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Die Insel der Ewigen

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Die Wiesen waren grün, durch die Flussbetten floss das klare Wasser der Berge und die Vögel zogen ihre Runden über den gelben Weizenfeldern.

Er öffnete die Augen, roch den Duft von blühenden Rosen und blickte mit trüber Sicht in die nähere Umgebung. In seinem Kopf versuchte er den Ort zu erkennen. Gleichwohl er dort auf keinerlei Verbindung stieß, wusste er, aufgrund seiner nassen und zerrissenen Kleidung, dass sein Schiff gekentert sein musste und die Mannschaft mit sich in die Tiefe gezogen hatte. Und nun befand er sich auf dieser unbekannten Insel, an diesem einsamen Strand ohne menschliche Begleitung.

Das Eiland war geradezu eine Utopie. Ein riesiger Berg, eher ein Gebirgszug, thronte in der Mitte. Die Hänge stiegen steil auf, wurden zum Meer hin immer sanfter, um sich schließlich in einem flachen Sandstrand zu verlieren.

Um die hohe Mauer aus Gestein, wuchs ein dichter Wald mit alten Bäumen, der von Wiesen und gepflegten Feldern begrenzt wurde. Auf jenen spross alles, was man zu einem angenehmen Leben brauchte, Pfirsichbäume mit saftigen Früchten, Getreide, reife Tomaten, Weintrauben auf deren Oberfläche sich das Wasser perlte, Erdbeeren und Kirschbäume, die ihre weißen Blüten, dem Himmel öffneten. Alles stand in einer paradiesischen Ordnung, die von göttlicher Hand angelegt schien.

Sein Weg folgte den geradlinig verlaufenden Pfaden, die sich in das Inselinnere zogen. Aus der geometrischen Perfektion, schloss er, dass auf dem Eiland ein weit entwickeltes Volk, mit dem Wissen um das Schöne und Praktische, leben musste.

Da ihn der Hunger plagte, bediente er sich ein paar Maiskolben und stillte seinen Durst mit dem kühlen Wasser der Bäche. Als er den ganzen Tag gewandert war und es allmählich dunkel wurde, legte er sich unter eine alte Eiche und schloss friedlich die Augen. Wären die Verpflichtungen in seiner Heimat, nicht von Dringlichkeit gewesen, hätte er gewiss für immer an diesem Ort bleiben können.

Nach zwei Tagen des Umherstreifens, wünschte er endlich die Bewohner dieses Landes kennenzulernen. Dazu stieg er auf einen Hügel, um einen Ausblick über das weite Land zu bekommen. Tatsächlich waren in der Ferne einige Hütten zu erkennen, die denen seines Geburtslandes bis auf die letzten Details glichen. Ziegelgedeckte Dächer und Wände aus festem Mauerwerk hoben sich von dem Naturreich ab und machten, dass der Ausblick einer dieser herrlichen Landschaftsmalereien, aus dem fernen Europa, glich.

Aus dem Nichts, kam ein Greis auf einer Kutsche an ihm vorbei.

»Willkommen! Willkommen! Die anderen erwarten Sie«, sprach er und befahl mit einem Peitschenhieb, seinem Pferd zum Stehen zu kommen.

»Die anderen?«

»Unsere kleine Gemeinde. Wir beobachten Ihren Weg schon seit Sie hier sind. Ich selbst kam vorbei, als Sie unter der alten Eiche schliefen, wollte Sie jedoch nicht wecken. Nur zu gut kann ich nachvollziehen, wie schön es ist, darunter zu ruhen.«

»Aber wo bin ich denn hier?«

Der Greis lachte.

»Sicherlich ist es sehr verwirrend. Gehen Sie in das Dorf. Unser Ältester wird es Ihnen erklären. Ich muss jetzt meine Weinreben pflegen. Einen schönen Tag noch!«

Die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung und der Greis verschwand hinter ein paar Bäumen.

Eine Weile blieb der Mann stehen und wunderte sich, dass diese Einheimischen seine Sprache kannten und ihre Augen schon seit seiner Ankunft auf ihm lagen. Dem Rat folgend, zog er zu dem Dorf.

Auf dem Weg kamen ihm Greise entgegen, die ihn so herzlich grüßten, wie man einen alten Bekannten grüßt. Dabei trugen sie Baumstämme oder Körbe voller Früchte. Für ihr Alter wirkten sie merkwürdig kräftig.

»Herzlich Willkommen!«

Der Dorfälteste kam ihm am Eingang der kleinen Siedlung entgegen.

»Wir erwarten Sie schon. Folgen Sie mir bitte.«

Ohne ein Wort gingen sie an den vielen englischen Häusern vorbei, auf deren Terrassen die Greise Schach spielten oder Tee tranken. Mancher sah aus, als würde er schon ewig leben.

