Читать книгу Was ist Glaube? - Benjamin Schliesser - Страница 14

Verstehenshorizont

Оглавление

Die in den Texten des Paulus erkennbar werdende Bestimmung des Glaubens als nach innen verbindendes und zugleich nach außen abgrenzendes Kennzeichen christlicher Identität lässt nach dem »intertextuellen Gewebe« zurückfragen, in welches diese Rede vom Glauben eingebunden ist, aber auch nach charakteristischen Abweichungen und Neugestaltungen von geläufigen Vorstellungen seiner Zeit.

Im Judentum galt Abraham durchweg als Stammvater (vgl. Röm 4,1) und Identifikationsfigur des Volkes Israel. Seine Beschneidung, das »Zeichen des Bundes« (Gen 17,11), den Gott mit ihm und seinen Nachkommen geschlossen hat, wurde nach dem Exil »zur exklusiven nota Iudaica«108 und sein bis zum Äußersten gehender Gehorsam (Gen 22) wurde zum Symbol der Treue, wie Gott sie gegenüber seinen Geboten erwartet.109 Philo (ca. 15 v. Chr. – 50 n. Chr.) |32| und andere vertraten gar die Auffassung, dass sich Abraham an die vollständige (wenngleich noch »ungeschriebene«) Tora hielt.110 Die Beschneidung und die damit untrennbar verbundene Toraobservanz sonderten die Juden von den Völkern ab und erzeugten ein tief gegründetes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Der paulinische Argumentationsgang, dass dem Glauben aufgrund seiner zeitlichen Priorität gegenüber der Beschneidung auch sachliche Priorität zukommt, hat im Judentum keine Parallele und erweist die Neuheit und Kühnheit der paulinischen Deutung.

Die auch von Paulus verwendete Bezeichnung »die Glaubenden« bzw. »die Gläubigen« ist in jüdischen Texten einerseits als theologisch-ethischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu den Gottlosen aus dem eigenen Volk111 sowie als soziologischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu Andersgläubigen (Heiden)112 anzutreffen.

Im pagan-hellenistischen Bereich galt die pistis als ein maßgebliches Element, »das den sozialen Verband der Großfamilie (oikos) konstituierte und stabilisierte; die pistis band die Hausgenossen in enger Solidarität und Loyalität zusammen.«113 Im Imperium Romanum genoss die »Treue« als höchstes Staatsprinzip besonderes Ansehen und »fungierte […] offenbar über einen weiten Zeitraum hinweg und zumal im 1. Jh. n. Chr. innerhalb wie außerhalb Roms als eine Art identity marker römischer Kultur und Herrschaft«.114 Plutarch beispielsweise kommt in seiner Biographie des Titus Flaminius auf die Hochschätzung der fides in Rom zu sprechen. Dieser hatte entscheidend zur Befreiung Griechenlands aus der Hand der Makedonier beigetragen und schließlich Griechenlands Freiheit proklamiert. Plutarch berichtet, wie der Chor der Mädchen in einer Hymne (aus der Zeit um 190 v. Chr.) den Göttervater Zeus (Jupiter), die Göttin Roma, Flaminius und auch die (deifizierte) Fides preist: »Wir verehren die Pistis der Römer, die gewaltige, zu schützen mit Eiden […]«115 So wurde die fides »ein zentraler Begriff im röm[ischen] Leben u[nd] Denken. […] Fast alle Arten von Bindungen, von Abhängigkeits- und Loyalitätsverhältnissen (zwischen den Römern selbst u[nd] gegenüber anderen Völkern, ebenso zu den Göttern) waren durch F[ides] charakterisiert.«116 Auf diesem Hintergrund kann man zu Recht fragen, ob die überproportionale |33| Dichte der Glaubensterminologie im Römerbrief einen dort geläufigen Topos adressatenspezifisch aufnimmt.117 Zumindest wird Paulus’ Erhebung des Glaubens zum Zentralbegriff des christlichen Ethos und Gottesverhältnisses bei seinen Rezipienten nicht ohne Resonanz geblieben sein.

Was ist Glaube?

Подняться наверх