhändler gegnerischer Geheimdienste fungiert. Man nennt ihn auch The Meeting Place, weswegen man an diesem Ort in ein wahres Wespennest sticht und wir uns dringend fragen müssen, wie weit wir mit unseren weiteren Untersuchungen gehen sollen. Es könnte uns nicht gut tun, wenn wir dort irgendwen unnötig für uns interessieren und schlafende Hunde wecken – Hunde, die unter Umständen sehr gefährlich werden können, Mr. Abrahams!“

Silverman schien ernstlich besorgt zu sein, was Leo Abrahams unter diesen Umständen wohlwollend als Vernunft und nicht etwa als unbegründete Angst interpretierte; auch sonst zeigte er sich sehr zufrieden mit Silvermans kurzem und prägnanten Bericht.

„Ich danke Ihnen, Mr. Silverman! Ich stimme natürlich mit Ihnen darin überein, in dieses Wespennest, wie Sie es nennen, nicht weiter einzudringen. Wenn Moskau hinter der Sache steht, ist dies für uns in diesem Fall positiv zu sehen und es bedarf keiner weiteren Aktionen. Außerdem kämen wir gegen die Russen ohnehin nicht an.

Haben Sie noch etwas über den Decknamen der falschen Lydia Abramovitch herausgefunden? Wie lautete er noch gleich?“

Leo schaute fragend in die Runde, ob ihm jemand den Namen nennen konnte.

„Patricia Stratford“, entgegneten Tosh und Silverman zugleich und allein Silverman fuhr dann weiter fort:

„Es ist ein Name wie tausend andere und selbst zusammen mit der Mitgliedsnummer des High Times Clubs, die uns Dembski genannt hat, konnte ich auf die Schnelle nichts in Erfahrung bringen, ohne dass meine Untersuchungen für andere zu offensichtlich werden. Ich werde dem weiter nachgehen und Sie, Mr. O’Brian, informieren, falls sich daraus noch etwas ergibt. Ich glaube, hinter dieser Patricia Stratford wird eine russische Top-Spionin stecken, die wahrscheinlich für immer ein Mysterium bleibt.“

„Und was ist mit dem Betäubungsmittel? Hat es bereits eine Analyse gegeben?“, führte nun Tosh anstatt Leo die Reihe der nötigen Fragen fort.

„Dr. Fields – falls Sie ihn kennen – ist heute Morgen bei Miss Abramovitch gewesen und hat ihr eine Blutprobe entnommen. Er hat mich unterwegs angerufen und von einem Stoff mit dem Spitznamen Agent O gesprochen, der genauso von den Amerikanern wie den Russen verwendet wird. Es ist ein geruchsloses Mittel, das ähnlich wie Chloroform zur sofortigen Betäubung führt und beim Opfer für einige Zeit Kopf- und Gliederschmerzen und Erinnerungslücken hinterlässt. Mit gesundheitlichen Folgeschäden ist angeblich nicht zu rechnen“, erläuterte Silverman und klang dabei so dienstbeflissen wie der pflichtbewusste Polizist, der er vor seiner Zeit als Privatdetektiv und als Ermittler bei I.I. früher einmal gewesen war.

„Sehr gut! Ich würde nämlich auf Rache sinnen, wenn unserer Lydia etwas noch Schlimmeres geschehen wäre!“, rief Leo sofort aus und hatte dabei etwas von einem guten, väterlichen Patron an sich, der beherzt für einen seiner liebsten Schützlinge eintrat.

„Es handelt sich eben um ein Berufsrisiko, das man tragen muss und das durch ein großzügiges Gehalt angemessen ausgeglichen wird, Mr. Abrahams“, entgegnete Lydia Abramovitch darauf so trocken und ungerührt, wie man es von ihr gewohnt war. Sie war in Wahrheit nur froh, dass sie von den beiden Männern, die in ihrer Wohnung auf sie gewartet hatten, nur festgehalten und betäubt und nicht etwa noch vergewaltigt worden war. Dann spannte sie endlich den Bogen direkt zu dem Thema, das sie alle zur Zeit am meisten interessierte und weswegen sie an diesem Mittag zusammengekommen waren - die Übergabe eines riesigen Pakets von NSA-Dateien, die ein großer Unbekannter von Langley aus gehackt hatte.