»Es muss grotesk wirken, dass hier zu Lande Mann für Mann hochbetagt ist.«

»Ja. Bevor Sie mir das erklären, wäre ich dankbar, wenn Sie mir sagen wo ich bin und vor allem wer Sie sind.«

»Unsereins hat keinen Namen für die Insel. Wir nennen sie einfach nur unsere Insel.«

»Aber wo befindet sich denn Ihre Insel?«

Der Älteste zog eine Weltkarte heraus und und tippte auf einen Punkt mitten im Blau des Atlantischen Ozeans.

»Genau hier.«

»Da ist nichts.«

»Korrekt. Für die Kartographen ist an diesem Orte nicht das Geringste. Die Insel existiert, aber eben nicht in den Köpfen und Büchern der anderen.«

»Das heißt niemand weiß, dass sie existiert?«

»Goldrichtig«, sagte der Greis und nickte.

»Meine Crew und ich waren es einst, die die Insel entdeckten beziehungsweise entdecken sollten. Indessen denkt unsere Nation, dass wir verschollen wären.«

»Aber Sie sind alle unglaublich alt. Wie könnten Sie denn noch ein Schiff navigieren?«

»Wir weilen hierzulande, seit wir einstmals junge Burschen waren.«

»Wann war das?«

»Welches Jahr schreibt man gerade?«

Als der Greis die Jahreszahl hörte, musste er lachen.

»Sodann sind wir hier schon ganze einhundertdreizehn Jahre. Das kann man kaum glauben, nicht wahr?«

»Einhundertdreizehn Jahre?«, fragte der Mann.

»Sie scherzen.«

»Es mutet verschroben an, gleichwohl entspricht es der Wahrheit.«

»Wie alt sind Sie zum jetzigen Zeitpunkt?«

»Einst war ich Vierzig. Also einhundertdreiundfünfzig Jahre.«

»Absurd!«

»Ich kann es Ihnen nicht übel nehmen. Andererseits schauen Sie hinaus in die Landschaft. Sie ist malerisch, formvollendet, womöglich makellos. Ein Garten Eden. Ferner könnte sie in der Zukunft vollendet sein. Es bedarf viel Zeit etwas derartiges zu schaffen.«

»Das haben alles Sie gemacht?«

»Jeder Weg, jedes Feld und jeder Hain ist von uns angelegt.«

»Aber wie können Sie denn so alt sein?«

»Wir sterben nicht. Vielmehr können wir nicht sterben. Es gelingt nicht. Und Sie können es inzwischen vermutlich ebenfalls nicht mehr. Gewiss nicht an diesem Ort.«

»Warum bleiben Sie hier?«

»Das ist unser Zuhause. Es gefällt uns. Außerdem waren wir in England nicht mehr erwünscht und werden wohl kaum erwartet. Ich hatte einen Sohn. Der ist schon lange dahingeschieden und seine Enkel gleichermaßen. Wir sind wie Zeitreisende.«

Der Greis blieb stehen und blickte in die Ferne. Ein Lichtstrahl fiel ihm ins Gesicht.

»Das Elysium.«

»Sie müssen der Menschheit von diesem Ort berichten. Von seinem Zauber und seiner Schönheit.«

»Nein! Würden wir dem nachkommen, ginge all das unter. Es brauchte uns zwei Menschenleben, zu verstehen, wie man die Natur behandelt. Wie könnte man erwarten, dass sich Geschöpfe, die allenfalls die Hälfte davon erleben, vergleichbar gebaren?«

Er drehte sich um.

»Der Moment wird kommen, dass unser Geschlecht diesen Ort entdecken und beschlagnahmen wird. Aber wir werden ihn nicht erzwingen.«

»Ich glaube Ihnen. Sie wollen das, was Sie aufgebaut haben, beschützen. Hier gibt es keinerlei Unglück.«

»Im Gegenteil.«

»Was denn?«

»Ich erwähnte, dass wir nicht sterben können, dass es uns nicht erlaubt ist, heimzukehren?«

»Ja.«

»Lebewesen sollten nur eine bestimmte Zeitspanne existieren. Sie sollten geboren werden, das beste aus ihrem Dasein machen und dann wieder Eins mit der heiligen Erde werden. Dergleichen nennen wir sterblich. Wir aber leben wie Götter. Kaum ein Mensch sieht den Baum, den er pflanzt wieder vergehen. Wir schon. Es ist nicht so, dass wir nicht alles versucht hätten. Aber auf natürliche Weise lässt uns diese Insel nicht sterben. Das Alter kann uns nichts anhaben, Krankheiten befallen uns nicht und Gefahren gibt es hier keine. Wir sind gute Christen, aber wir waren gewillt, zum Äußersten zu greifen.«

»Selbstmord?«

Der Alte nickte.

»Während wir uns an die Klippe stellten und zum Sprung ansetzten, flog ein Adler vorbei, der unsere Blicke auf die Landschaft zog. Jene göttliche Endlosigkeit nahm uns ein, hypnotisierte uns und zwang uns den Berg wieder hinunterzusteigen.«

»Aber Sie können für immer leben. Sie haben alles.«

»Das ist es ja. Es ist grausam, weil wir alles haben.«

Eine Partie mit dem Selbst

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