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|34| 3. Glaube als »göttliche Geschehenswirklichkeit« Forschungsgeschichte

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Paulus denkt den Glauben also nie ohne seinen Gemeinschafts- und Öffentlichkeitscharakter; er fasst ihn nirgends im Sinne einer reinen Innerlichkeit oder radikalen Individualisierung auf. Doch Paulus geht nach Meinung einiger Exegeten noch einen Schritt weiter: Glaube ist ein eschatologisches Phänomen. Allerdings nicht in dem bei Bultmann zu findenden Sinne, nach dem »die konkrete Realisierung der Glaubensmöglichkeit des Einzelnen […] selbst eschatologisches Geschehen« sei.118 Hier wird der Gedanke des Eschatologischen verkürzt auf einen eschatologischen Augenblick, der dem Einzelnen gewährt wird und in dem er zu sich selbst und zum Glauben findet: »In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du musst ihn erwecken.«119

Ausgehend von seinen Beobachtungen zum paulinischen Gebrauch der pist-Terminologie, zieht Ernst Lohmeyer weitreichende Schlüsse. Den Glaubensbegriff kennzeichne eine eigentümliche »Doppelheit«: er sei sowohl menschliche »Tat« als auch »metaphysisches Prinzip«120; als solches sei er »im gleichen Sinne Offenbarung, wie Christus es ist«. Die enigmatische Wendung »Christusglaube« klärt sich nach Lohmeyer daraus: »Es ist nicht nur der Glaube, den Christus hat, auch nicht nur der, den er gibt, sondern vor allem der Glaube, der er selber ist.«121 Nach Lohmeyer erhebt Paulus den Glauben »zu einer objektiv gültigen und transzendenten Macht« und reduziert den Gläubigen zum »reine[n] Schauplatz«. »Man könnte scharf sagen: nicht ich glaube, sondern es glaubt in mir.«122

Auch wenn Lohmeyers Zuspitzungen und seine philosophische Terminologie bisweilen kritisiert wurden, griffen eine Reihe von Exegeten seine exegetischen Erkenntnisse auf und führten sie weiter. So urteilt Fritz Neugebauer: »Man muss E. Lohmeyer hier besser verstehen, als er sich ausgedrückt hat. So darf ich vorausschicken, dass man das, was E. Lohmeyer mit ›metaphysischem Prinzip‹ sagen will, besser als eschatologisches Geschehen bezeichnet, |35| sofern es in diesem Zusammenhang darum geht, dass der Glaube kommt und geoffenbart wird.«123 In Abgrenzung zu Bultmanns hermeneutischer Methode – der »konsequente[n] existentiale[n] Interpretation«124 – hebt Neugebauer hervor, dass von der pistis »wie von dem eschatologischen Heilsereignis selbst gesprochen werden kann«, dass also »der Glaube mit dem Christusereignis kam und geoffenbart wurde«.125

Auch Hermann Binders Studie zum paulinischen Glaubensbegriff richtet sich gegen die anthropologische Verengung der Theologie Bultmanns, gelangt so jedoch zum anderen Extrem: Pistis sei nirgends Tat, Verhalten oder Haltung des Menschen, sondern stets »das von Gott herkommende Geschehen im Neuen Bund, das den Charakter einer transsubjektiven Größe, einer göttlichen Geschehenswirklichkeit« habe.126 Glaube sei eine »geschichtlich-heilsgeschichtliche Größe, die Gott kommen ließ« und die »ohne jegliche menschliche Bezogenheit zu ihr« existiere, »also ein von Christi Macht durchwirkter Bereich, der vorhanden ist, bevor man ihn betritt oder bezeugt«.127 Obwohl Binder bei Ernst Käsemann eine ähnliche Sicht der Dinge vorzufinden meint, da dieser den Machtcharakter der »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« herausarbeitet, bezichtigt Käsemann ihn einer »geradezu absurde[n] Vereinseitigung«128. Demgegenüber belegt eine Nebenbemerkung seines Schülers Peter Stuhlmacher, dass Käsemanns Perspektive zur Gottesgerechtigkeit durchaus auf den Glauben übertragen werden kann: »Für die theologische Begrifflichkeit des Paulus ist es weithin charakteristisch, dass in ihr Macht und Gabe eine spannungsvolle Einheit bilden. Es gilt zu sehen, dass hiervon auch der Glaubensbegriff nicht ausgenommen ist.«129

Diese Interpretationslinie sollte m. E. nicht vorschnell verabschiedet werden,130 ist sie doch in der Lage, eine Reihe von notorisch schwierigen Äußerungen des Paulus zum Glauben zu erhellen.

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