„Wie Sie wissen, habe ich die Untersuchung der Dateien organisiert, die uns der Mann, der höchstwahrscheinlich Dr. David Dembski heißt, vor etwa drei Wochen zur Probe zugesendet hat. Daran, dass sie echt sind, können inzwischen so gut wie keine Zweifel mehr bestehen, da es sich um einen Auszug aus einem geheimen digitalen Dossier über Mr. Abrahams handelt, dessen Inhalt auf uns zu 100 Prozent authentisch wirkt. Aber selbst wenn das Dossier nur als ein Lockmittel von der CIA fingiert worden wäre, um uns später eines illegalen Geheimnisverrats zu überführen und erpressbar zu machen, müssten wir uns natürlich sofort die Frage stellen: Warum und wozu?

Ich möchte nämlich in diesem Zusammenhang an einen bestimmten Deal erinnern, in den vielleicht nicht alle hier eingeweiht sind. Daher muss ich zunächst Mr. Abrahams fragen, ob ich in dieser Richtung überhaupt weiterreden darf...“

„Nun ja, Mr. O’Brian weiß wie immer Bescheid und Mr. Silverman wird hiermit zu absolutem Stillschweigen verdonnert. Es wäre mir allerdings sehr recht, wenn Sie sich die Details ersparen und an der Oberfläche bleiben, Miss Abramovitch“, bat Leo mit einem verschmitzten und etwas verschämten Lächeln, so als würde er sich einer unlauteren Geheimniskrämerei schuldig machen.

„Gut, dann werde ich eben von nicht mehr als einem Deal mit bestimmten Kreisen in der Intelligence Community sprechen. Es ist ein Deal, durch den I.I. so sicher wie nie zuvor während der letzten 20 Jahre ist, weshalb seit etwa zwei Monaten ein offensiver Angriff seitens der Geheimdienste absolut unwahrscheinlich geworden ist.

Wie Ihnen längst bekannt ist, hat die Untersuchung der Dateien ergeben, dass sie durch so genannte elektronische DNA – auch EDNA genannt – markiert worden sind, weshalb sie von uns nicht ohne eine gründliche vorherige Säuberung weitergegeben werden sollten. Es bleibt übrigens unklar, ob der große Unbekannte, der Dr. Dembski mit den Dateien versorgt hat, etwas davon gewusst hat. Unser Mr. Krueger glaubt, dass der Hacker, der hinter Dembski steht, ein junges Genie sein muss. Vor Dembskis Ankunft wurde in dem System unserer Sicherheitsabteilung eine Nachricht hinterlegt, die nach Kruegers Ansicht die Handschrift eines Cyber-Rebellen trägt, wie er für die junge Generation typisch ist. Dies könnte die Vermutung zulassen, es mit jemandem zu tun zu haben, dem trotz seiner Fähigkeiten aufgrund seines jungen Alters eine ausreichende Erfahrung mit den aktuellen Arbeitsweisen der Geheimdienste noch fehlt.

Vielleicht sollten wir Dembski und seinen Partner vor der EDNA warnen; wer weiß, was sie mit diesen Dateien alles anstellen und ob ihnen Langley nicht schon längst auf den Fersen ist.“

Abramovitchs Erläuterungen führten zu einem Moment des allgemeinen Schweigens und Nachdenkens, bis Silverman, der in der warmen Septembersonne ziemlich zu schwitzen begonnen hatte und sich mit einem Stofftaschentuch nervös seine breite Stirn abtupfte, fragte:

„Ich höre den Begriff EDNA zum ersten Mal und weiß nicht, was man sich darunter genau vorstellen soll. Könnten Sie es mir erklären, Miss Abramovitch?“

„Wahrscheinlich könnte uns das der genannte Mr. Krueger am besten darlegen. Er ist der Top-Informatiker in unserem Labor und wird auch damit beauftragt werden, die Dateien umzuschreiben, sobald wir sie von Dembski erhalten haben. Soweit ich ihn verstanden habe, haben die Geheimdienste ein spezielles Netzwerk aufgebaut, in dem der Weg bestimmter markierter Datenpakete und ihr Speicherort sehr viel exakter als über das öffentliche Internet festgestellt werden kann. Es ist sozusagen eine geheime Datenspur, die sich nicht mehr verwischen lässt und beispielsweise bei der Beschlagnahmung von Computern helfen kann, wenn sie mit irregulären Datenströmen zu tun haben. Ich kann hier heute leider nur diese oberflächliche Erklärung abgeben, aber sie genügt für das, was wir wissen müssen.“

Obwohl Abramovitchs Erläuterung laienhaft war, schien sie Leo Abrahams zufrieden zu stellen, da er sich darauf – wie so oft – mit besonderer Freundlichkeit an seine bevorzugte Angestellte wandte:

„Ihren Vorschlag Dr. Dembski und seinen Partner vor der EDNA zu warnen, nehme ich hiermit bereitwillig an, Lydia. Allerdings sollte dies nicht geschehen, bevor wir die Dateien entgegengenommen haben, damit er nicht etwa plötzlich Furcht bekommt und einen Rückzieher macht. Der Mann scheint mir so oder so verloren zu sein, da ihm die CIA früher oder später sicher auf die Spur kommen wird. Es würde für ihn keinen Unterschied mehr machen, ob er uns die betreffenden Festplatten gibt oder nicht und so sollten wir nicht auf sie verzichten, wenn er für sie schon ein solch großes Opfer bringt.“

„Ich möchte mir eine kleine, aber wichtige Frage erlauben, Mr. Abrahams: Warum wollen Sie diese Dateien überhaupt noch haben? Was können Sie mit ihnen schon anfangen? Möchten Sie ernsthaft in einen geheimen Kampf gegen den Überwachungsstaat oder etwas Ähnliches ziehen, wo Sie sich doch gerade erst selber mitten in die Höhle des Löwen gewagt haben? Der Deal mit Rutherford und der Intelligence Community wird für I.I. ungeheure Konsequenzen haben und dem Konzern einen vollkommen anderen Charakter verleihen. Ich verstehe Ihr Handeln ehrlich gesagt nicht, Sir, und ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie sich quasi vor den Augen aller Geheimdienste auf ein gefährliches, doppeltes Spiel mit einem Whistleblower einlassen!“

Der mehr als berechtigte Einwand hatte Abramovitch bereits die ganze Zeit auf der Zunge gelegen und der alte Leo Abrahams ließ darauf eines der vieldeutigsten, wissendsten, ja sogar weisesten Lächeln sehen, das sie je an ihm gesehen hatte.

„Die Würfel sind noch lange nicht gefallen, liebe Miss Abramovitch. In einem wirklich guten und großen Spiel muss es natürlich eine Karte geben, die noch nicht aufgedeckt worden ist. Ich habe mich zwar – wie Sie sagen - in die Höhle des Löwen begeben, das bedeutet jedoch nicht, mich auch wirklich mit ihm von Herzen verbündet zu haben. Bedenken Sie das bitte.“

Als Leo nicht weiter sprach, fragte sie noch einmal:

„Ja, aber glauben Sie denn wirklich, Sie könnten mit den Geheimdiensten kooperieren und zugleich Ihre alten Ideale aufrechterhalten und Ihren Geschäften weiter im gewohnten Stil nachgehen?“

„Na, warum denn nicht? In fortgeschrittenem Alter kann man auch fortgeschritten denken und zur Not auf mehreren Gleisen fahren. Sie müssen außerdem verstehen, dass ich meine intimsten Pläne auch vor Ihnen nicht offen legen kann. Bereits mein Großvater Isaac lehrte mich in großen Zügen zu denken und über längere Zeiträume hinaus zu schauen und sich solange nicht von dem äußeren Bild der gegenwärtigen Lage blenden zu lassen, bis man auch ihre Hintergründe richtig zu deuten gelernt hat. Zwei Dinge darf ich Ihnen zumindest verraten, die Mr. Rutherford besser nicht hören sollte.

Erstens: Ich lasse mich nicht folgenlos erpressen, und wir alle wissen, wie sehr der Verkauf der Internetsparte unter diesen Bedingungen einer Erpressung gleichkommt, auch wenn dafür mein neues Projekt sehr verlockend ist.

Zweitens: Ich lasse mich nicht in meinem eigenen Land ausspionieren, einem Land, in dem mein Konzern tausende Familien ernährt, Millionen Dollar Steuern zahlt und niemandem Unrecht tut. Das Regin-System, das man mir untergeschoben hat, ist also noch lange nicht vergessen, und obwohl ich eigentlich nicht für Rache bin, werde ich dafür zumindest Dembski und seinem Partner helfen - wofür es übrigens auch noch ein paar andere Gründe gibt…“

„Wenn ich gläubig wäre, Mr. Abrahams, würde ich dafür beten, dass Ihnen Rutherfords Durchtriebenheit und die seiner Kollegen nicht eines Tages zum Verhängnis wird und Sie bei Ihren neuen Geschäften immer den Durchblick behalten“, entgegnete Abramovitch für ihre Verhältnisse ungewohnt sentimental und zeigte ihm damit, wie sehr sie bedingungslos auf seiner Seite stand. Sie hoffte aufrichtig darauf, dass sich der alte Mann in diesem großen Spiel nicht irgendwann einmal schwer verrechnete.

