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Verstehenshorizont

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Dieser Gedanke, dass das Gesetz durch eine andere heilsgeschichtliche Größe jemals abgelöst werden könnte, ist für das Judentum unvorstellbar. Vielmehr ist »auch der kommende Äon […] vom Gesetz bestimmt. Das Judentum lehrt nicht wie die Griechen die Ewigkeit der Welt, sondern die Ewigkeit des Gesetzes. Die vollendete Schöpfung bringt nicht eine neue Tora mit sich, sondern bestätigt gerade das Gesetz vom Sinai.«149 Eine Annäherung von griechischem und jüdischem Denken ereignete sich aber im hellenistischen Judentum, das die griechische Weisheitslehre mit der jüdischen Theologie des Gesetzes verschmolz. Dies brachte ein kosmologisch verankertes Wirklichkeitsverständnis hervor, das (von Martin Hengel) als »Toraontologie« bezeichnet wurde.150 Die Tora »übernahm« von der Weisheit deren kosmische Funktion und war als »Weltgesetz« für die Durchsetzung der Herrschaft Gottes in der Welt verantwortlich; von da aus erstreckt sich ihr Wirkungsbereich weiter auf die soziale Ordnung wie auf die Lebensordnung. Unter diesen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen ist es gut vorstellbar, dass eine solch allumfassende Struktur des Gesetzes für Paulus’ Auffassung von der pistis Pate gestanden haben könnte.

Auch die paulinische Personifizierung der pistis kann auf Vorbilder im antiken Judentum zurückgreifen. Schon das Alte Testament spricht davon, dass »Gnade und Treue« vor Gottes Thron einhergehen (Ps 89,15; vgl. Ps 85,11–12), und Philo dokumentiert an zahlreichen Stellen die charakteristische Personifizierung der Weisheit im hellenistischen Judentum: Tugendliebende Seelen gehen mit der Weisheit als »Erkenntnismittel« und »Erkenntnisziel«151 um und finden im Bereich der Weisheit ihren Zufluchtsort, der |40| zugleich ihr angestammtes Vaterland ist.152 Es kann angenommen werden, dass die frühchristliche Vorstellung einer personifizierten pistis beeinflusst wurde von Elementen jüdischer Weisheitslehre, da beide Metaphern mit vergleichbaren Bildfeldern assoziiert werden und als von Gott gesetzte Realitäten wirklichkeitsbestimmend und soteriologisch relevant sind.153 Der jüdischen Lehre vom Gesetz, in das die Vorstellungen des griechischen Weisheitsdenkens geflossen sind, stellte Paulus sein vom Christusereignis her erschlossenes Konzept des Glaubens gegenüber.

Die Macht-Gabe-Struktur, die als weiteres Merkmal des Glaubens benannt wurde und die auch Paulus’ Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes kennzeichnet, ist in einigen Texten aus Qumran nachweisbar, die ebenfalls »die eschatologische Präsenz des mit der Gottesgerechtigkeit empfangenen Heils« kennen und der Gerechtigkeit Macht- und Offenbarungscharakter zuweisen.154 In einer Passage der sogenannten Gemeinderegel heißt es: »Wenn ich strauchle durch die Bosheit meines Fleisches, liegt meine Rechtfertigung in der Gerechtigkeit Gottes« (1QS 11,12). Die Qumrantexte wie die Paulusbriefe haben in der jüdischen Apokalyptik ihren gemeinsamen religionsgeschichtlichen Hintergrund.155

Ein Blick in die pagan-griechische Literatur zeigt, dass schon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., bei Theognis von Megara, ein Beleg für die Personifizierung der pistis erhalten ist: Die »große Göttin« Pistis ist zu ihrem Ursprungsort auf den Olymp zurückgekehrt, sodass nunmehr auf der Erde die Tugend der Treue abhandengekommen ist und Unwahrhaftigkeit und Täuschung überhandnehmen. Spätere Quellen wissen von einem Pistis-Tempel in Athen. Auch in Rom befand sich wohl seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert das Heiligtum der deifizierten Fides auf dem Capitol, unmittelbar neben dem Jupitertempel. Etwa zeitgleich mit dem Römerbrief schrieb Valerius Maximus in seinen »Memorabilia« der »ehrwürdigen Gottheit der Fides« zu, sie sei das »sicherste Unterpfand menschlichen Heils. Dass sie stets in unserem Gemeinwesen kräftig war, haben alle Völker erfahren« (6,6). Wer am Fides-Kult teilnahm, zollte der res publica Ehrerbietung und tat seine Loyalität gegenüber dem Staat kund.

|41| Wenn Paulus also die pistis als heilsgeschichtliche Gestalt bzw. als die mit Christus gekommene Heilszeit präsentiert und aus ihr ein umfassendes Wirklichkeitsverständnis ableitet, kann er auf eine Reihe von analogen Denkfiguren und Sprachbildern aus seinem geistigen Umfeld zurückgreifen und diese bei seinen Adressaten voraussetzen. Bei allen Parallelen und traditions- und religionsgeschichtlichen Verbindungslinien ist jedoch das Innovationspotential seines Glaubensbegriffs ernst zu nehmen, seine in großer Freiheit praktizierte Interpretation und Gestaltung überkommener Konzepte und Vorstellungen – auch und gerade hinsichtlich der Transsubjektivität des Glaubens.

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