„Wenn irgendwer das Beten nötig hätte, dann wohl dieser Dr. Dembski“, stellte daraufhin Tosh O’Brian wieder den direkten Bezug zu dem Whistleblower aus Washington her. „Mir wäre es wirklich lieb, wenn ihm nichts geschähe, weil er mir auf unerklärliche Art am Herzen liegt. Ich habe zwar nur zwei Mal mit ihm telefoniert, aber nach allem, was wir inzwischen über ihn wissen, scheint er ein sympathischer Kerl mit Überzeugungen zu sein. Es sieht so aus, als hätten wir es mit einem alten, sentimentalen Juden zu tun, der aufgrund eines Ehrenschwures handelt und bei seiner ganzen Mission vor allem an seinen Großvater denkt. Der Mann ist in Auschwitz umgekommen und hat seinen Nachfahren ein besonderes Eintreten für die Freiheit aufgetragen.“

Die Bemerkung löste einiges Erstaunen bei Abramovitch und Silverman aus, aber sie äußersten sich nicht weiter dazu, da sie merkten, dass Leo die Besprechung aufgrund seines streng getimten Terminkalenders beenden wollte. Tatsächlich dauerte es nicht lang, bis er auf gewohnt professionelle Weise seine abschließenden Anweisungen gab:

„Ich danke Ihnen für Ihre Berichte, Miss Abramovitch und Mr. Silverman. Hören Sie bitte gut zu, ich möchte, dass alles Weitere wie folgt abläuft:

Tosh, du wirst Dembski noch heute anrufen und ihn über die Ergebnisse unserer Untersuchungen informieren. Es dürfte ihn bestimmt interessieren, dass dieses Agent O keine gesundheitlichen Schäden hinterlässt und seine gestrige Begleitdame wahrscheinlich eine russische Spionin gewesen ist, die ihn in ein bekanntes Agentennest ausgeführt hat. Des Weiteren soll er am Montag von zwei zuverlässigen Leuten aus dem Maison Rouge abgeholt werden, damit er pünktlich gegen 13 Uhr im Warteraum des Heliports im Tower erscheint. Er soll mit mir am frühen Nachmittag im Helikopter zum Harriman Countryclub fliegen, wo die Verhandlungen mit LOGO beginnen. Ich werde mir zwischendurch ausreichend Zeit für ihn nehmen und alles mit ihm besprechen. Es wäre ziemlich kleinlich, ihn mit fünf Minuten abzuspeisen, bei allem was er auf sich nimmt.

Es wäre mir lieb, wenn Sie, Mr. Silverman, zu den Leuten gehören, die Dembski vom Hotel abholen, damit er uns nicht etwa im letzten Moment noch abhanden kommt! Und Ihnen, Miss Abramovitch, möchte ich hiermit nochmals einschärfen, Dembski nicht vor der Übergabe der Dateien über die EDNA aufzuklären. Außerdem wäre es gut, wenn Sie am Montag mit uns kämen und ein wenig die Augen offen hielten, falls ihm noch immer die Russen an den Fersen kleben.

Du, Tosh, wirst sowieso mit mir fliegen, um an den Verhandlungen teilzunehmen. Da auch Mr. Snyder dabei sein wird, kannst du bei dieser Gelegenheit den Kontakt zu ihm schon einmal vertiefen, weil er für uns auch das Geschäft abwickelt, über das wir eben gesprochen haben!“

Wie immer sorgte Leo dafür, dass alles Hand in Hand ging und seine wertvolle Zeit mit verschiedenen Projekten zugleich belegt wurde, deren jeweils spezifische Probleme er in seinem langen Leben souverän und virtuos parallel zu beherrschen gelernt hatte.

So wartete etwa auch, wenn er am Montagabend von den Verhandlungen aus dem noblen Harriman Countryclub zurückkehren würde, am nächsten Morgen bereits die außerordentliche Hauptaktionärsversammlung im Tower auf ihn, in der der Verkauf der Internetsparte auf der Tagesordnung stand. Aus diesem Grund sollte noch an diesem Nachmittag Prof. Dr. Fuller auf Abrahams Gardens erscheinen, der als stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates die wesentlichen Punkte der Versammlung mit Leo zu besprechen hatte. Der musste dazu vorher mindestens eine halbe Stunde alleine sein, um sich innerlich auf die wichtige Unterredung vorzubereiten, weshalb Abramovitch und Silverman ein paar Minuten später mit guten Wünschen für das beginnende Wochenende zurück nach New York geschickt wurden. Tosh flanierte derweil zu seiner Entspannung über die Wiesen und durch die Haine von „Abrahams Gardens“ zum Ozean hinüber und genoss dabei das wunderschöne Gelände wie immer so, als ob er dort selber zu Hause wäre.

Der letzte Weg des Dr. Dembski

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